Tagebuch

13. Januar 2024

Morgenlektüre Emanuel von Bodman, Gedichte. Sein Wohnhaus in Gottlieben am Bodensee ist das Literaturhaus des Kantons Thurgau. Ich schaute noch gestern nach Ferienwohnungen, mit neuer Schweizlust. Von Steckborn aus kommt man auf dem kurzen Weg nach Kreuzlingen durch das kleine Gottlieben, auf der deutschen Seeseite liegt Gaienhofen mit dem ersten eigenen Haus von Hermann Hesse. Der wie bei Ludwig Finckh auch bei Bodman deren Begeisterung für den Krieg nicht verwinden konnte. Vorarbeiten zu Alfons Paquet. Meine dreibändige Werkausgabe kommt nun doch noch zu Ehren. Am 13. Januar 1999 beging ich ein Sammlerjubiläum. Ich trank meine 2500. Biersorte, ein hefetrübes Hausbräu der Brauerei Zwanzger aus Uehlfeld, direkt in der Gaststätte des Hauses als eines von vier neuen Sorten gekauft. Gasthof und Brauerei gibt es noch, man kann dort sogar übernachten. Heute kann ich die genaue Zahl meiner Sorten nur schätzen, Arbeit wartet.

12. Januar 2024

Mit heutigem Freitag sind sämtliche Weihnachtsdekorationen wieder in Kisten, Kästen und Kartons verpackt und verschwunden. Der Platz des Baumes ist vorübergehend leer, der runde Tisch, auf dem er stand, muss nun in meinem Arbeitszimmer wieder nur Lastenträger sein. Mich plagen seit Tagen Atembeschwerden, nach einer Schrecksekunde am späten Nachmittag, wo ich Notarztgedanken aufkommen ließ, langsame Besserung und der tröstliche Beschluss, an eine krasse Wirkung meiner Pollenallergie zu glauben. Baumhasel steht direkt unter meinem Fenster, ich müsste die Stadt um Fällung bitten. Bis spät Furcht, ins Bett zu gehen. Wenn mir irgendetwas schrecklich vor Augen steht, dann das Ersticken. Ein Kollege an der Hochschule schilderte mir vor Jahren detailreich das Sterben seines Vaters, der mit seinen Fingernägeln den Putz von der Wand kratzte, bis er tot war. In der gelben Post Thomas Manns „Briefe an Richard Schaukal“, Band 27 der Thomas-Mann-Studien.

11. Januar 2024

Am 11. Januar 1999 liegt Ilmenau in dichtestem Nebel, unsere Kaufhalle, bis auf Reste des Frisörs kaum noch erkennbar, soll einem Neubau weichen. Architektonisch wird uns dieser Zweckbau im Einschubdielen-Stil zeigen, dass in der DDR bisweilen, obwohl alles schlecht war, Versuche von Baustil unternommen wurden in Graubeton, auf die unsere Freunde vom Rewe und Aldi von vornherein kostensparend verzichteten. Die Ärztin, die für diesen 11. Januar einen Termin vergeben hatte, war selbst krank, heute wird sie durch die Lücke ersetzt, die sie hinterließ. Hautärztinnen kommen leider selten im Gummiboot aus Libyen, so dass wir einen Fachkräftinnen-Mangel zu konstatieren haben. Am 11. Januar 2004 erholte ich mich vom Ausflug am Vortag, der mich in einen Getränkemarkt geführt hatte mit dem schönen Namen „De Biergrens“. Besonderheit: Man ging in Holland vorn rein und kam hinten in Belgien raus, wahlweise umgekehrt. Ich mit 7 neuen Bieren.

10. Januar 2024

Die Kälte dauert an, die Bauernproteste dauern an und Weselskys Kampfgruppen der Arbeiter-, pardon, der Lokführerklasse, legen lahm, was lahmzulegen ist. Wikipedia nennt ihn einen deutschen Lokführer, was besonders in Dresden, wo er 1959, noch rechtzeitig vor dem zehnten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, geboren wurde, wichtig scheint. Wenn die ersten Ersatz-Lokführer aus Lampedusa eingeflogen werden, könnte Konfliktpotential entstehen, denn auch andere Firmen im Weichbild der Semper-Oper schulen gern um. So weit, so schlecht. Werfe ich lieber einen Blick in meine Vergangenheit: Am 10. Januar 1994 empfing ich aus den zarten Händen meiner damaligen Hausärztin eine Desensibilisierungsspritze gegen meine Pollenallergie, die immer um den Jahreswechsel heftig wurde wegen Baumhasel und ähnlicher verbrecherischer Pflanzen. Am 10. Januar 1999, es war ein Sonntag, umkreisten wir den Trümmerhaufen unseres „Glasmachers“.

