Tagebuch
25. Juni 2024
Seine Bücher heißen zum Beispiel „Wahnsinn und Gesellschaft“, „Die Ordnung der Dinge“, „Archäologie des Wissens“ oder „Ästhetik der Existenz“. Sie stehen mit „Schriften zur Literatur“ bei mir in der untersten Reihe des Frankreich-Regals, was kein Zeichen der Missachtung, sondern Verweis auf sein Geburtsjahr ist: 1926. Heute vor 40 Jahren starb Michel Foucault in Paris und wann immer von ihm ein Konvolut bisher unbekannter Notizzettel veröffentlicht wird, fällt der strukturalistische Fanclub in Trance, der homophile sowieso und alle Feuilletons, die auf sich halten, holen ihre einschlägigen Experten aus der Kühltruhe, die nun wieder schürfen, bis die Tiefe Oberfläche wird. Mein Freund Peter Ludewig, den in diesem Jahr auch schon der 70. Geburtstag ereilt, bekam beim Aussprechen des Titels „Archäologie des Wissens“, wenn wir auf den oberen Etagen der Doppelstockbetten im Wohnheim „Victor Jara“ in Biesdorf lagen, seltsam starre Augen.
24. Juni 2024
Von Helga Korff-Edel hielt Brigitte Reimann nicht sonderlich viel, vermutete dennoch zu Gunsten von Helmut Sakowski, sie könne nicht seine Geliebte gewesen sein, weil sie seinem Geschmack nicht entsprach. Genannte Helga wäre heute 100 Jahre alt geworden. Immerhin hat sie ein Buch geschrieben mit dem Titel „Übers Land mit Sakowski“, während er kein Buch schrieb mit dem Titel „Unterwegs mit Helga“. Sie war, solange er lebte, die Gattin von Peter Edel, der mit „Die Bilder des Zeugen Schattmann“ ein bisschen in die DDR-Geschichte einging, und überlebte ihn um 28 Jahre, wiewohl sie nur drei Jahre jünger war als er. Die für 10 Uhr angekündigten Mäharbeiten haben 12 Uhr noch nicht begonnen. Obwohl alle Parkplätze geräumt sind, selbst die, die sonst nie geräumt werden aus Protest gegen die Weltordnung. Ich sichte jahrgangsweise den Bestand „Temperamente“ aus dem Keller und lese nebenher die eine oder andere Seite. Was man so alles für bedeutsam hielt!
23. Juni 2024
Die gestrige Wanderung zum Gipfel der 10.000 Schritte führte vorbei an: Himalaja-Bergknöterich, Punktiertem Gilbweiderich, Alpen-Schuppenkopf, Pfirchsichblättriger Glockenblume, Kronen-Lichtnelke, Weidenblättrigem Spierstrauch und Wiesen-Labkraut. Natürlich hätte ich keine davon erkannt, weshalb ich „Terra Incognita“, der Pflanzen-App der TU Ilmenau, unendlich dankbar bin. Eine Medikamenten-App für DDR-Produkte gibt es vielleicht auch, nur kenne ich sie nicht. Im weltweiten Netz wird die gute alte Titretta analgica, die man sich als Zäpfchen auch hinten rein schieben konnte, schon mal erzdumm Aspirin des Ostens genannt, was ungefähr so dämlich ist wie Harry Thürk den Konsalik der DDR zu nennen, wie es der „Spiegel“ verzapfte. Die einschlägige Kompetenz des Nachrichtenmagazin fasziniert immer wieder. Jedenfalls fraß, laut Brigitte Reimann Helmut Sakowski einmal sechs Titretta an einem Dezembertag 1968 und lallte anschließend lustig.
22. Juni 2024
Bisweilen lese ich, dass ein Buch, das keiner ist, sich beinahe so spannend lese wie ein Roman, was voraussetzt, dass Romane von Hause aus spannend daher kämen. Nie las ich, dass ein Roman, der auch keiner ist, sich so langweilig gebe wie der Festschriftenbeitrag eines Autors, der von sich als „der Verfasser“ spricht und meist ein Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte ist, der es nicht einmal schafft, eine suchmaschinenkompatible Überschrift zu finden. Weil ich es seit einigen Jahren weiß und durch die Brot- und Wurst-Arbeit für Zeitungen trainiert wurde, passende Titel zu finden, die eine bis vier Spalten möglichst solide füllen und außerdem weiß, wie enorm wichtig der erste Satz ist, weiß ich, dass ich doch kein ordentlicher Professor geworden wäre, nicht mal ein außerordentlicher wahrscheinlich. 1984 standen mir noch alle Wege offen, ein Jahr später waren sie vermauert, obwohl niemand die Absicht hatte, auch noch diese Mauer zu bauen. Lang ist es her.
