Tagebuch

10. Juni 2025

Wer auf dem Weg nach Dresden Stau hat, sollte auf dem Heimweg nicht ohne Stau bleiben. Die männliche Bevölkerung Polens in ihren Lkw rollte gen Westen, später mischten sich Teile der männlichen Bevölkerung Tschechiens dazwischen, phasenweise zwei komplette Spuren voller Pl und CZ. Hoffentlich bekommt Putin nicht mit, dass man diese Nachbarn am besten mitten in der Woche überfällt, wenn keiner zu Hause ist. Noch bleibt das logische Problem zu lösen, wie er einerseits immer gefährlicher werden und gleichzeitig nicht einmal seine Luftwaffe schützen kann vor ukrainischen Drohnen aus dem Camping-Anhänger. Wir werden auf alle Fälle hochrüsten, bis die Schwarte kracht. James Salter wurde am 10. Juni 1925 geboren und starb 90 Jahre und neun Tage später wieder und das alles in den USA. Das einzige Buch, das ich von ihm besitze, heißt schlicht „Dämmerung“ und enthält elf Erzählungen, keinen einzigen Roman, gut für mich also.

9. Juni 2025

Wir haben hinein gefeiert, wie das so heißt und wohl nach neuer Rechtschreibung auch geschrieben wird. Uns Uwe vollendet heute sein 70. Lebensjahr, was man halt so vollendet nennt. Ich bin der Senior unter uns Altfreunden aus den Berliner Zeiten. Uns Elke und uns Eckhard vollenden heute ihr 49. Ehejahr, was man halt soll vollenden nennt. Es gibt sogar zwischendurch Glückwünsche aus Leipzig und Polen, wo sich Kinder und Enkel befinden. Die Götter der Dresdener Heide ließen sich schließlich doch erweichen, mehr Blicke auf das Regen-Radar sind vermutlich selten gefallen. Ich war als Gesprächspartner für vorzeitige Besucher im Einsatz, die vorzeitigen Besucher kamen aus der unmittelbaren Nachbarschaft und wollten, wie man so sagt, das große Hauptfest in Zelt und Garten nicht stören. Die Hauptgäste quollen von vorn und hinten ins Grundstück, die Wege zu den Toiletten waren ausgeschildert. Niemand dachte an Ernst Jandl, der vor 25 Jahren in Wien starb.

8. Juni 2025

Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, den Johannisfriedhof in Dresden zu besuchen, wo Heinz Knobloch seine letzte Ruhestätte hat. Doch abwechselnder Sturm mit heftigsten Regenfällen gaben keine Atmosphäre für besinnliche Spaziergänge. In der Küche Hochbetrieb, drei Blechkuchen von Elkes Hand in direkter Folge, die Hausfrau und die Söhne im Vorbereitungsstress und zeitgleicher Angst, das Wetter morgen könnte einen Strich durch alle Rechnungen machen. Ich kam sogar zu ein paar Seiten Howard Fast. Unter Heizstrahler und Kaminfeuer sahen wir die Endspiele der Nations League. Neues Licht am Bücher-Horizont, es wird sich vielleicht doch einrichten lassen, meine „Gesammelten Werke“ unters Volk zu verstreuen, das dann hoffentlich ein paar Körner aufpickt. Die pure Textmenge, die fertig vorliegt, könnte nach vorsichtigen Schätzungen und rücksichtigen Erfahrungen zwanzig Bände füllen. Eine große Aufgabe. Ich dämpfe erst einmal alle Euphorien.

7. Juni 2025

Den Dorotheenstädtischen Friedhof werde ich heute und morgen nicht aufsuchen, denn ich fahre nicht nach Berlin, sondern nach Dresden. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof fand Werner Krauss, der Romanist, seine letzte Ruhe, der wenige Wochen nach meiner Verehelichung, deren 49. Jahrestag ich nebenher während des großen Geburtstagsfestivals in der Dresdener Heide begehe, verstorben ist. Heute ist sein 125. Geburtstag, an Büchern von ihm habe ich immerhin acht im Besitz mit so aufregenden Titeln wie „Aufsätze zur Literaturgeschichte“, „Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts“, „Die Innenseite der Weltgeschichte“, „Essays zur französischen Literatur“. Die Professoren alten Stils vertrauten noch auf das uneingeschränkte Interesse ihrer wenigen Leser. Wer liest nicht gern einmal „Werk und Wort“ oder „Perspektiven und Probleme“. Immer besser als „Tradition und Fortschritt“, wie wahrscheinlich schon 46 Bücher hießen von mehr als 49 Autoren.

