Tagebuch

21. August 2025

Wo war ich am 21. August 1968? Schlechte Frage, die ich irgendwo schon beantwortet habe. Ich saß an einem Redaktions-Schreibtisch und war froh, dort sitzen zu dürfen. So viele Plätze waren für 15jährige da nicht vorgesehen. In Bielefeld hätte ich Tochter eines Autohausbesitzers sein müssen, um ein Volontariat im Osten zu bekommen 1990, da war ich schon promoviert und Bielefeld zahlte mir das Gehalt eines Westvolontärs. Andere traf es schlechter. Am 21. August 2015 starb in Landau in der Pfalz der Germanist Walther Hinck, von dem ich eine verblüffende Menge Bücher besitze. Für „Das moderne Drama in Deutschland“ und „Theater der Hoffnung“ muss ich nur meinen Sessel drehen, andere Titel stehen, der Mann war Jahrgang 1922, leider in der obersten Reihe meiner nach Geburtsjahrgängen geordneten Bibliothek. Diesbezügliche Kletterpartien werden voller Argwohn beobachtet, ich konnte bisher aber jeden Absturz verhindern. Walter Hinderer steht weiter unten.

20. August 2025

Als die Ukraine frisch überfallen war, wollten unsere Kriegsministerinnen 5000 Stahlhelme dorthin liefern und alle lachten. Dabei hatten die wirklich keine Stahlhelme. Hätten wir ihnen stattdessen 10.000 Rasenmäher jener Marke geliefert, mit der der Balkonnachbar heute unendliche zwei Stunden die Nachbarschaft traktierte, die Russen wären kurz vor der Grenze Gehör-traumatisiert in Richtung Heimat abgedreht und unsere Drohnen-Start-Ups müssten sich andere Krisengebiete als Abnehmer suchen. Vor 80 Jahren, am 20. August 1945, starb Alexander Roda Roda, der Mann mit der roten Weste, in New York City. 2022 widmete ich ihm in kurzer Folge zwei Texte, was mir einen freundlichen Kontakt mit seiner Biografin einbrachte. Sie bezichtigte mich keiner Fehler, was immer schön ist, weil die so genannten Experten selten mehr Spaß haben als an Fehlern anderer. Im Buch „Die Kummerziege und andere Dienstbotengeschichten“ steckt wartend mein Lesezeichen.

19. August 2025

Es ist erstaunlich, wie viel wertvolles Wasser man auf eine lange Hecke sprühen kann, wenn einem der aktuelle Wasserpreis nicht im Wege steht. Der kleine solargetriebene Springbrunnen auf dem Katzenbalkon nimmt sein Wasser aus sich selbst und hört sofort auf zu sprühen, wenn man ihn mit vollem Körpereinsatz in den Schatten versetzt. Arnolt Bronnen, am 19. August 1895 in Wien geboren, am 12. Oktober 1959 in Berlin gestorben, damals noch Ost-Berlin, ist ein Fall für Erklärer geworden: mal Brecht-Intimus, mal Nazi mit Abstrichen, dann Förderprojekt der jungen DDR. Das Leben in Reinkultur, heute würde mancher von Hufeisen-Theorie faseln, dem das neu erscheint, die etwas Geschulteren kennen ihren Hegel gut genug. Mit Hufeisen ist man in der Fledermaus-Fauna besser beraten als in der Dialektik menschlicher Persönlichkeiten, die sich, unbegreiflich allen Dogmatikern, vermutlich tatsächlich aus ihren Widersprüchen heraus entwickeln, Ende meist offen.

18. August 2025

Einmal besichtigte ich das Maison de Balzac im Pariser 16. Arrondissement. Weil es ganz in der Nähe eine Explosion mit Glasschaden gab, standen auf einem Balkon in der vierten Etage nahebei zwei nackte Frauen, die sich nur ein sehr kleines Handtuch vorhielten, um ihrer Neugier von oben Genüge zu tun. Meine Neugier von unten hielt sich in Grenzen: Man ist nicht umsonst kurzsichtig. Innen war ich beeindruckt und meine um die Bestände meiner Eltern erweiterte Balzac-Sammlung ist ansehnlich, interessant auch die vielen verschiedenen Übersetzerinnen und Übersetzer. Am 18. August 1850 starb Balzac. Karl Marx sah in ihm eine Art schöngeistiges Handbuch der Politischen Ökonomie des Kapitalismus, kombiniert mit Lehrheften für kritischen Realismus. Ich interessierte mich als älteres Kind vor allem für seine „Tolldreisten Geschichten“. „Verlorene Illusionen“ kamen später dazu, da brauchte ich zu diesem Thema keinen Roman mehr, schon gar keinen französischen.