21. Juni 2024
Der Schwiegervater wäre heute 102 Jahre alt. Ist das ein Konjunktiv? Vor 50 Jahren erkundigte er sich nach meinem unproletarischen Stammbaum und war mit den Auskünften zufrieden. 90 Jahre alt würde heute Wulf Kirsten, zu dessen 80. Geburtstag ich vor zehn Jahren schon schrieb. Damals lebte er noch: bei leidlicher Gesundheit. Ob er je las, was ich schrieb, ist mir leider nicht zugetragen worden. Der Kontrollblick auf die Zugriffe zeigt 2996, das sind 300 pro Jahr, die solide verkaufte Auflage einer normalen regionalen Literaturzeitschrift, in der alle sehr stolz sind, veröffentlichen zu dürfen, weil sie dann ein Belegexemplar bekommen. Unverträgliche Luft heute, wenn auch weder der mehrfach angekündigte Sturm noch das Gewitter uns erreichen. Die für Montag angekündigten Mäharbeiten begannen mit der ersten Phase auch hinter den parkenden Autos, wo sonst stets die Furcht vor Beschädigungen den Tatendrang der Mäher bremste. Verstehe diese Welt, wer es kann.
20. Juni 2024
Das ist ein Tag, an dem sich sagen lässt: wenn die Söhne 40 werden, haben die Väter ihren Zenit überschritten. Die Väter sagen Sätze wie: das ist heute genau 50 Jahre her, was die Söhne kaum beunruhigt. Ein Katerchen hat Einzug in die Familie gehalten, zehn Wochen alt und es heißt wie einige der berühmtesten Päpste hießen. „Textur“ heißt ein Buch, das heute in der Post war und mir die nicht erwartete Möglichkeit bietet, morgen doch noch ein paar Zeilen zu Wulf Kirsten zu schreiben. Zugleich bin ich zu Erinnerungen gedrängt, die bis in die Studienjahre reichen. Der Fußball nimmt uns mehr Zeit als wünschenswert, er raubt sie aber nicht. Am Morgen die Fahrt zum Zahnarzt, große Zahnreinigung mit Rechnung, der Röntgenblick auf die Implantate befriedigend: keine erkennbaren Probleme. Seit 20 Jahren dieser Zahnarzt, auch hier ist die Zeit im Rasen. Im Oktober sehen wir uns wieder. Die AOK macht mir eine Kopie, die ich online einreichen darf.
19. Juni 2024
Draußen sieht es nicht wie Sommer aus, alles neblig, feucht, unangenehm. Der Sommer beginnt eben erst morgen offiziell. Die Unwetter haben uns verschont. Morgenlektüre „Vater und Lehrer“ von Manfred Bieler, ein Hörspiel im kanariengelben Gefieder des Stuttgarter Reclam-Verlages. Der von mir voreilig als lobenswert gesehene Band „Kahlschlag“ des Aufbau-Verlages ist bezüglich Bieler geradezu armselig. Vielleicht gab es keine besseren Aussagen zu ihm, keine klaren auch in den Dokumenten. Meine beiden alten Broschüren vom 11. Plenum 1965 verbessern die Kenntnisse nicht. Honeckers Aussagen zu Büchern, Filmen und Gedichten von geradezu heroischer Albernheit, zu Biermann zudem peinlich verlogen, wenn man weiß, dass Gattin Margot schützende Händchen über den Verbrecher Biermann hielt. „Das Selbstbelügen ist noch stärker in uns verwurzelt als das Belügen anderer. Das Belügen anderer ist lediglich die Folge des Selbstbelügens.“ So Dostojewski.
18. Juni 2024
Nicht weniger als acht Bücher von Isaac B. Singer las ich vor zwanzig Jahren innerhalb von knapp zwei Monaten, „Der Fatalist“ war der vierte Titel, beendet am 18. Juni 2004. Ich gewann einen völlig neuen Blick auf das Ostjudentum, gekoppelt mit dem Ehrgeiz, den Singer möglichst komplett zu besitzen. 30 Titel von ihm stehen heute bei mir, es gibt nicht sehr viele Autoren, die noch stärker vertreten sind. Viel Zeit ging heute an eine meiner schwer zugänglichen Regalreihen: ich sortierte neu nach voraussichtlichem Bedarf mit Blick auf diverse Autoren der DDR-Literatur. In kleinen Portionen treibe ich „Liebes- und andere Erklärungen“ voran, durchforste meine Anthologien, wo wer vertreten ist. Lese ein Nachwort zu Wassil Bykau, dessen 100. Geburtstag morgen ist. Präsent ist sofort mein erster und einziger kurzer Aufenthalt in Minsk und Belorussland 1987. Präsent ist sofort die unfassbare Geschichtsvergessenheit in Deutschland, Lukaschenko dient als Alibi dafür.
