Tagebuch

18. Februar 2024

Vor hundert Jahren starb in Clavadel bei Davos der Schweizer Jakob Boßhart. Nicht in dem Sanatorium, das Thomas Mann zum „Zauberberg“ animierte, das war ein anderes. Ich las über die Liegekuren an der frischen Luft, über die neuen Lichttherapien und über Streptomycin, das gegen Tuberkulose wirkte und dem Kurwesen ins Geschäft hackte. Als Pflanzenschutzmittel ist das jetzt verboten, als Menschenschutzmittel war es ein großer Wurf. Auch Quecksilber half gegen manches, bisweilen sogar gegen das Leben. In meinen Text baute ich ein paar freundliche Worte für Wulf Kirsten ein, der seinen 90. Geburtstag in diesem Jahr leider nicht mehr erlebt. Als Lyriker ist er mir immer noch eher fremd, dem Herausgeber von Anthologien bescheinige ich Entdeckerlust und sehr sichere Griffe. Mit seinem Sohn stand ich im Lauf der Jahre immer mal wieder in Verbindung, jetzt aber schon länger nicht mehr. Obwohl ich den Goethe-Pfad nie ganz verlassen habe, warum auch?

17. Februar 2024

Im Kindergarten nebenan ist das große Bäumetöten im Gange. Stundenlang, für alle Anwohner das reine Hörvergnügen, lärmen die Kettensägen. Zwei Männer, die wohl im Auftrag des Trägers agieren, der im Vorjahr schon die schöne dichte Hecke zugrunde richten ließ, es aber selten bis nie schafft, das Laub so von den Gullys am Grundstück zu entfernen, dass das Wasser abfließen kann, killen kerngesunde Bäume ohne erkennbaren Sinn. Und weil ein emsiger Arbeiter nicht nur emsig arbeiten will, beschallen sie die halbe Pörlitzer Höhe auch noch mit Musik genau in der Mittagszeit, während Menschen mit freiem Wochenende ungestört essen wollen. Früher nannte man dergleichen die Rache des Kanalarbeiters. Neben der Einrichtung „Glücksbärchen“ sind wir die Pechbärchen. Zu DDR-Zeiten hätte man vielleicht ein Transparent aufgestellt oder zwei: „Sägen für den Frieden“ und „Mein Sägeplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“. Ginge auch so: „Sägen gegen Höcke!“

16. Februar 2024

Die große Freitagsrunde, lange nicht mehr gelaufen, endete heute mit einem Blick auf die ersten Schneeglöckchen in der Ziolkowskistraße. Unterwegs die Riesendisteln, vor denen wir am 4. August vorigen Jahres des Größenverhältnisses wegen fotogen posierten, sind weggeschnitten, wir werden sehen, ob sie neu wachsen im Sommer. Nicht weniger als sechs Abschnitte zu Boßhart sind bereits geschrieben, das wird bis zum Todestag keine Probleme geben. Elisabeth Langgässer wird mich womöglich erstmals beschäftigen, ich schrieb einen Einstieg vor, blätterte in meinen alten Notizen und suchte Stimmen zu ihr, alles sieht gut aus. 1998 war der 16. Februar Fastnacht und ich kam überpünktlich zur Presserunde des Oberbürgermeisters, der uns mit Pfannkuchen bewirtete und andere reden ließ. Vorn rechts war mein Platz, es waren gute Zeitungszeiten. Erst vorgestern traf ich am Großen Teich einen Professor, dessen Solardorf-Wirken ich einst von Beginn an begleitet hatte.

15. Februar 2024

Panik nach der Mittagspause: mein PC will sich nicht einschalten lassen. Mehrere Versuche, keine Chance. Anruf beim Service, wir fahren nach dem Essen hin. Es ist, wie vermutet, ein lächerliches Plastikteil, das geklebt werden müsste, dann aber nicht gleich benutzt werden sollte. Ich verweise auf mein voriges Gerät, da es reichte, mit der Maus zu wackeln. Das geht auch, sagt der freundliche junge Mann, der uns aus der Patsche hilft, wenn der Laptop streikt. Und am Ende sehen wir: es geht. Auch zu Hause, womit dem dritten Tag in Folge mit 10.000 Schritten nichts mehr im Wege steht. Noch im Dezember hatte ich zwölf Tage in Folge und keine Pollenallergie in Heavy-Fassung. Den Hofmannsthal führe ich weiter, wenn auch nur in kleinen Portionen vorläufig, der Archivordner zunächst einmal wieder ins Regal. Dafür suche ich meine Bestände zu Jakob Boßhart auf, über den ich 2012 schon einmal schrieb und nun vielleicht zum zweiten Male, das könnte zu schaffen sein.