17. August 2025

Müsste ich erklären, warum mich Ludvik Kundera nie wirklich interessiert hat, käme ich in Nöte, Erklärungsnöte. Vielleicht verwechselte ihn mein Unterbewusstsein immer mit Milan Kundera, der mich noch mehr nie wirklich interessierte, auch wenn von ihm wenigsten auf dem Umweg über die Bibliothek der Süddeutschen Zeitung sein Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ an mich geriet. Das Münchener Blatt machte das Buch zur Nummer 1 der Reihe „50 große Romane des 20. Jahrhunderts“. Heute stünde da sicher ein Roman eines Ukrainers, will ich glauben, aber die Zeiten ändern sich. Der Kundera, der am 17. August 2010 starb, war schon früh befreundet mit Franz Fühmann, der ihn auch übersetzte. So habe ich doch etwas von ihm, nur eben unauffällig. Der kleine Bruder des Klimawandels heißt Wetterwandel. Ihm zu Ehren werden keinerlei Institute gegründet, keine Konferenzen auf den Seychellen einberufen. Aber er kühlt ab oder wärmt endlich.

16. August 2025

„Vom Wesen des Feuilletons“ heißt das ziemlich dicke Buch, das ich heute als Nummer 48 des laufenden Jahres 2025 in mein Leseregister eintrug. Es ist ein über weite Strecken ärgerliches Buch mit ärgerlichen Thesen, albernen Zitaten aus dem Mutterland der Arbeiter, seltenen Belegen für ein völlig undissidentisches Schaffen von Rainer Kunze bis zum Beginn der 60er Jahre. Einige seiner hier gedruckten Lehren hat der Verfasser zunächst zu ernst genommen, anderen ist er bald nicht mehr gefolgt, später war ihm das frühe Buch bisweilen eher peinlich, aber er hat sich bekannt zu ihm, was ihn ehrt. Mancher hat seine Stalin-Gedichte verleugnet, obwohl er gar keine geschrieben hatte. Mit dem heutigen Samstag beginnen unsere Katzenwochen. Der kürzlich gemeldete Rekord in unmittelbarer Folge gelesener Bücher eines Autors von 2009 ist gebrochen, der ewige Rekord bleibt bestehen, denn 27 Bücher eines Autors kann ich erst lesen, wenn ich sie greifbar besitze.

15. August 2025

„Berliner Feuilleton“ heißt das Büchlein, das ich heute als Nummer 47 des laufenden Jahres 2025 in mein Leseregister eintrug. Ich musste nicht alles darin mehr lesen, weil ich einige Sachen schon aus anderen Bänden des Verfassers kannte. Eingetragen wird erst, wenn alles gelesen ist, völlig logisch. Eingetragen in meinem Trötsch-Jahreskalender für mögliche Schreibanlässe ist für heute Leonie Ossowski. Die hieß eigentlich Jolanthe von Brandenstein. Ich gebe zu, dass ich auch nicht Jolanthe heißen wollen würde, wenn ich Jolanthe gehießen hätte. So aber schrieb sie als eine der frühen Leonies, heute wimmelt es von ihnen schon auf hundert Metern Straße vielfach und sie schrieb das Buch „Die große Flatter“. Die DDR liebte das Buch, weil es die Gebrechen der Bundesrepublik alt so herrlich vorführte. Heute wäre sie 100 Jahre alt. Falls meine Suchmaschine nicht lügt, dachten zwei Radioprogramme an sie. Die Bundesrepublik liebt ihre Gebrechen nicht, wie einst die DDR.

14. August 2025

Erstaunlich, was man alles von einem Bahnhof erzählen kann, den es schon lange nicht mehr gibt. Ein gelblicher Rest steht noch, ich war da, aber natürlich ohne Assoziationen. Wer dort jedoch einst mit dem Zug aus Dresden gekommen ist, um hinfort in Berlin zu leben, wer erstmals in seinem Kinderleben allein mit der Bahn von Berlin nach Dresden fahren durfte zu seiner Großmutter, dem ist der Anhalter Bahnhof etwas Besonderes. So wäre mir die Haltestelle in Gehren etwas, weil ich dort frühe Biere trank, in die kurz ein Tauchsieder gesteckt wurde, so wäre Gehren Hauptbahnhof etwas, weil ich dort Russen sah, die damals noch Sowjetsoldaten hießen und eigentlich nicht in  einer Bahnhofskneipe Schnaps und Bier trinken durften. Aber sie taten es. Unser Klassentreffen ist heute nicht in Gehren, sondern in Langewiesen, ab 17 Uhr, hieß es. 17.01 Uhr war ich schon der letzte, der kam. Wir sind eben Rentner, stehen vor der Tür um 6.45 Uhr, wenn 7 Uhr geöffnet wird.

