Tagebuch

17. April 2025

Ischia, Nachtrag: Die Weinreise führt uns in die Berge oberhalb von Forio. Die Casa D'Ambra gibt es seit 1888, begann als Weinhandel in Ischia Porto. Wir fahren auf bis zur Tenuta Frassitelli, wo es an tollen Panoramen geradezu wimmelt. Nebeneffekt: Man kann sich Wein aus diesen Lagen schwer vorstellen zu Discounter-Preisen. Wir lernen, warum eine Weinprobe mit dem besten Tropfen beginnt: als Probe Nummer 5 bis 7 schmeckt jeder Wein schon wie der beste. Dass es nun auch schon Technik gibt, die mit ihren Sensoren Korken checkt, bevor sie Wein verderben können, ist neu für uns und tröstlich. Wieder im Hotel, nutzen wir die Zeit zu einem Gang durch die Gassen in der Nähe: Erdbebenspuren noch sehr viele, das Beben war im August 2017. 2022 folgte ein Erdrutsch nach schwersten Regenfällen. Benedetto Croce verlor 1883 bei einem Beben hier Eltern und Schwester. Nur sein von Werner Ross übersetztes Goethe-Buch gehört zu meinen Beständen.

16. April 2025

Ischia, Nachtrag: Heute Tour nach St. Angelo und rückwärts Forio. Zum 90. Geburtstag von Sarah Kirsch heute vordatiert „Sarah Kirsch erzählt“ im Netz. Unser Hotel La Ginestra von 1994 strahlt, das Ruinengrundstück nebenan, das wir damals das Katzenhaus nannten, ist auch saniert. Wir passieren das Ristorante Deus Neptunus, wo ich erstmals meine Barclay Card ausprobierte vor nun schon 31 Jahren. Den Gedenkstein für den Papst-Besuch am 5. Mai 2002 gab es natürlich noch nicht, als wir Forio erlebten. Das Ristorante Il Soccorso, in dem man sich sein noch lebendes Meerestier aussuchen konnte, das man auf dem Teller neben den Spaghetti haben wollte, ist nicht mehr in Betrieb, der starke Wind riss uns fast um. Für alle, die morgen nach Capri wollten, bringt der Aushang die Nachricht: die Tour fällt aus: Seegang zu gefährlich. Aperol Spritz gibt es hier noch für 7 Euro inklusive Nüsse und Cracker, in Berlin wäre das ein Fabelpreis auch ohne die Beilagen.

15. April 2025

Ischia, Nachtrag: Meine Laune von gestern war kaum zu unterbieten, heute heitert sich alles auf inklusive des Wetters. Wir kaufen uns eine Wochenkarte für den Bus, kaum etwas ist wichtiger auf dieser Insel. Mit ihr bestens versorgt, besuchen wir zuerst das Castello Aragonese. Dort waren wir zuerst am 5. April 1994, dann am 17. Oktober 1999. Die Bilder von Clementina Petroni sind immer noch zu sehen in all ihrer leuchtenden Farbigkeit. Von den angebotenen Ausflügen nehmen wir nur einen wahr am Donnerstag. Aus dem Weingut, das wir besuchen werden, kaufen wir zur Probe einen sehr leckeren Falanghina, die freundlichen Damen im Minimarkt holen die Flasche aus der obersten Regalreihe mit einer seltsamen Zange und freuen sich, dass wir uns über die gelungene Aktion freuen. In Italien sind Plastiktüten, für die wir zu Hause längst extra zahlen müssen, noch immer die Norm. Etwas wie unsere Einkaufstaschen sahen wir nirgends. Fast 17.000 Schritte heute.

14. April 2025

Ischia, Nachtrag: Sagen wir so: Unsere Klimabilanz, was das Fliegen betrifft, ist gigantisch. Ich flog einmal von Barcelona nach Frankfurt am Main, das war 1996. Meine Frau flog einmal mit einer IL 18 nach Budapest, da musste man auf dem Weg zum Bahnhof noch Mauer, Stacheldraht, Stasi und sozialistische Hundehaufen überwinden. Jetzt Erfurt. Wir fliegen erstmals im Leben gemeinsam und zwar nach Neapel. Dort warten wir lange auf unsere Koffer, aber sie kommen schließlich doch. Wir fahren vom Flughafen getrennt von unseren Koffern zum Hafen Pozzuoli, wo immer noch Hunde umherlaufen, die auffallend vorsichtig unterwegs sind. Es sind vermutlich inzwischen die Urenkel jener Hunde, die wir hier 1994 zuerst sahen. Die römischen Ausgrabungen sehen wir uns nicht neu an. Wir landen in Ischia Porto und werden mit einem Bus zu unserem Hotel gebracht, es heißt La Pergola und hält für uns das Zimmer 14 bereit. Es ist kalt, es regnet und wir sind sehr weit oben.