9. Januar 2024

Wenn der deutsche Kaiser stirbt und deutsche Bauern mit ihren deutschen Traktoren deutsche Autobahnen blockieren nebst Innenstädte, dann haben alle anderen das Nachsehen, verdammt noch mal. Lichtgestalten mit Schattenseiten zu haben, wer kann das noch von sich behaupten, wenn nicht wir? Wenn ich das Wort Libero höre, denke ich an die Nationalmannschaft der DDR, die in ihren besten Zeiten mit sieben Liberos spielte, was ihr niemand dankte und auch keine Titel einbrachte. Die Addition der besten Spieler, das wussten wir schon mitten im Unrechtsstaat, führt selten bis nie auch automatisch zu einer guten Mannschaft. Ansonsten erblickte mein müdes Morgenauge die Zahl 15 mit Minuszeichen davor, eine Temperatur draußen bezeichnend, die wir länger nicht hatten, aber uns wohl nun öfter besuchen wird. Wegen Klimawandel. Ist es warm, Klimawandel, ist es kalt, Klimawandel, ist es nass, Klimawandel, trocken dito. Und weit und breit kein Kaiser, der uns hilft.

8. Januar 2024

Es muss heute nicht viel passieren, mir reicht der Blick in alte Tagebücher. 1994 Rückblick auf die Silvestertour in die Vulkaneifel, Debatten über Studienzeit und Staatssicherheit. 1999 nach einer Pause von 14 Monaten wieder einmal eine Bierreise ins Fränkische, von der ich mit 45 neuen Sorten nach Hause kam. Vor der Abfahrt buchte ich kurz entschlossen eine Solo-Woche für mich im Landal Green Park Aelderholt in Holland, es folgten bis 2008 weitere sieben Besuche in anderen Parks der Firma. 2004 war der 8. Januar der erste Tag meines Krankenlagers in Kempense Meren mit leidlichem Befinden, etwas Sonne und dadurch animiert mit einer Fahrt nach Lommel zum großen Soldatenfriedhof. Anders als beim ersten Besuch war ich ganz allein, hatte Zeit für das Totenverzeichnis, schrieb mir alle Gefallenen auf, die Ullrich hießen, fotografierte ihre Kreuze. Am Morgen heute das Geräusch des Schneepflugs, obwohl an Schnee nicht viel liegt in unserer Straße.

7. Januar 2024

Wahnsinn: Es ist mir gelungen, tatsächlich die große Tagebuch-Lücke nach unserer Abreise gen Franzensbad zu füllen. Allein 32 Einträge stellte ich heute ins Netz, 26 davon mit dem Hinweis Nachtrag, für zwei sind mir schon Fehler signalisiert worden, die ich bei nächster Gelegenheit korrigieren werde. Es liegt etwas Schnee heute, die scharfe unangenehme Luft macht mir mehr Probleme, als mir lieb ist, unser Abendspaziergang fällt deshalb kürzer aus als sonst. Als erstes zu Ende gelesenes Buch des neuen Jahres trage ich „Maxim Gorki“ ins Register ein, Ende März des Vorjahres begonnen, dann liegengelassen. Es ist ein merkwürdiges Buch von Hans Ostwald, auf das ich nie gestoßen wäre, hätte nicht Arthur Eloesser Ostwald einmal besprochen. Jetzt erst sehe ich, dass die alten Übersetzungen, die er in seinem Literaturverzeichnis anführt, von 1901 bis 1903, für die große 24-bändige DDR-Gorki-Ausgabe ausgiebig genutzt wurden. Ich beachtete das früher nie.

6. Januar 2024

Plötzlich und unerwartet, für uns alle voll normal, werden die 1964 Geborenen in diesem Jahr 60 Jahre alt. Einige haben es schon hinter sich und dürfen aufatmen, viele müssen bis September warten, in dem die drei Tage liegen, an denen die meisten Menschen geboren werden. Warum sollte es den 1964 Geborenen besser gehen als den 1954 Geborenen, die sogar schon 70 werden, wir reden nicht von denen, die 1944 das Licht der Bombenkeller erblickten: die werden 80, darunter sind etliche, die früher statistisch längst tot gewesen wären. Babyboomer nennt es der Westsprech, der bekanntlich auch von „zwischen den Jahren“ faselt, als ob da etwas wäre. Westväter kannten seinerzeit einfach noch nicht den Marschbefehl von Otto Waalkes in Travemünde vorm Spielcasino: Absteigen! Und die Westmütter durften nicht verhüten, wenn der Papst nicht sein OK gegeben hatte. Heute vor sehr vielen Jahren waren drei allein reisende unbegleitete Könige unterwegs.

