Tagebuch

31. Juli 2024

Das schmale gelbe Stramm-Bändchen, das ich schon in Marienbad mit mir führte, las ich endlich zu Ende. Die neue Rente ist auf dem Konto, beide Hauptfeinde jeder Rentenerhöhung, das Finanzamt und die Inflationsrate, beginnen sofort ihr zerstörerisches Werk. Immerhin, die Bescheide waren rechtzeitig da, das große Begleichen offener Rechnungen kann morgen beginnen, heute noch nicht. Heute verprassen wird einen unserer Gutscheine im Peltobad. An der Stelle, zu der wir sonst immer unsere Liegen zerrten, steht nun ein neuer Ruheraum. Es war angenehm ruhiger Betrieb, mitten in der Woche müssen eben immer noch erstaunlich viele Menschen arbeiten, nicht sämtliche Rentner wollen in die Sauna. Seit Sportler nicht in erster Linie mehr Medaillen gewinnen wollen, sondern Spaß haben, gewinnen nur noch die Humorbremsen anderer Länder die Medaillen, wir erfahren von Experten und Betroffenen, woran es lag. An Antoine de Saint-Exupery nicht, er starb vor 80 Jahren.

30. Juli 2024

Was hören öffentlich-rechtliche Sportreporter nebst -innen in ihrer allwöchentlichen Kabinen-Ansprache? Quatscht, bis Euch Fransen am Maul hängen? Denkt, Ihr seid Rundfunkreporter und Eure Hörer sind blöd wie Sesambrot? Ich gestehe, dass ich beim Anschauen des Beach-Volleyball-Matches fast wahnsinnig wurde, als der männliche Labersack mir mitteilte, wie toll die Stimmung unter den Zuschauern sei, statt mir die Möglichkeit zu geben, das auch zu hören. Er quatschte und quatschte und quatschte, jeden Spielzug der neuen Partnerin von Laura Ludwig kommentierte er, als stünde da eine geborene Vollidiotin im Sand, die einfach nicht weiß, was sie tun muss. Mit „Arthur Eloesser: August Stramm“ bin ich doch noch fertig geworden, was mir etwas Luft verschafft. Ich las ein paar Seiten Joseph Conrad und holte die Wahlbenachrichtigungen aus dem Briefkasten. Für   uns ist die Briefwahl angesagt, denn wir werden außer Landes sein, wenn die Entscheidung fällt.

29. Juli 2024

Die Aussicht auf drei schöne Tage beflügelt mein Treiben. Heute ist Erich Kästners zu gedenken, der vor 50 Jahren dahinschied, dazu steht der 150. Geburtstag von Dr. August Stramm im Kalender, der vor Jahren schon einmal meine schreibende Aufmerksamkeit herausgefordert hat und nun wieder einmal an der Reihe wäre. Tot ist er schon ewig, er endete an Kopfschuss. In der Apotheke, wo ich immer eine Packung Taschentücher geschenkt bekomme, wenn ich Zuzahlungen oder ganz gewöhnliche Zahlungen ohne Zu- tätige, hörte ich von magenfreundlichen Tabletten, die volle drei Euro billiger sind als meine, mit denen ich seit fast 31 Jahren mein Blut verdünne, damit es nicht stockt urplötzlich und ich ohne Kopfschuss tot bin. Mal sehen, wie lange es vorhält, wobei ich es selbst ja dann nicht sehen werde. Renate Feyl, die morgen 80 Jahre alt wird, was meiner Kollegin von 1973 erst nächstes Jahr bevorsteht, wird leider ohne meine Gratulation auskommen müssen.

28. Juli 2024

Als die Grünen noch Westdeutschland feucht weinten ob des Waldsterbens, starb der Wald gar nicht. Mein erster Besuch im Ruhrgebiet, das ich mir wie Dantes Staub-Inferno ohne Blatt am Baum und mit asthmatisch hustenden menschenähnlichen Kreaturen vorstellte, rupfte mein heiles Weltbild zu Boden. Alles war grün und glänzend, die Leute sahen aus, als wären sie frisch von vier Wochen Kur zurückgekehrt. Heute besuchte ich im Kreise der Familie Masserberg, wo ich eine ehemalige Kollegin an Krücken sah, den Gatten dazu, der sie besuchte. Ach, das war 1973 und in einem anderen Land. Heute stirbt der Wald, rechts und links der Straße ist er entweder schon tot und weggesägt oder er harrt noch der Dinge, die kurz vor dem Tod liegen. Die Grünen achten jetzt auf meine Ess- und Sprechgewohnheiten, mit toten Dingen wollen sie nichts zu tun haben. Vor unserer Abfahrt wurde ich noch fertig mit „Ernst Cassirer 150“, ich nenne dergleichen Sonntagsfreuden.

