Götz R. Richter: Najok, der Perlentaucher

Da stößt ein Mann, der sich nicht nur für Götz R. Richter interessiert (geboren am 1. August 1923 und damit, weil noch lebend, heute 92 Jahre alt), sondern ihn auch kennt, auf meine beiden heute genau zwei Jahre alten Netz-Publikationen zu Richter. (Vgl. BÜCHER, BÜCHER vom 1. August 2013) Es macht ihn neugierig genug, zu später Stunde zum Telefon zu greifen, mir ein Krimi-Ende vor dem Fernseher bescherend, das ich wohl sah, nun aber nicht mehr hörte. Ich habe seinerzeit auf Anraten eines anderen Richter-Freundes keinen Versuch unternommen, den persönlichen Kontakt mit ihm in Bad Saarow zu suchen, mein Anrufer wird es jetzt tun, seine Anknüpfungspunkte sind besser als die eines einfachen Lesers, der seiner Kindheit nachsinnt, als meine also. Was ich ganz problemlos kann, ist als kleinen Gruß einen Blick in ein ganz frühes Werk von Götz R. Richter zu werfen. Es stammt aus dem Jahr 1951 und bildete mit der Geschichte „Ameisen“ zusammen den Inhalt des allerersten selbständigen Buches, Titel: „Najok, der Perlentaucher“. Die Wiederbegegnung ist keine Enttäuschung. Und sogar einen Satz aus dem Lexikon „Schriftsteller der DDR“ kann ich problemlos unterschreiben, der da lautet: „In seinem ersten Buch „Najok, der Perlentaucher“ (1952), berichtet R. in abenteuerreicher Handlung und mit unaufdringlicher erzieherischer Absicht (die auch die folgenden Bücher kennzeichnet) von der Versklavung und Ausbeutung der „Farbigen“.“

Es soll nicht als Schande gelten, wenn Lehrer erzieherische Absichten hegen und Götz R. Richter war diesem Lexikon zufolge von 1948 bis 1955 Lehrer. Es soll ihm eher zur Ehre gereichen, wenn die Absicht unaufdringlich daher kommt, dass sie da ist, merkt man freilich deutlich genug. Richter führt die geistige Entwicklung eines jungen Malaien vor, der sich voller Illusionen als Perlentaucher anheuern lässt für zwei Jahre, der in aller Naivität glaubt, nach diesen zwei Jahren als reicher Mann nach Hause zurückkehren zu können und seine Schwester Tamate reich zu beschenken. Obwohl sie ihn, Schläge gegen Kinder kommen bei Richter immer wieder vor, ohne dass er dies in ein auffallend unvorteilhaftes Licht stellt, oft geschlagen hat. Es gibt Rückblenden im Text, die dem Helden ein Vergleichen von Vergangenheit und Gegenwart erleichtern. Najok lernt aus all seinen Erfahrungen, indem er sich zuallererst Fragen stellen lernt. Gleich zu Beginn beobachtet er, wie ein Engländer und ein Portugiese um eine Perle feilschen, die er als eine zu erkennen glaubt, die er gefunden hat. Ganze tausend Pfund bekommt der Engländer schließlich vom Portugiesen. Najoks eigener vertraglich gesicherter Verdienst beträgt 30 Pfund für eine Tonne aus dem Meer geholtes Perlmutt, Perlen werden ihm gar nicht vergütet.

Dass dieser junge ahnungslose Malaie, der wohl auch Analphabet ist, den Gedanken fasst, eigentlich gehöre die Perle ihm, weil er sie aus dem Meer holte, ist nachvollziehbar, aber nichtsdestoweniger falsch. Der Lehrer Götz R. Richter hat in seiner Erzählung nichts dafür getan, dies für seine jungen Leser aufzuklären. Er hätte nicht unbedingt den Franzosen Proudhon einführen müssen, der mit seiner populistischen These „Eigentum ist Diebstahl“ dieser Denkungsart philosophische Würde verlieh, die ein gewisser Marx dann sehr bald als falsch und irreführend geißelte. Es wäre vielleicht auch auf einfachere Weise möglich gewesen. Aber der Gedanke ist im Rahmen der Geschichte ja nur das Vehikel, die Initialzündung für etwas, was man gut als Lernprozess verstehen darf. Die Weißen beuten, das wird dem Leser sehr schnell sehr klar, in schamloser Weise ihre Taucher aus, wenn auch das Lexikon-Wort von der Sklaverei unangebracht ist. Man soll den Sachkern eines Wortes nicht durch agitatorische Weiterungen verwässern. Was man freilich sagen kann, ist, dass diese Art der bargeldlosen Bezahlung von Arbeit in gewisser Weise schlimmer ist als Sklaverei, weil mit einer genährten Illusion verbunden.

