Tagebuch
29. April 2025
Vermutlich steht Ljubomir Lewtschew in Bulgarien heute nicht mehr sonderlich hoch im Kurs, ich weiß es nicht. Als Kommunist im Osten war man nach 1989 schwerer belastet als fast jeder Nazi im Westen nach 1945. Eine Schulsekretärin, die sich nicht selbst des Stasi-Kontaktes bezichtigt hatte und dennoch entlarvt wurde, flog fristlos. Im Westen vergaßen Germanisten einfach ihre NSDAP-Mitgliedschaft und die Sache war erledigt. Theaterwissenschaftler betreuten munter Doktorarbeiten über jüdische Kritiker und Autoren, die sie wenige Jahre zuvor noch verdammt und aus Ämtern gemobbt hatten. Niemand muss sich selbst belasten, sagt das überstülpfähige Grundgesetz, das gilt aber nur nach Bedarf. Lewtschew jedenfalls wäre heute 90 Jahre alt geworden, ich besitze von ihm das Poesiealbum 33, 1970 erschienen. Darin die „Ballade von der Außerordentlichen Kommission, kurz TSCHEKA genannt“. Paul Wiens übertrug sie ins Deutsche. Wohl doch aus verwandter Seele.
28. April 2025
Wie man sich als 1973 geborener Ilmenauer genau in einen Schweizer verwandelt, ist mir weniger vertraut als die Verwandlung einer 1962 geborenen Weimarerin in eine Schweizerin, die nun gar im Europaparlament hockt und trotzdem emsig schreibt, als müsse sie immer noch davon leben. Gut, also den auch nicht mehr übertrieben jungen Daniel Blochwitz habe ich im Verdacht, Sohn eines mir bekannten Vaters zu sein, dessen Vorname mir entfallen ist, was aber unter meine lässlichen Sünden fällt. Blochwitz war sicher nicht der erste, dem auffiel, dass all unsere Mauerfall-Bilder, die, wie man so schön sagt, im kollektiven Gedächtnis gelandet sind, vom Westen aus fotografiert und gefilmt wurden. Mir ist dies das simple Symbol, dass Westsicht sich sofort anschickte, herrschend zu werden, als im Osten nicht wenige noch an Reformen des Sozialismus glaubten. Von Blochwitz aber las ist es erstmals. Am 28. April 1900 wurde in Leipzig Bruno Apitz geboren: als ein 12. Kind.
27. April 2025
Dass Johann Strauß mit Coburg in Verbindung zu bringen ist, war mir bis kürzlich nicht bewusst. Meine Walzerseligkeit hält sich ebenso wie meine Operettenseligkeit in engsten Grenzen. Nun aber habe ich Kunde aus Freundesmund, löbliche Schilderungen von Stadt und Strauß-Ehrung. Dazu gab es zwei tansanische Biere, ein Spielzeitheft aus sächsischen Kerngebieten mit viel Roman auf der Bühne und viel nach statt von. Also sehe ich mich gedrängt, meinen unmaßgeblichen Unmut zu bekunden (viele u !!!). Wenn ich „Maria Stuart“ sehen will, ich könnte es mehrmals im Jahr, ohne daran zu ermüden, dann will ich „Maria Stuart“ von Schiller sehen und nicht nach Schiller. Ganz langsam verlieren auch meine von Toleranz nur so strotzenden Urfreunde die Lust an den ewigen Romanen auf der weniger ewigen Bühne. Im „Haus am See“ Kloßtag, Schäufele und Rouladen dazu wahlweise, danach eine Wanderung unter blauem Himmel. Ilmenau mit Schilf und Schwan.
26. April 2025
Der Intellektuelle ist ein Voraussetzer. Er geht wie alle anderen auch von sich aus. Nur ist sein Ich voller Wissen, das andere nicht haben. Was nicht ausschließt, dass andere ein Wissen besitzen, das er nicht hat. Noch hat ihn keiner toxisch genannt, das Patent darf also angemeldet werden. Falls der Intellektuelle ein Mann ist, ist er automatisch von toxischer Männlichkeit verseucht, es sei denn, er denkt öffentlich darüber nach, was ein Mann sei. Denn zwar wissen alle sehr genau, was ein Mann ist, einige aber verlangen allen eine Definition ab. Und da wird es schwierig. Es gibt sehr viele sehr wichtige Dinge in dieser Welt, die sich gegen eine Definition sperren. Zugegeben, ich war einst ein Philosoph mit Diplom. Heute bin ich ein Postempfänger, dem Theater ihre Spielzeithefte zusenden, obwohl ich nun schon ein Weilchen vor mich hin schwieg. Es ist nicht die Angst des Torwarts vorm Elfmeter, es ist eine Erwartungshaltung vor der 250. Theaterkritik, die zart nach Besonderheit ruft.