27. Juli 2024

Mein einstiges Blatt hatte zum 1. Juli die glorreiche Idee, die Lokalteile Ilmenau und Zella-Mehlis zu fusionieren mit dem praktischen Ergebnis, dass kaum noch etwas von Interesse ist für hiesige Leser, die sofort mit Abbestellungsabsichten reagierten. Nun teilt der Chefredakteur höchstselbst mit, dass die Idee eine Schnapsidee war. Er hätte jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt, aber von der Sorte ist wohl niemand mehr im Blatt. Zum 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, soll der vorherige Zustand wieder hergestellt werden: die Lokalteil-Mauer wird hochgezogen, weil sie in die Köpfen fortexistiert. Aus meiner Zeit als verantwortlicher Redakteur der Lokalteile Ilmenau und Arnstadt weiß ich, dass meine damalige Maximal-Lokalisierung die beste Zeit war, die Leser wussten genau, wann ihre Seite im Blatt war und mussten nicht einmal mehr Arnstadt, einmal mehr Oberhof ertragen. Vor 200 Jahren wurde Dumas fils, der jüngere Alexandre Dumas geboren.

26. Juli 2024

Für den Fall, dass mir eine unsichere Zukunft zu unsicher ist, gibt es neuerdings eine orangefarben werbende Familien-Partei. Die Plakate hängen massig an den Laternenmasten, keine Namen dazu, Programm ohnehin nicht. Früher hing immer die MLPD zuerst da, jetzt müssen die das Rennen verschlafen haben. Für den wahren Sozialismus bleibt letztlich immer genug Zeit. Noch eben rechtzeitig dachten wir an die Kalender für 2025, je früher ich sie habe, um so langfristiger kann ich meine Schreibplanung vorbereiten, je eher ich die Jahrestage vor Augen habe, je früher kann ich die Lektüren ins Augen fassen, die nötig werden. Auch Aldous Huxley stand für heute frühzeitig auf dem Karton, ich übergehe ihn dennoch. Der Juli ist einfach zu voll. In Paris regnet es zur Eröffnung der Olympiade gotterbärmlich. Ich denke an die 700-Jahr-Feier von Ilmenau. Dennoch: Spektakel erster Klasse, viele wunderbare Ideen wie etwa die von unten auftauchenden Frauenplastiken.

25. Juli 2024

Jahraus, jahrein bin ich in Unterpörlitz an diesem Zaun vorbeigelaufen, sah das grüne Postrohr aus uralten Zeiten dort hängen, das gab es für neue Abonnenten 1990 kostenlos dazu und wurde vom Nachfolgeblatt einfach übernommen. Lange warb es für meine Zeitung, die es nicht mehr gab, der Name wurde überklebt und nun ist es verschwunden. Wann genau, weiß ich gar nicht, es ist nicht mehr da. Vermutlich lesen die Leute keine Zeitung mehr, vielleicht haben auch Leute das Haus übernommen, die nie eine Zeitung lasen. Vielleicht, vielleicht. Ich denke mir, dass ich das Wort Postrohr nie kennengelernt hätte, wenn diese DDR nicht einfach zusammengekracht wäre in einer Mittagspause der Weltgeschichte. Dann wäre allerdings auch Helmut Kohl nie Kanzler der Einheit geworden, man hätte ihn abgewählt angesichts des Fettnapf-Slaloms, den er seit seiner Wende lief. Postrohr, Postrohr. Vielleicht bist du auch nur an Materialermüdung, Hitze, Regen, Frost gestorben.

24. Juli 2024

Die tschechischen Bieretiketten leisten teilweise hartnäckigsten Widerstand, sind selbst mit der Rasierklinge kaum von der Flasche zu trennen. Diesmal brachte ich nur 250 Kronen mit nach Hause zurück. Wir haben uns entschlossen, im kommenden Jahr nicht in Franzensbad Quartier zu nehmen, wie zunächst gedacht, sondern wieder in unserem Hotel in Marienbad und dann von dort aus gen Franzensbad mit dem Auto zu fahren. Wirklich neugierig sind wir nur noch auf den Kammerbühl, den wir wie weiland Goethe besteigen wollen, das hätten wir Ende November vorigen Jahres in Schnee und Kälte nicht sinnvoll machen können. Ich bin mit dem Nacharbeiten des Urlaubs fast fertig, sehe, dass wir doch schon bei Tesco waren, was natürlich völlig irrelevant ist. Mein Kalender nennt mir für heute den 160. Geburtstag von Frank Wedekind, den muss ich beiseite lassen wie so vieles in diesem wilden Monat Juli. Immerhin stehen schon 12mal die 10.000 Schritte zu Buche.