6. Juni 2025

Nur nicht noch einmal im Fernsehen von neunzehn Expertinnen erklärt bekommen, welche Person in Thomas Manns „Buddenbrooks“ welche Person in Thomas Manns Lübeck war und wie ungenau wer mit wem übereinstimmte. Es war schon immer anstrengend genug zu erfahren, wie die vier Vorbilder für Goethes Mephisto hießen, Klaus Mann war jedenfalls nicht darunter. Thomas erfuhr an seinem 69. Geburtstag vom D-Day und hat das gleich rot in sein Tagebuch geschrieben. Der Tag hieß damals nicht sofort D-Day, er wurde erst dazu. Am 6. Juni 1944 gab es Champagner zum Abendessen, Franz Werfel war da nebst Gattin, Bruno Frank war auch da nebst Gattin. Und von Raoul Auernheimer kam einer der Briefe. Es besteht akut die Gefahr, dass irgendeine Erzenkel diversen Geschlechts den armen Thomas Mann auch noch zur queeren Ikone ausruft wegen „Der kleine Herr Friedemann“ und sonstiger Dings, äh, An- und Umspielungen, aus dem toten Venedig.

5. Juni 2025

Nachdem ich voriges Jahr elf Bücher von Heinz Knobloch las, litt ich anschließend unter einer leichten Knobloch-Verstopfung. Die ist nun mit dem ersten Knobloch des Jahres, „Bloß wegen der Liebe“ heißt er, geheilt und beseitigt. Ich schreibe in Dateien zu ihm, eine ist seinem Verhältnis zu Victor Auburtin gewidmet, eine zweite gilt seinem tschechischen Faible, eine dritte seinen Ungarn-Bezügen, alles ergiebige Themen. Am 5. Juni 1900 starb Stephen Crane, der in einem Buch „Meine Amerikaner“ vorkäme, wenn ich ein solches schreiben würde. Den Titel hat leider schon Marcel Reich-Ranicki für sich in Anspruch genommen, dagegen ist natürlich kein Unkraut gewachsen. Zudem müsste sich irgendjemand dafür interessieren, wer meine Amerikaner wären, also zum Beispiel noch Isaac B. Singer und John Steinbeck. Natürlich Ernest Hemingway, dessen Foto mit Rollkragen und weißem Bart meine Mutter regelmäßig zu einer Senkung ihrer Stimme anregte.

4. Juni 2025

Oben auf der Liste heute natürlich (wieso eigentlich??) Eduard Mörike, weil der vor 150 Jahren starb. Auf Platz 2 der Gestorbenen Georg Kaiser, von dessen sehr zahlreichen Bühnenwerken ich vor Jahren wie ein hypertapferes Schneiderlein zwanzig auf einen Streich las. Seit 80 Jahren ist er tot. Ich schrieb auch über ihn. Unter den Geburtstagskindern Eberhard Brüning. Ich musste auf meinen einschlägigen Stuhl steigen, um mir stellvertretend die vier Nachworte anzuschauen, die er zu Romanen von Sinclair Lewis verfasst hat, dem US-Nobelpreisträger des Jahres 1930. Ich besitze noch weitere Nachworte von ihm. Er wäre heute 100 Jahre alt geworden und hätte es tatsächlich fast geschafft, er starb am 12. Dezember 2023. In Pennewitz sah ich in einem Garten mit Hündin sehr seltene und sehr schöne Pflanzen, die die Garteninhaberin alle kannte, während ich mittels meiner Pflanzen-App ihr Vorwissen bestätigen konnte. Diptam zum Beispiel sowie Cornus kousa.

3. Juni 2025

Der deutsche Philosoph Gerd Irrlitz feiert heute bei hoffentlich leidlicher Gesundheit seinen 90. Geburtstag. Der deutsche Nachwuchsphilosoph Eckhard Ullrich feiert heute nichts außer seinem Eingang ins öffentliche Stadtbild. Die Wohnungsbaugenossenschaft WBG, deren Mitglied und gewählter Vertreter der Nachwuchsphilosoph ist, fand es gut, ihn auf zwei Ruhebänken hinter der Kopernikusstraße 8 – 20 bildlich zu verewigen. Ältere Damen oder jüngere Wurstbrater sitzen hinfort mit ihren mehr oder weniger imposanten Hinterteilen auf meinem Gesicht, das in seiner Fassung von 2020 in Erscheinung tritt. An die Vorlesungen des deutschen Philosophen erinnere ich mich sehr gern, auch wenn ich ihn nur über die Antike hören durfte. Meine 2+ in der Hauptprüfung war das hohe Cis, was es bei ihm gab und es ist denkbar, dass meine Vorlesungsaufzeichnungen den einen oder anderen Gag aufmüpfigen Denkens konservieren. Ich müsste sie suchen und finden.