Die weißen, in diesem Falle englischen Arbeitgeber erwecken den Anschein, als wären sie besorgt darum, dass ihre Taucher das Geld verschleudern und vertrinken würden. So gibt es nur Zettel und Scheine, es gibt allerlei scheinbar kostenlos, im einzigen Laden wird angeschrieben, ohne dass den Tauchern je reale Preise, je ihr aktueller Schuldenstand in Relation zu ihrem Verdienst vorgeführt oder vorgerechnet wird, jedenfalls erzählt Richter davon nichts. Das böse Erwachen kommt nach den zwei Jahren, wenn nicht nur nichts übrig geblieben ist vom angeblich Verdienst, sondern sogar Schulden da sind. Im günstigen Fall reicht ein rechnerischer Rest für eine Überfahrt in Richtung Heimat ohne eine einzige verbleibende Summe für zu Hause. Najok erfährt davon zeitig, er lernt Männer kennen, die die Erfahrung schon machten, er sieht, wie die Männer in großer Mehrzahl reagieren, sie trinken, sie kümmern sich nicht um ihre Zukunft, leben ausschließlich in der trüben Gegenwart. Die Arbeit ist schwer und gesundheitsgefährdend, sie ist gefährlich und ständig durch andere Männer bedroht, die ihrerseits Muscheln in schweren Taucheranzügen aus dem Riff holen und sehr viel länger unten bleiben können. Weiße Taucher allerdings, dass sagt der Chef später, kosten das Fünffache und sind dennoch weniger geeignet und erfolgreich.

Was Najok auch lernt, ist, dass nicht alle Weißen gleich sind. Einer teilt gar mit Fremden, was der junge Mann gar nicht verstehen kann, denn er teilt zwar selbst auch, aber nur mit Freunden und nahen Bekannten. Dieser Funker ist es schließlich, der dem fliehenden Najok das Leben rettet. Zumindest endet die Geschichte mit seinem Verschwinden hinter dem Meereshorizont, während das ihn verfolgende Polizeiboot durch einen geschickten Sabotageakt lahm gelegt ist. Der Funker hat ein Seil so ins Meer fallen lassen, dass es sich in der Schraube verhedderte. Najoks Flucht aus vermutlich akuter Lebensgefahr ist das Ende eines Streiks der Taucher. Einer von ihnen, der in der Welt weiter herumkam als alle anderen, hatte ihnen erzählt, dass es so etwas in Europa gibt, er sagt „Jurop“, was eine Fußnote im Buch erforderlich macht, die es freundlicherweise auch gibt. Es gelingt, wenn auch nicht auf Anhieb und nicht ohne Widerstand, die Taucher tatsächlich zum Streik zu motivieren, letzten Anstoß gibt die Nachricht einer geplanten Lohnkürzung, mit der die Kompanie Verluste ausgleichen will, die sich aus einem Verfall des Perlmutt-Preises ergeben. Wie lange es dauert, bis sich Unwille gegenüber Arbeitsbedingungen in Streikbereitschaft umwandelt, habe ich in Kollegenkreisen erfahren, da ändert sich wohl nie viel im Verlaufsschema.

Womit die von ihrer eigenen Kampfbereitschaft überraschten und teilweise berauschten Perlentaucher nicht gerechnet haben, ist der Widerstand der Bosse und vor allem die Art des Widerstandes. Ihnen wird der Zugang zur Küche verweigert, ihnen wird ebenso der Zugang zum einzigen Laden verweigert, nur an Tabak zum Rauchen kommen sie und wenn sie Fische fangen wollen, wird ihnen das gar mit Waffengewalt verweigert. Hunger bricht Widerstand faszinierend schnell, wenngleich die Solidarität eine gewisse Zeit anhält, wenngleich die Versuche, einen Verräter mit Kopfgeld zu ködern, wenn der die Namen der Rädelsführer preisgibt, unter den Tauchern selbst scheitern. Die Streikenden müssen jedoch erfahren und büßen, dass gar nicht einer von ihnen Verräter werden muss, es reicht auch der Koch des Bosses, der lauscht und noch eine Rechnung mit Najok offen hat. Man mag einwenden, dass das ein wenig zu gut passt, man mag einwenden, dass die pädagogische Absicht, keinen moralischen Schatten auf Streikende fallen zu lassen, den Erzähler zu diesem Ausweg verführte, der gewaltsam wirkt. Mehr ins Gewicht fällt aber, dass Götz R. Richter keine heile Streikgeschichte erzählt, sondern letztlich von einer Niederlage.

In einer Hinsicht wirkt Najoks erzählte Entwicklung dann doch unglaubhaft. Kann man ihm das Gewinnen von Durchsicht und Einsicht zutrauen, zumal ihm Freunde zur Seite stehen, auch der Funker mit seinen Erzählungen, so ist es fraglich, ob damit sofort auch professionelle Rhetorikkünste eines Agitators einhergehen. Es sei, man unterstellt dem Perlentaucher ein Naturtalent in dieser Fähigkeit. Die Art und Weise, wie der zu den fast durchweg älteren und erfahreneren Tauchern spricht, wie er sich selbst beim Sprechen beobachtet, wie er die Wirkungen seiner Ansprache taxiert, wie er Pausen setzt, wie er andere in seinem Sinn zu Wort kommen lässt, das erinnert eher an einen geschulten Parteipropagandisten denn an einen, der des Lesens, des Schreibens und vor allem auch des Rechnens nicht kundig ist. Auch wenn in der DDR der Begriff des Klasseninstinktes hohe Konjunktur hatte, hinter dem ein seltsames Menschenbild stand, ohne dass je darüber reflektiert wurde, solcher Instinkt wäre überfordert. Dass die Weißen in guter Absicht und vielleicht sogar nach Vorbildern gezeichnet sind als Schweine, ihre Augen an Ferkel erinnern, sie saufen, johlen, schwitzen und stinken, das passt eher zu Kolportage als zu guter Literatur. Überzeichnung des Verwerflichen und Bösen hilft nach ehernen Literaturgesetzen eben nicht dem Bild des Vorbildlichen und Guten, sondern wertet es ab. Das verschweigen, hilft nicht.


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