23. Juli 2024

Der Besuch im Ilmenau O2-Laden ist kaum hilfreicher als der in Marienbad. Der Mann meint nur, die SD-Karte müsse beschädigt sein, sie müsse neu formatiert werden, dann aber seien alle Bilder weg. So fahren wir zu unserem Computer-Experten, der uns immerhin Hoffnung macht, die Dateien retten zu können, es könne sein, dass ihre Ordnung allerdings verloren ist. Das würde bedeuten, dass ich mir auf einer neuen SD-Karte Hunderte und Aberhunderte von Fotos neu anschauen müsste, um sie wieder in Alben sortieren zu können. Ich komme mit meinem Text zum heutigen 90. Geburtstag von Renate Krüger tatsächlich zu Ende. Rufe mir spät noch Gottfried Stiehler vor Augen, bei dem ich in Berlin die Vorlesungen Historischer Materialismus hörte: „Philosoph, hüte dich vor Hypostasierung!“ war sein Spruch. 100 Jahre alt wäre er heute, geboren in Langebrück, von wo wir eben erst gen Marienbad gestartet waren. Er starb am 3. Dezember 2007, 83 Jahre alt.

22. Juli 2024

Die leeren Weinflaschen warf ich gestern in einen Glascontainer auf dem Weg nach Tepla, alles andere blieb heute im Bad. Wir loben noch einmal die gute Ausstattung des Zimmers. Die vielen Russen in Marienbad kommen nicht aus Russland, erfahre ich, sie kommen aus Deutschland und aus Israel. Sie packen ein, wenn sie den Tisch verlassen, ein Paar am Nebentisch vier Pfirsiche, sogar trockenes Brot. Sie packen ihre Teller bergehoch voll und lassen zwei Drittel dann einfach liegen. Nicht alle natürlich. Wann verlor dieses Volk alle Kultur, falls es jemals welche hatte? 70 Jahre Sowjetunion haben offenbar nicht das mindeste Benehmen erzogen, 30 Jahre danach nichts hinzugefügt. 6.20 Uhr weckt mich der Baulärm vom Gerüst vor unseren beiden Fenstern, 13.30 Uhr entladen wir zu Hause unseren Kofferraum, fuhren diesmal mit e-Vignette für alle Fälle, nachdem wir endlich das System verstanden hatten, das ganz einfach ist. Ein paar Stramm-Gedichte noch.

21. Juli 2024

Haarscharf verpassen wir im Prämontratenserkloster Tepla die Führung, müssen uns gedulden bis 13.30 Uhr. Wir vertreiben uns die Zeit, indem wir um den kleinen See laufen, den Friedhof suchen, der ausgeschildert ist und offenbar aus nur drei Gräbern besteht. Ein Goethe-Relief hängt an einer Wand, Goethe trägt eine flotte Sturmfrisur, es erinnert an seinen Besuch am 21. August 1821. Wir folgen der Führung in tschechischer Sprache, haben aber ein deutsches Textbuch zur Hand, außer uns ist noch ein jüngerer Mann so ausgerüstet. Im Kloster darf man nicht fotografieren, was wenig Sinn macht. Dafür erbrachte der Rundgang Bilder von Kreuzweg-Plastiken, wie wir sie ähnlich nirgends sagen. Wir tanken in Tepla mehr als zehn Euro billiger als zu Hause. Weil wir zweimal in Folge sauisch hinterlassene Tische russischsprechender Hotelgäste sahen, die das Personal völlig verunsicherten, will ich morgen beim Aus-Checken nachfragen, was das für seltsame Gäste sind.

20. Juli 2024

Der Besuch im Marienbader O2-Laden, zu dem wir laufen, obwohl er weiter weg ist, als wir dachten, verläuft erfolglos. Der junge Mann versteht zwar unser Anliegen, erklärt sich aber für nicht kompetent. Wir fahren mit der Seilbahn zum Seniorentarif zum Boheminium, die zahlreichen Fotos von den Miniaturen bleiben ebenso in der Kamera wie die gestrigen aus Königswart, mein Zugriff auf die SD-Karte bleibt weg, ich sehe nicht einmal mehr meine so sorgsam angelegten Alben und kann ebenso nicht mehr nach den alten Bildern schauen. Am Brunnen sind wir zweimal: um 15 Uhr gibt es Chopin, um 21 Uhr erneut Metallica, diesmal mit Lichtshow. Nachdem ich gestern „Das Zeitalter der Empfindsamkeit“ zu Ende las, fast 13 Jahre lag es mit Lesezeichen auf Seite 91, war heute „Aufbruch unter Diktaturen“ an der Reihe, nun bleibt mir noch August Stramm. Den 90. Geburtstag von Uwe Johnson lasse ich verstreichen und werde auch nichts nachträglich schreiben.


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