25. April 2025
Wenn ich lese, dass jemand vom Jahrgang 1986 schon Senior Reporterin war (Vergangenheit !), dann tränen mir buchstäblich die Ohren. Ich will gar nicht wissen, was für ein Saftladen das ist, der solche Jobs vergibt. Ich war 1986 Senior Dissertationsschreiber mit Aussicht auf Verteidigung. Ein Roman, lese ich, schwafelt vom Fließen der Personen-Geschlechter, das Leserinnen mit Binnen-Sprechbremse aus Sicht der Autorin nicht richtig verstehen. Die Autorin weint sich in einem ihr zugänglichen Wochenblatt öffentlich darüber aus. Weinte, muss ich sagen, denn ich lese nicht nur alte Bücher, sondern auch Zeitungen von vorgestern. Früher weinte Hermann Sudermann ganze Broschüren voll. Nichts ist älter als die Zeitung von gestern, sagte man, als Zeitungen noch nicht ihr Erscheinen am Montag, am Mittwoch, oder ganz einstellten. Nichts ist älter als ein Roman, müsste man heute sagen, der in Klassenkämpfe eingreift, die es gar nicht gibt. Freitag, das ist Feudel-Tag.
24. April 2025
Ich gehöre zu denen, die sehr gern Rhabarber-Marmelade essen, meine liebe Frau gehört zu denen, die sehr gern Marmelade kochen. Mein Anteil besteht im Sichten des vorhandenen Gelierzuckers, im Aufkleben der Deckel-Etiketten und im Abtransport der gefüllten Gläser. Am Aufessen sind wir paritätisch beteiligt. Ohne Morgen-Marmelade hätten vermutlich meine beiden Zucker-Tabletten wenig zu schaffen, so aber hindern sie mich zu erblinden oder ein Bein zu verlieren wie weiland der oberste Wirtschaftslenker der DDR, der sogar beide Beine verlor und trotzdem mit Honecker jagen durfte in der Schorfheide, wo schon Göring jagte. Unter den Müllern des gestrigen Tages vergaß ich einen, auch waren die zehn Zeilen voll, der mir besonders lieb ist. Denn er ist der größte Kunert-Sammler westlich des Urals und nördlich des Äquators, seine Leidenschaft führte mich einst in seine Sammlung und mittlerweile sogar ins Literaturarchiv Marbach. Kunert im Himmel sei Dank.
23. April 2025
Friedrich Müller, den in aller Regel alle Maler Müller nennen, starb am 23. April 1825 in Rom. In Bad Kreuznach, wo er am 13. Januar 1749 geboren wurde, belichtete ich am 2. September 2023 einen Gedenkstein für ihn und an einer Fassade eine Tafel, die die Vermutung festhält, es handle sich um das Geburtshaus. Dank Reclams Universalbibliothek, Made in Leipzig, besitze ich von Müller das Buch „Idyllen“, das mir auf der ersten Seite sogleich mitteilt, dass die erste der Idyllen unter dem Titel „Der Faun Molon“ verloren ging. Ich gestehe, mich nie näher mit Müller befasst zu haben, da gab es immer noch Wilhelm Müller, der es mit Rom und den Römerinnen hatte, oder Adam Müller, der es mit Kleist hatte. Dann war da stets Frank Müller, den ich Urfreund nennen müsste, wenn ich ein Geheimrat geworden wäre, was misslang. Wegen Shakespeare und Cervantes ist heute Tag des Buches, zugleich Todestag von Rolf Dieter Brinkmann und Albrecht Haushofer.
22. April 2025
Das passt gut: In der Post die Reiseunterlagen für den nächsten Trip. Er wird uns nach Antwerpen führen, wo wir am 14. April 1995 zuletzt waren, die Pause seither lang genug. Damals war es die erste Flandern-Tour nach zwei Absagen mangels Teilnehmern. Es dauert heute, bis alles wieder in Ordnung ist. Der Südthüringer Holger Uske war gestern 70 Jahre alt, von ihm besitze ich deutlich mehr Bücher als von Dyrlich, wir waren 1975 zusammen beim Schweriner Poetenseminar oder war es 1974? Und er war in meiner AG Wort an der TH Ilmenau, später lange in Suhl Pressesprecher. Wo sind die Zeiten hin, Sangesbruder Holger? Der, wenn er rezitierte, das Wort „purpur“ auf besondere Weise sprach, auch an einen „Kaplan“ erinnere ich mich. Ich weiß schon, wo die Zeiten hin sind: sie sind hin und weg. Phantastische Funde auf dem USB-Stick, jetzt bin ich endlich mit Eloesser-Texten aus „Die Glocke“ hinreichend versorgt, besaß zuvor nur eine spärliche Auswahl.