14. Februar 2024

12.16 Uhr, meldet der Lieferdienst ups mir per Mail, wurde mein Weinkarton bei mir abgeliefert. Nach meiner Uhr war es sogar eine Minute früher und es ist erst zwei Tage her, dass ich bestellte. Wohin soll das noch führen? Vom angeschriebenen Antiquariat die frohe Kunde: mein Buch kommt noch, Krankheit verhinderte die Bearbeitung der Bestellung. Da kann ich, der gestern nach zwanzig langen Tagen Pause erstmals wieder die 10.000 Schritte erreichte, nur Verständnis haben und warten. Tatsächlich liefen wir gestern unsere so genannte Winterrunde mit leichter Verlängerung, heute die Glaswerksrunde ohne Verlängerung. Meine Vorleistung tagsüber ist wieder wie in guten Zeiten. Heute ist Arthur Eloessers Todestag, mein Text zu ihm und Hofmannsthal sollte im Netz stehen, ist aber nicht so weit fertig, dass ich es verantworten kann. Das vorgeschriebene Material umfasst 14 Druckseiten, sollte morgen zu schaffen sein. Der Blick geht schon zum nächsten Namen.

13. Februar 2024

Am 13. Februar vor 50 Jahren hatte mein Leben plötzlich einen Bezug zu Ungarn, den es zuvor nie gehabt hatte. In Leipzig wurde Max Walther Schulz zurück aus Ungarn erwartet, er wäre zuständig für meine möglicherweise völlig überraschende Aufnahme ans Leipziger Literaturinstitut. Die Chance ergab sich, nachdem mein Vater am 5. Februar 1974 in Berlin im Ministerium ein gutes Gespräch mit einer verständnisvollen Frau gehabt hatte. Es ging sogar um eine rückwirkende Immatrikulation zum September 1973, schon im März könnte ich beginnen. Im Gedächtnis ist mir nichts mehr davon geblieben, ich blieb bis Sommer 1975 in der Bibliothek. Ich fragte bei einem säumigen Antiquariat nach, ob denn meine für den 6. Februar angekündigte Lieferung noch zu erwarten sei. Zuletzt hatte ich zweimal Stornierungen, in einem Fall schon die zweite für einen offenbar immer rarer werdenden Titel von Dr. Heinrich Stümcke, den angeblich niemand kennt.

12. Februar 2024

Rosenmontag ist Weinbestelltag und ich mache Erfahrungen, die mich fröhlich stimmen. Es gibt sie noch: die kundenfreundlichen privaten Unternehmen. Weil ich mich in der Abwicklung verhedderte, die zur Zahlung führen sollte, rufe ich an, Minuten später habe ich alles erledigt, höre die frohe Botschaft, morgen gehe alles schon raus. Ich schaffe Liegeplatz im Keller. Eine freundliche Mail von gestern, einen alten Text von mir lobend, den ich hier nicht nennen will, sonst läse ihn vielleicht noch jemand, der ihn sonst keinesfalls gelesen hätte, beantworte ich ebenfalls freundlich. Denn aus meiner aktiven Zeitungszeit in der Zeit vor der Zeitenwende weiß ich: Leserbriefe schicken in 99,7 Prozent aller Fälle nur die Meckerköppe, nie die Zufriedenen. Insofern bin ich Woche für Woche neu begeistert, wie viele begeisterte Leser der Spiegel hat, der ausdauernd jedes Titelblatt-Lob für die Nachwelt dokumentiert. An der Luft ging es mir heute besser als zuletzt: ich huste, ich hoffe.

11. Februar 2024

Mein Beitrag über Freumbichler ist fast 2000 Wörter lang geworden, ich bin leidlich zufrieden. Stieg gestern eigens dafür spät noch einmal in den Keller, eine acht Jahre alte Buchbesprechung zu finden. Den Verfasser traf ich einmal bei einem Rundgang auf Harald Gerlachs Spuren in Erfurt, wenn ich mich recht erinnere, kann aber auch ein anderer Anlass gewesen sein, jedenfalls Erfurt. Im Terminkalender für morgen steht der Name Julio Cortazar, den ich übergehen muss, weil mir der Aschermittwoch noch eine Pflichtaufgabe abnötigt. Auch eine kleine Ergänzung zu meinem nun neun Jahre alten Beitrag zu Otto Erich Hartlebens „Rosenmontag“ hätte ich gern geschrieben, zumal Otto Erich zu den engsten Freunden Arthur Eloessers gehörte, auch das muss warten. In Berlin ist der bei einem Spaziergang mit Wärtern geflüchtete Vergewaltiger wieder eingefangen worden, hatte Sicherheitsverwahrung: In diesem Lande leben wir wie Fremdlinge im eigenen Land.