13. April 2025

Zugegeben: Wenn ich mich jetzt nicht mit Sarah Kirsch beschäftigt hätte, um ihres 90. Geburtstages am kommenden Mittwoch gedenken zu können, wäre „Frauen schreiben“ von Jürgen Serke nicht auf meinem Arbeitstisch gelandet. Mir wäre entgangen, dass er genau heute vor einem Jahr starb. Er schrieb über verbrannte Dichter, über verbannte Dichter und auch über Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR. Sein Buch „Böhmische Dörfer“ würde ich gern noch erwerben, es ist mir aber vorläufig selbst antiquarisch noch zu teuer. Über mich hat er nicht geschrieben, obwohl ich auch eigenmächtig blieb, was sogar die Stasi protokollierte. Am 13. April 1995 reisten wir mit dem Bus nach Brüssel, das Hotel „Fimotel“ lag eher im Gewerbegebiet, zu Fuß in die Stadt ging nicht. Für mich war es schon die zweite Belgientour, 26 weitere folgten, meiste kurze, Übernachtungen in Summe exakt 100. Einmal Belgien ist auch 2025 im Plan, jetzt aber geht es erst einmal gen Italien.

12. April 2025

Spitzt man eine Frage hinreichend zu, klingt sie ganz anders. Zum Beispiel: Soll ein Tier lieber legal aussterben als illegal im Privatzoo eines Multimilliardärs weiterleben? Wir sind, medial gut erzogen, natürlich für legales Aussterben. Es würde uns sonst ein guter Grund für öffentliches Weinen fehlen. Es wäre gut, statt weiterer Gender-Lehrstühle solche für Praktische Warnologie einzurichten für sämtliche Einzelfach-Warner, die uns allabendlich die nächsten sieben bis elf Weltuntergänge voraussagen. So viel Wände kann niemand errichten, alle Teufel an sie zu malen. Man müsste eine neue Vorrats-Teufel-Speicherung einrichten, Vorratsdaten allein machen den Kohlrabi nicht fett. Heute verrät uns das einstige Zentralorgan „Neues Deutschland“, dass die Geschichte des Instituts für Sozialforschung neu geschrieben werden muss, weil die Sekretärinnen, Gattinnen und Hilfskräfte darin fehlen. Brecht fragte einst nach dem Koch, war aber nur ein Mann.

11. April 2025

Unsereiner, wenn er an selig-unselige Tage des Studierens in Berlin denkt, denkt nicht immer nur, wie beeindruckend das Fächer-Spektrum sich ausgemacht hätte im fernen Westen: Er studierte Logik, Politische Ökonomie, Psychologie, Ethik, Ästhetik, Deutsche Geschichte, Philosophie und das alles in nur zehn Semestern an einer einzigen Universität. Ich wäre wohl ein Quasi-Wundertier gewesen. Eins hätte ich freilich nie gekonnt: mich als Schüler eines Lehrers zu outen. Ich erinnere mich nur mühsam meiner Lehrer und der einzige, den ich nennen würde, lehrte mich nur Stoff und Vorlesungskunst. Seinen Spuren zu folgen, fiele mir schwer. Woran ich aber leidlich konturierte Erinnerungen habe: an Ferdinand Lassalle, dessen 200. Geburtstag auf heutigen Freitag fällt. Die Sozialdemokraten tragen ihn tapfer als einen ihrer Gründerväter, lieber jedenfalls als den anderen, der Karl hieß und es mit Friedrich hatte. Mich bewegte die „Sickingen-Debatte“ als Quell-Theorie.

10. April 2025

Nachruf für die blaue Blume. Ein AfD-Abgeordneter trug im Bundestag eine blaue Blume am Revers, Doppelpunkt: Ein rechtsextremes Symbol. Lese ich. Nun beiß mich der Honigdachs. War die blaue Blume nicht, verdammte Axt, das Erz-, Ober-, Haupt- und Sonstwie-Symbol deutscher Romantik? Habe ich irgendwas verpasst? Ist die historische Vollverblödung dieses ohnehin von massiver Lernschwäche gebeutelten Volkes noch größer als zu vermuten war nach allen Pisa-, Florenz- und Neapelstudien? Kruzifixundkruzitürken. Blumen am Revers, das geht ja gar nicht. In der Schweiz hat sich ein feministischer Jodelchor gegründet, Name „Echo vom Eierstock“. Das trauen wir denen gar nicht zu, wir Schluchtenjodler. Man stelle sich vor, es würde sich hinter Husum ein machistischer Shanty-Chor gründen, „Die Sackschaukler“. Ansonsten könnten wir an Paul Leppin, Schriftsteller, denken, heute vor 80 Jahren in Prag gestorben, ebenda 1878 geboren.