2. Juni 2025

Als ich Ende August 1975 mein Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin begann, war Karl-Heinz Wirzberger dort noch Rektor. Womöglich sah ich ihn damals bei so einer Immatrikulationsfeier, vielleicht auch nicht. Mit Amerikanistik hatte ich nichts zu tun, mit Literatur aus Amerika sehr viel. Sein Klassiker gemeinsam mit dem anderen Karl-Heinz, dem Schönfelder, hieß erst „Amerikanische Literatur im Überblick“, später dann „Literatur der USA im Überblick“. Sein Buch „Von Cooper bis O'Neill“ erschien erst drei Jahre nach seinem Tod am 23. April 1976, da war er noch nicht einmal 51 Jahre alt. Wikipedia findet es wichtig, auf seine verwaiste Grabstätte auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde hinzuweisen. Seine Frau Sigrid überlebte ihn um 25 Jahre. Schon übermorgen ist der nächste Amerikanist der kleinen DDR mit seinem 100. Geburtstag an der Reihe, der überlebte alle. Ich bewahre reihenweise Nachworte, etwas weniger Vorworte von ihnen.

1. Juni 2025

Warum gibt es oft krasse Außenseiter, nie aber krasse Favoriten? Die sind dann meist haushoch, was ein wirklich leerer Begriff ist. Von welchem Haus wäre die Rede: vom Haus der tausend Freuden oder vom Haus des Oberbürgermeisters? Krass sage ich jedenfalls selten bis nie, für junge Menschen, deren Wortschatz durch freundliche Übernahme entsteht, ist fast alles krass. Wenn ich doch mal Krass sage, dann ist das nur die erste Hälfte eines Namens. Ich lasse die zweite Hälfte sofort folgen, sie heißt nitzer. Wir wären dann bei Krassnitzer, die Überleitung mäßig originell zum Wiener Tatort, der nicht immer in Wien handelt. Ich sehe ihn gern, schon weil der Moritz seinen Chef gern Ernstl nennt und die Bibi den Heinzi kennt. Ich kenne Wien einigermaßen, soweit man Wien kennen kann, wenn man ein paar Wochen dort verbracht hat oder in Baden bei Wien und dann mit der Straßenbahn hineingefahren ist oder mit dem Bus. Ich kenne sogar den Zentralfriedhof.

31. Mai 2025

Das Lesen alter Kinderbücher wird keinesfalls eine neue Gewohnheit bei mir, ab und zu aber ist es höchst interessant und aufschlussreich. Ärgerlich die Lektüre der Radio-Ansprachen von Thomas Mann, von denen es 25 schon einmal 1942 im Druck gab, später waren es 55 und jetzt sind daraus gar 58 geworden, umrahmt von Vorwort und Nachwort von Mely Kiyak. Als Haus-Kolumnistin des Maxim-Gorki-Theaters Berlin, nachdem dies in ein postmigrantisches Theater verwandelt wurde, hat sie einen festen Fan-Block. Ich gehöre nicht dazu. Ich gehe auch nicht mehr in die einstige Sing-Akademie, wo ich zuletzt einen „Kirschgarten“ sah, der keiner war und das ist auch schon wieder elf Jahre her. Vielleicht wäre der Name Nazim-Hikmet-Theater ehrlicher gewesen seinerzeit, aber nun ist es eben, wie es ist: nichts für mich. Von Thomas Manns Ansprachen füllen 25 auch das Insel-Buch Nummer 900 und mich mit der Frage; welche 25 bis 28 fehlten in der DDR und warum.

30. Mai 2025

Am „Doktor Shiwago“ bin ich doppelt gescheitert: am Buch später als am Film, der schien mir eine grausige Schmonzette zu sein. Boris Pasternak starb am 30. Mai 1960, 70 Jahre alt, nicht lange, nachdem er den ihm zugesprochenen Literatur-Nobelpreis nicht annehmen durfte. Nur „Luftwege. Ausgewählte Prosa“ und „Initialen der Leidenschaft“ (Gedichte zweisprachig) stehen bei mir, noch heute will mir der ägyptische Film-Beau Omar Sharif als Russe ungefähr so glaubhaft erscheinen wie eine Frau aus Nigeria als Othello. Der Tag endet mit den letzten drei Folgen von „Yellowstone“, der Serie, die meine Abneigung gegen Serien nicht tilgt, mir aber zugleich zeigte, wie sensationell gut etwas sein kann, was aus Amerika kommt. Ein Pilotfilm und 53 Folgen, die Triggerwarnungen kündeten Schimpfwörter, Nacktheit, Gewalt, flackernde Lichter und sexuelle Inhalte an, manchmal sogar nichts. Die Altersfreigaben wechselten zwischen 12 und 16. Nun noch die Vorgeschichten.


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