17. Juni 2024
Zeitig schon beim Augenarzt, ich benötige ein Rezept, um meine neue Brille mit einem Zuschuss der Krankenkasse zu bezahlen. Anschließend sofort zum Optiker, es sind fast 250 Euro weniger, die ich auf den Tisch des Hauses legen muss, Kartenzahlung möglich. Es regnet fast durchgehend. Ich nutze seinen heutigen 100. Geburtstag für ein paar Zeilen über Gotthold Gloger. Diese Jahrgänge interessieren mich ausnahmslos, es sind die meiner Eltern und Schwiegereltern, es sind Autoren, mit denen ich aufwuchs als Kind, als Jugendlicher, von denen ich viele später nie wieder las. Heute aber verraten sie mir manches über damals und mich mittendrin. Die Nachrichten melden uns große Zahlen illegal Einreisender, große Zahlen vollstreckter Haftbefehle. Es gibt keinerlei Hintergrund dazu. Heißt das etwa, in Zeiten ohne Kontrollen reisen ganze Armeen illegal ein, darunter massig gesuchte Kriminelle? Mich würde das interessieren. Die Medien kämpfen lieber gegen die Rechten.
16. Juni 2024
Lange noch auf dem Balkon gestern, spät in Richtung Zoologischer Garten fliegende Reiher am Abendhimmel. Überall die neuen Schilder: Keine Kartenzahlung möglich. Berlin und das ganze große Deutschland befinden sich getreu ihrer genialen Hochtechnologiestrategien auf dem Rückzug aus der Moderne ins Zeitalter der Zollgrenzen mit Münz-Diversity. In zahlreichen rückständigen Ländern kann man Eis, zwei Brötchen oder die Toilette mit Karte bezahlen, in Deutschland greift die Vorbereitung zum Finanzamtsbetrug Raum. Die Heimfahrt ohne alle Störungen und Zeitverluste mit allen neuen Ambrosetti-Bieren. Ein Lager aus Wien dabei, eben erst neu ins Sortiment geraten und noch nicht eingescannt. „Wir aus der 2a“ ins Register geschrieben, die vier neuen Bücher aus dem Antiquariat Düwal gestempelt. Der Rhabarber vom Markt auf dem Karl-August-Platz muss bis morgen warten, hier gibt es schon seit Wochen keinen mehr. Es fehlen noch frische Erdbeeren.
15. Juni 2024
Das ist der typische Berliner Tag: 14.863 Schritte am Ende, auch gestern mehr als 12.000. Im Zug schon diverse Kroaten auf dem Weg zum heutigen Spiel, Spanier dann natürlich auch, aber noch wenig wildes Gebrüll auf dem Hauptbahnhof und den anderen. Sicherheit scheint das wichtigste bei dieser EM zu sein. Als wir von der Siegessäule her Richtung Fanmeile laufen, sehen wir bald, dass es da Hürden gibt, die kaum übersprungen werden können: Rucksäcke ab einer gewissen Größe gehen nicht, auch geleert und zusammengerollt nicht. So muss sich die Familie trennen. Enkel, zwei Großväter, eine Oma marschieren den Weg geradeaus, der Rest muss außen herum laufen Richtung Brandenburger Tor, wo wir uns schließlich am Adlon wieder vereinen. Schweizer sehen wir kaum, die sich über ihren Sieg freuen, dafür stehen überall leere Flaschen und Büchsen, Pfandsammler haben heute einen der Tage des Jahres, falls sie genügend große Transportsäcke bei sich führen.
14. Juni 2024
Unsere gesamtdeutschen Russlandexperten wissen natürlich, welche Gemeinsamkeit zwischen Lenin und Putin besteht. Kleiner Tipp: der Vorname. Ja, sie sollten das „Beherrsche die Welt!“ im Namen tragen: Wladimir – wladi mir. Eine Aufforderung gewissermaßen. Wir Deutschen nennen die Söhne nie so ähnlich, früher griffen wir gern zu Fürchtegott oder gar Gotthold, Gottfried ging auch gern über die Theke. Wladimir Solouchin wäre heute 100 Jahre alt, wenn er nicht schon am 4. April 1997 gestorben wäre. So darf man retrospektiv an ihn denken, wohlwollend wie ich, weil ich gerade erst sein „Das Urteil“ las oder voller Verachtung, weil er ein Russe war. Kürzlich hielt ich ein Buch in den Händen, das aus dem Serbokroatischen übersetzt war. Entsetzt war ich nicht, denn solches las man früher öfter. Dann aber: Serben und Kroaten in einer Sprache vereint? Da haben es die Russen und die Ukrainer besser: Russoukrainisch gab es nie. Dafür die Kiewer Rus. Na also.