5. Januar 2024

„Wir sollen das arge Zuckerbrot, das jeder Erfahrungstag unserem historischen Pessimismus anbietet, nicht gierig schlingen, weil unser romantischer Instinkt heimlich an diesem Pessimismus hängt und ihn nicht lassen will.“ Schrieb Thomas Mann vor reichlich 100 Jahren am Ende seines vierten „Briefes aus Deutschland“. Es klingt mir, weil ich es noch vor dem Frühstück las, als wäre es das Wort zur Woche. Der Ungar László Krasznahorkai wird heute 70 Jahre alt, mein Archiv enthält eine stattliche Reihe von Artikeln über ihn, ausgeschnitten und ausgedruckt. Von seinen Büchern dagegen steht keines bei mir, er versteckt sich in Anthologien. Vor 20 Jahren, 5. Januar 2004, fuhr ich gesundheitlich arg angeschlagen via Belgien nach Kempense Meren, im Tank noch Benzin aus Österreich vom Achensee und brauchte allerhand zusätzliche Kilometer, weil ich einer falschen Anfahrtsbeschreibung im Prospekt folgte. Ich bezog den Bungalow 204 nah am Parkrand.

4. Januar 2024

Auch wenn unser volkstümlichster und am leichtesten lesbarer Erzphilosoph Immanuel Kant erst am 22. April im Kreise seiner Diener seinen 300. Geburtstag feiert: unsere Großmedien feiern vor. Meiner Mutter galt das als ganz schlechtes Zeichen, aber das waren eben noch Ansichten von früher. Die ZEIT hat heute den Immanuel mit Taube, die wir als Friedenstaube deuten dürfen, auf dem Titel und innen füllt er drei Seiten des Fülletongs. Am schönsten aber finde ich die Idee des Zeit-Reisen-Teams, spezialisiert auf schweineteure Touren für gehobene Kreise: man kann zwei Monate nach dem Großjubiläum selbiges im Nachbarland Litauen feiern. Man könnte in ähnlicher Weise eine Mao-Tse-Tung-Tour durch Japan organisieren oder eine Rousseau-Tour durch den Süden Englands. Alles hängt natürlich mit dem Unort zusammen, an dem Immanuel das Licht der Preußenwelt erblickte: Königsberg, die von Stalin an Putin vererbte Exklave des Reichs des Bösen.

3. Januar 2024

Dass zu Ehren eines Dichters ein Kolloquium veranstaltet wird, ist nicht ungewöhnlich, mehr noch, wenn sein 75. Geburtstag zu feiern ist. Ungewöhnlich nur, wenn der Dichter zu diesem Zeitpunkt bereits 50 Jahre tot ist wie Jiři Wolker. Er starb am 3. Januar 1924 in Prostějov in Nordmähren, seinem Geburtsort, wo auch Edmund Husserl zur Welt kam. Das Wolker-Kolloquium fand in Prag statt, am 20./21. Februar 1974. Einen Konferenz-Bericht durften Leser der „Weimarer Beiträge“ im Märzheft 1975 zur Kenntnis nehmen. 1971 veröffentlichte Reclam Leipzig eine Werkauswahl „Ich wachse wie der helle Tag“, 1977 gab es eine erweiterte und nun illustrierte Neuausgabe. Unter den Übersetzern der Gedichte auch Franz Fühmann und Reiner Kunze. Mein Exemplar hat lange still gestanden im Regal zwischen Vitězslav Nezval und Konstantin Biebl. Von dem aber besitze ich eine Rarität: „In Memoriam Jiři Wolker“, Privatdruck in 100 Exemplaren, meines trägt die Nummer 1.

2. Januar 2024

Den gestrigen 90. Todestag von Jakob Wassermann habe ich nicht vergessen, bin nur mit nichts zum Ende gekommen, was eigentlich hätte fertig sein müssen. Wir verließen die Bergstraße kurz vor 11 Uhr, fuhren noch einmal zu Edeka, um Weine und Biere für zu Hause einzuladen. Der angekündigte Schneeregen kam, kratzen mussten wir dennoch nicht, der Matsch ließ sich leicht entfernen. Die Ankunft zu Hause 13 Uhr. Weil Dresden fünf Tage mit uns am Tisch saß, Wasser und Wein trank, eine Erinnerung an Johannes Schönherr, der am 2. Januar 1894 in Dresden geboren wurde, am 29. Oktober 1971 in Leipzig starb. Sein 1924 veröffentlichtes Gedichtbuch „Herz der Zeit“ trägt im Exemplar meiner Mutter eine Widmung von Gertrude Mehlfärber, datiert mit 11. Oktober 1948 in Gehren, es war also ein Geschenk zum 20. Geburtstag, an mich war noch nicht zu denken. Der Name aber war mir geläufig aus manchen alten Erzählungen. Dauerregen ohne Pause, kaum Post.


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