21. April 2025
Fast auf die Minute sind wir drei Stunden nach Abflug in Neapel wieder zu Hause in unserer guten alten Keplerstraße. Wieder waren wir fast die letzten mit beiden Koffern, dafür wartete das Auto unweit des Ausganges. Es wird sicher die letzte Reise nach Ischia gewesen sein, 34 Nächte haben wir nunmehr insgesamt dort übernachtet, 217 Nächte in Italien. Ich liebe Statistik. In der Post zu Hause wieder ein Stick aus Berlin, wir werden morgen sichten, was er enthält. Im Hafen Ischia Porto erreichte uns die Nachricht vom Tod des Papstes. Er war der zweite, den wir in Rom erlebten, zuerst den polnischen Papst Palmsonntag 2002, dann 20 Jahre später Franziskus, mehr auf der Leinwand als fern unterm Baldachin. Meine beiden schmalen Bücher las ich tatsächlich zu Ende: Marlen Haushofer und Marie von Ebner-Eschenbach, Märchen. Nun ruft uns der Alltag. Der Sorbe Benedikt Dyrlich ist heute 75 Jahre alt, von ihm besitze ich lediglich das „Hexenbrennen“ (1988).
20. April 2025
Ischia, Nachtrag: Eine Gruppe aus Braunschweig muss heute bereits 19.30 Uhr ihre Koffer vors Zimmer stellen, 5.30 Uhr werden sie morgen abgeholt. Wir haben es besser. Den ursprünglichen Plan, im Bus die Insel zu umrunden gaben wir auf, wir folgten dem Tipp einer freundlichen Dame im Bus und besuchten die Giardini Ravino. Vor allem Kakteen sind dort in teilweise unfassbaren Größen. Weil Ostern war, wurden wir mit Sekt und einem Häppchen begrüßt, die Pfauen stolzierten vor uns auf und ab, ein weißer wollte gar nicht weg von uns, während wir nach dem Rundgang natürlich den Kakteen-Cocktail mit Tequila probierten. Es wäre auch alkoholfrei gegangen, aber man muss ja nicht gleich alles übertreiben. Die Anlage ist nicht viel mehr als zwanzig Jahre alt, sie liegt direkt an der Straße. Und schon ist der letzte Abend erreicht, die Koffer werden, so weit es schon geht, gepackt. Sie sollen möglichst 8 Uhr morgen vorm Zimmer stehen, werden da abgeholt.
19. April 2025
Ischia, Nachtrag: Nach Visconti das zweite Ersterlebnis auf Ischia 2025: wir besuchten die Giardini La Mortella, eine tolle Anlage, die uns immer wieder empfohlen worden war, nur waren wir bisher nie hin gekommen. Foto-Motive reihenweise: natürlich Blüten, natürlich Eidechsen, die schon 1994 meine herzliche Zuneigung gewannen. Ganz oben Frösche im Gala-Konzert, dicht umringt von Leuten, die offenbar noch nie Frösche so erlebt und gesehen hatten, sie zeigten sich gegenseitig die Blasen am Maule und lauerten auf Schnappschüsse. Zitronen und Pampelmusen und Größen, wie wir sie uns kaum vorstellen konnten bisher. Kumquat am Baum. Meine Pflanzen-App identifizierte für mich die Paradiesvogelblume, den Glöckchen-Lauch und die Russelie, dazu eine weißrote Kamelie. Der Thermal-Pool vor unserem Zimmer wird jeden Abend geleert und dann als eine laut plätschernde Schlafbegleitung wieder befüllt. Niemand hält sich an die empfohlenen zehn Minuten.
18. April 2025
Ischia, Nachtrag: Eigentlich wollten wir die Karfreitagsprozession auf Procida sehen, die wir am 28. März 1997 zuerst und völlig überwältigt sahen. Die irreführenden Informationen über den frühen Beginn hielten uns ab, wir hörten später, dass wir bequem alles hätten sehen können auch ohne Frühstart. Wir besuchten stattdessen die Villa von Luchino Visconti. Man geht herein, ohne dass der Eingang als solcher gekennzeichnet ist, es steht einfach eine Tür offen, es kostet nichts, dafür erfährt man auch nichts. Man kann sich umsehen, Fotos mit Nummern, keinerlei Erläuterungen oder Erklärungen. Wenn man alt genug ist, Bilder von Filmen zuordnen zu können, die mindestens 50, 60, zum Teil 70 Jahre alt sind, dann war man nicht umsonst da. Von der Dachterrasse schöne Sichten, Eidechsen unterwegs. Mehr Schritte sammelte ich seit 2019 nur zweimal. Ein klein wenig Prozession mit kostümierten Kindern gab es in Lacco Ameno: Römer mit Speeren führten Jesus ab.