9. April 2025

Dass die Hamburger ZEIT sich entschlossen hat, Kiew in Kyjiw zu verwandeln, kann man korrekt finden, muss aber nicht. Schließlich findet das selbe Wochenblatt Moskau oder Prag keineswegs unkorrekt, gar nicht zu reden von Albanien, welches sich selbst so gnadenlos anders nennt als wir alle, ich kannte das schon als junger Briefmarkensammler vor sechzig und mehr Jahren. Als junger Ungarn-Reisender erfuhr ich, dass die Ungarn, die sich auch nie Ungarn nannten, keinerlei Problem damit, hatten Dresden Dresda zu nennen oder Leipzig Lipcse. Blöder ist, dass kein deutsches Edel-Feuilleton es komisch findet, wenn ukrainische Soldaten Kampfnamen tragen wie Wrestler, einer, las ich wiederum bei den Hamburgern, nennt sich Kardinal. Ich war 1971 bis 1973 Soldat Ullrich, dann Gefreiter Ullrich, undenkbar, dass ich mich Bischof genannt hätte oder vielleicht Papst, selbst Honni wäre aufgefallen. Einer meiner Mit-Soldaten hieß Pabst, war rothaarig und nicht katholisch.

8. April 2025

„Stimme über Barbaropa“ hieß das Buch von Albert Ehrenstein mit ausgewählten Gedichten, das ich mir zu DDR-Zeiten zulegte. Später kamen zwei deutlich dickere Bände hinzu: die „Briefe“ und  „Aufsätze und Essays“ aus der Werkausgabe. DDR-Nachwort-Autor Jürgen Jahn lutschte natürlich Kommunismus-Nähen aus bestimmten Äußerungen Ehrensteins. Doch wer 1937 die Sowjetunion Stalins löblich fand, kann nicht sonderlich genau hingesehen haben. Heute ist einfach nur der 75. Todestag von Ehrenstein. Man kann ihn vergessen. Besser wäre, es nicht zu tun. Auch ein Buch über ihn steht in meinem Regal: „Wann endet die Nacht“ von Karl-Markus Gauß. Der ist ein Jahr jünger als ich, Österreicher, und solange er noch der Herausgeber von „Literatur und Kritik“ war, war ich sein Abonnent. Danach missfielen mir die Hefte der neuen Herausgeberin, ich kündigte. Gegen Abend kein Internet-Zugriff, es half schließlich die alte High-Tech-Lösung Stecker ziehen.

7. April 2025

Dass Frauen, die Bücher schreiben, wenn sie älter werden, auch auf die Idee kommen, Bücher über Frauen zu schreiben, die älter werden und Bücher schreiben, finde ich nicht sonderbar. Obwohl ich ein alter weißer Mann bin. Eben lese ich eine männliche Buchkritik über das Buch eines Mannes, das eine Frau übersetzt hat und dort steht: „Man sollte hier keinen Coming-of-Midlife-Crisis-Roman erwarten.“ Ich gestehe, dass ich in etwa 65 Lese-Jahren meines Lese-Lebens noch nie einen solchen Roman erwartet habe, ich ahnte nicht, dass es solche Romane gibt, obwohl ich natürlich gelegentlich hörte, dass es Coming-of-Age-Romane gibt. Georg Herwegh, der heute vor 150 Jahren entschlief, hätte vielleicht seine helle Freude daran, was jetzt alles von den Literatur-Agenten in die Werbeverkaufs-Shows geschickt wird. Könnte aber auch sein, dass er bedauern würde, nicht genug gegessen zu haben, um hinreichend kotzen zu können. Mühlberg war jedenfalls ein Erinnerungsort.

6. April 2025

Es ist vertrackt: Um nicht in den Keller steigen zu müssen, klettere ich auf meinen Drehstuhl am PC, um in einer oberen Reihe an „Die Maßgaben der Kunst“ zu gelangen von Peter Hacks. Der hat 1976 in der NDL, für die ich später auch gelegentlich schrieb, „Der Sarah-Sound“ veröffentlicht. Ich finde ein Lesezeichen bei „Der Fortschritt in der Kunst“, auch aus dem Jahr 1976, bald in den Stoff-Fundus für meine Diplomarbeit geratend, nachdem Günter Kunert für mich keines mehr sein durfte. Das Fossilientreffen klingt nach, wir sprachen viel von damals, weil uns genau das ja stetig verbindet. Einer erinnert sich an Details meiner Seminare in der Matrikel 80, jetzt auch schon ein Rentner wie ich. Bei Jürgen Serke lese ich über Sarah Kirsch nach ihrem Abgang aus der DDR. Sein Hacksatz-Stil nervt mich mehrfach über die Maßen. Dafür bin ich jetzt über von Karl Mickel verfertigte uneheliche Kinder informiert. Ich nehme das neue Sonntags-Wissen mit nach Mühlberg.


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