10. Februar 2024

2023 beendete ich das zehnte Buch des Jahres am 24. April, es war der Briefwechsel von Brigitte Reimann und Christa Wolf. In diesem Jahr liege ich besser, Nummer 10 ist heute ein Buch über Johannes Freumbichler, den Großvater von Thomas Bernhard. Las ich von Ende September 2022 bis Mitte Februar 2023 gar nichts zu Ende, oft überhaupt nichts, so bin ich jetzt wieder weitgehend in Normalform. Die Erinnerung an die Höllenschmerzen über viele Wochen und alle Nächte ist noch nicht ganz verblasst. Kleine Rundfahrt durch Ilmenau heute zu drei Postanschriften aus reiner Neugier, ob die auffindbar sind. Ich hätte vielleicht auch ins Archiv gehen müssen, war nach wenig erfreulichen Erlebnissen zuletzt dazu nicht aufgelegt. Traf unsere Bürgermeisterin am Zechenhaus, kurzer Schwatz, wir kennen uns nun fast 35 Jahre. Ich bereitete sie auf eine Anfrage meinerseits vor und werde schauen, wie ich das löse. In der Post ein Buch über Goethes Mutter aus dem Jahr 1932.

9. Februar 2024

Im Amtsblatt der Stadt Ilmenau finde ich eine Einwohnerstatistik der Ilmenauer Ortsteile zum 31. Dezember 2023. Aktueller geht kaum, wenn ich mit manchen Zahlen vergleiche, die sonst da und dort kursieren. Aber ich will nicht über das krasse Auseinanderfallen der Demonstranten-Zahlen bei Polizei und Veranstaltern reden. Die professionellen Zähler liegen immer falsch, die Wunschdenker immer richtig, wir haben uns daran gewöhnt. Man nennt es ausgewogenen Journalismus. Gehren, wo ich herstamme, nachdem ich in Arnstadt als Risiko-Geburt das Licht des Wollmarktes erblickte, steht bei 2992 Einwohnern, Langewiesen bei 2977. Ich kenne noch uralte Zahlen aus dem Kreis Ilmenau, ehe das IGI (Industriegelände Ilmenau) und Henneberg errichtet wurden: Langewiesen, Gehren und Großbreitenbach pendelten um die 5000, bisweilen sogar darüber. Danach der Exodus in die Ilmenauer Neubauwohnungen. Und Oberpörlitz liegt jetzt vor Manebach: reiner Wahnsinn.

8. Februar 2024

Wer als gut erzogener Philosophie-Student alter Schule vorm großen Schubkasten-Schrank stand, konnte auf die Existenz eines Kastens vertrauen, auf dem „Junghegelianismus“ stand . Im Falle innerer alphabetischer Sortierung erschien David Friedrich Strauß im hinteren Bereich, ein Reiter sogar auf „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“, denn dies war, aus späterer Sicht, der Hammer, der Spaltpilz. An ihm schieden sich die alten von den jungen Hegelianern, unter den jungen noch im Puppenstadium ein gewisser Karl Marx, der später seinen unmittelbaren Vorgängern emsig und ausdauernd verbal aufs Haupt schlug. Gestorben ist der Ludwigsburger Strauß in Ludwigsburg am 8. Februar 1874. Das Buch „Junghegelianische Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie“ von Ingrid Pepperle las ich als Doktorand bis zur Seite 178. Dort steckt bis heute mein Lesezeichen als Ausdruck des Wunsches nach dem Rest. Am 8. Februar 1944 starb Alfons Paquet: vor 80 Jahren.

7. Februar 2024

Tatsachen haben es schwer im Leben. Immer wieder werden sie gezwungen, nackt für sich zu sprechen, niemand hält ihnen anstandshalber ein Handtuch vor. In der Kunst ist es besonders krass, dort verfallen in gewissen regelmäßigen Abständen ausübende Bürger auf den Gedanken, es sei an der Zeit, auf Kunst zu verzichten und stattdessen, genau, die nackten Tatsachen sprechen zu lassen. Was schon voraussetzt, dass die Tatsachen der Sprache überhaupt mächtig sind und nicht etwa die des Landes gar nicht verstehen. Wenn die Tatsachen gesprochen haben, dürfen sie in die Garderobe gehen und sich anziehen. Denn Tatsachen mit Gänsehaut sehen auch nackt nicht mehr übertrieben schön aus. Letztlich ist alles ohnehin pur sexistisch, denn männliche Tatsachen sind, etwa als der Tatsach im Unterschied zu die Tatsache, nicht vorgesehen im Sprachschöpfungsplan. Womit ich beim Schnee wäre, der heute einfach so vor sich hinfällt, nachdem der Wind zu wehen aufhörte.


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