13. August 2025

Zu den Hitzetoten des Jahres 2025 wollten wir nicht gehören, weshalb wir die erfreuliche Reihe von sechs Tagen mit mehr als 10.000 Schritten in Folge unterbrachen, was morgen ohnehin geschehen wäre. Auch heute eine kleine Arbeit zu Thomas Mann ins Netz gestellt. Es werden bis Jahresende sicher noch zwei, im Idealfall sogar drei weitere folgen. „Stadtmitte umsteigen“ einen Tag vorzeitig begonnen, meine Berliner Knobloch-Führung am 12. Juni hatte dort einen ihrer Haltepunkte, wo das Lang-Feuilleton beginnt, um dann eine völlig andere Richtung zu nehmen. Regenbogenforellen zu Mittag. Vor zwanzig Jahren stellte ich mein Archiv für Zeitungsausschnitte endgültig um auf Sammeln in Klarsichtfolien, vorher klebte ich tatsächlich noch alles auf mit viel unnötiger Mühe. Die Folien haben zudem den Vorteil, wie Trennblätter im Ordner zu wirken. Die Stapel unsortierter Ausschnitte würden inzwischen zwei ABM-Kräfte beschäftigen, wenn es die noch gäbe: ein Alp.

12. August 2025

In der wahrlich nicht armseligen Bibliothek meiner Eltern war Thomas Mann nur spärlich vertreten. Die „Buddenbrooks“ gab es da und „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Den dicken „Zauberberg“ musste ich mir aus der Bibliothek holen, den Band besitze ich heute noch, weil die Bibliothek nach einer großen Havarie ihn nicht wiederhaben wollte, er war als Verlust ausgetragen. Alles, was also heute bei mir Thomas Mann ist, anderthalb Regalmeter sind das knapp, war meine Anschaffung, auch die zehn Bände Tagebuch, auch die überarbeitete Thomas-Mann-Chronik und zuletzt sein Briefwechsel mit Robert Faesi, den ich eher wegen Faesi als wegen Mann kaufte. Der Bruder Heinrich Mann war in Gehren dagegen deutlich besser präsent. Meine Mutter mochte den Bruder eher, weshalb auch ich als Goethe-Schüler anno 1969 eine von meinem Unterricht nicht beauftragte Wandzeitung zu Heinrich Mann anfertigte, deren Reste irgendwo bei mir archiviert sind.

11. August 2025

Den ganzen Tag über mit „Mario und der Zauberer“ beschäftigt, vor allem mit Arthur Eloessers Sicht auf die Novelle. Thomas Mann war vom 17. August 1926 (Anreise) bis zum 13. September 1926 (Abreise) in Forte dei Marmi. Das lieferte den Stoff. Literatur wird daraus jedoch erst 1929 im Kurhaus Rauschen in Ostpreußen. Dort macht Mann Ferien vom 29. Juli bis 24. August. Ich war vom 13. bis 18. Oktober in Forte dei Marmi und suchte dort keine Spuren Thomas Manns. Ich sah Florenz, Siena, Lucca, Pisa, in Lucca Regen wie eine Sintflut für Touristen. 2018 sah ich Forte dei Marmi erneut, sehr kurz und wieder ohne Mann-Andacht. Gute Gelegenheit, alte DDR-Lesarten zu besichtigen, trauriges Vorherrschen von purer Ideologie. Immer erinnert mich das an Kunerts „Das Bild der Schlacht am Isonzo“. Knapper und prägnanter hat niemand den Kern je getroffen, der auf die DDR allein natürlich nicht abzuwälzen ist. Draußen Mäh-Bataillone mit ihren Rasentrimmern.

10. August 2025

Unmengen von Äpfeln hängen an allen frei herumstehenden Apfelbäumen. Nachdem es im vorigen Jahr fast keine gab, beugen sie nun die Äste. Freilich sind sie sehr klein, ein Besitzer würde sie beschneiden, damit weniger und größere Äpfel zu ernten wären. Ihr Schicksal aber verurteilt sie. Sie müssen zu Boden fallen, es sei denn, unsere Gäste aus den Hintergrundregionen entdecken sie rechtzeitig, denn man kann auch sehr kleine Äpfel gut essen oder zu Mus verarbeiten, man darf nur nicht verpassen, wann sie so reif sind, dass sie schmecken. Äpfel darf man wahrscheinlich sogar in Kriegsgebiete schicken, was mit Waffen nicht ganz so einfach ist. No Cops, No Nazis, stand auf einem Sticker, der mir heute auf- und in die Hände fiel. Dazu Antifa Area. Das klingt nach seltsam antinational befreiter Zone, man ahnt, woher diese Klebewürstchen ihre Ideen beziehen. Sie merken es nur nicht. Sie schreiben FCK AFD auf den Fußweg, denn nicht jeder Vokal lässt sich streichen.


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