Tagebuch
3. Juni 2024
Nachtrag: Vor 100 Jahren starb Franz Kafka und weil alle damit befasst sind, halte ich mich erst einmal zurück. Mein Programm ist heute ohnehin ein völlig anderes, ich halte es mit den gestern erwähnten Drohnen: faulenze, greife nicht einmal mich selbst an, weil im Programm eine siebzig Minuten lange Massage enthalten ist. Aber erst morgen. Heute nach dem Frühstück die Therme. Gestern sahen wir noch die Reste des Stadtfestes, das Heimatmuseum auch. Ich kaufte eine uralte Broschüre zum freundlichen Preis von fünf Euro, Titel „200 Jahre Friedrich Rückert“ aus der Reihe „Schriften des Rodacher Rückert-Kreises“, drin ein Beitrag meiner lieben alten Kollegin Margarete Braungart, die ich oft in Meiningen im Schriftstellerverband des Bezirkes Suhl traf. Es gibt einen nach ihr benannten Literatur-Preis seit einigen Jahren, Preisträger sind mir dennoch keine bekannt. Dass an Kafkas Todestag Günther Rühle geboren wurde, sagt mein unerschöpflicher Datenkalender.
2. Juni 2024
Eigentlich sollte es heute nach Zakopane gehen, fünf Übernachtungen, ein schönes und vor allem für uns völlig neues Programm. Zu wenig Interessenten aber, also Absage der Reise, Rückzahlung des bereits überwiesenen Geldes. Angebotene Alternativen wiesen zu viel Bekanntes aus, sodass wir kurzfristig auf vollkommen Bekanntes umschalteten, weswegen hier ein paar Tage Schweigen walten werden. Solide deutsche Überschwemmungen haben ein enormes Nachrichtenpotential, wie wir sehen durften, Kriege und sonstige auswärtige Katastrophen mussten sich hinten anstellen. Die lieben Ukrainer dürfen nun endgültig tun, was sie die ganze Zeit schon wollten. Das kenne ich noch aus der NVA-Philosophie: wir hätten den Gegner auf seinem eigenen Territorium vernichtet, ehe er dazu gekommen wäre, uns überhaupt ordentlich zu überfallen. Die Zeiten ändern sich, Drohnen hatten wir nur in unseren Bienenvölkern, sie waren faul, verriet einst mein Lieblingskinderbuch.
1. Juni 2024
Fast 46 Jahre ist es her, dass ich nach Lektüre dreier Werke von Helmut Sakowski in Berlin und in Pennewitz 26 Seiten in meine gute alte Schreibmaschine hämmerte, die nun als Typoskript einer späten Verwendung harren. Davor sah ich natürlich „Wege übers Land“, natürlich auch „Daniel Druskat“. In den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen der Brigitte Reimann lief mir der bekannte Name später immer wieder über den Weg. Sie schrieb ihn gern mit zwei l: Hellmut. Und einmal nannte sie auch Sohn Frank Sakowski, der in meinem „Kulturschock NVA“ eine Rolle spielt. Heute nun ist der 100. Geburtstag. Von den erstaunlich vielen Büchern, die nach 1990 noch entstanden, besitze ich keins, dafür „Die Entscheidung der Lene Mattke“ gleich mehrfach. An Sakowskis 30. Geburtstag 1954 starb in Dresden Martin Andersen Nexö, der Däne, von dem sechs Bücher zu den Beständen meiner Eltern gehörten, fünf weitere, keine Dublette dabei, noch heute bei mir stehen.
31. Mai 2024
Noch ist das Unwetter nicht über uns gekommen. Vielleicht sollte man seinesgleichen immer sehr intensiv ankündigen, damit es nicht kommt. Vielleicht ist es wie mit dem Schirm, wenn ich ihn mit mir führe: dann regnet es nie. Ohne Schirm aber werde ich sogar nass, wenn ich nur einige Pfund Prospekte in die Papiertonne werfen gehe. Noch immer klebe ich an Sakowski, das zweite Hörspiel heute von ihm: „Die letzte Hochzeit“. Erinnerung an ganz frühe Jahre: täglich Hörspiel. Später die Missbilligung meines Teilzeitfreundes Biskupek, dass ich dem Rundfunk mein Ohr nicht schenke und damit auch sein Schaffen nicht wahrnehme. Nicht einmal meinen eigenen O-Ton hörte ich, den er mir abnahm auf sein Band. Irgendwas mit Residenzstädten war es, ich sprach darüber, dass in Ilmenau nie jemand residierte. Weil morgen auch der 100. Geburtstag von Viktor Astafjew ist, den ich ignorieren muss, obwohl ich eine Roman-Zeitung von ihm besitze, verrate ich das heute schon.
30. Mai 2024
Weltuntergang ist heute nicht, dafür aber der Geburtstag von Franz Held. Das wiederum wäre nicht erwähnenswert, weil heute weder rund noch eckig. Da der Zufall will, dass ich eben eine kleine Erinnerung von Wieland Herzfelde las, der wiederum bekannte, die anlässlich des 50. Geburtstages von Held 1912 erschienene Ausgabe „Ausgewählte Werke“ hätte ihn recht eigentlich zur Literatur geführt, sehe ich nach: Franz Held hieß Franz Herzfeld, war der Vater von John Heartfield und Wieland Herzfelde. Er verließ mit seiner Frau, der Mutter, im Sommer 1899 seine vier Kinder, die beiden genannten darunter und ward nie wieder gesehen. 1912 war er schon vier Jahre tot. Und ich lobe den Zufall, der mich ausgerechnet am 162. Geburtstag des Rabenvaters auf diese Geschichte führte. Währenddessen will wieder einer einen Arzttermin bei mir haben, wieder einer will mir eine kostenlose Beratung für eine tolle Photovoltaikanlage angedeihen lassen. Nieder mit dem Festnetz!
29. Mai 2024
Vor 100 Jahren starb Albert Köster, was in meinem Kalender nur deswegen gelandet ist, weil ich von ihm ein Büchlein „Klopstock und die Schweiz“ las vor knapp einem Jahr. Köster war in Berlin Nachfolger von Erich Schmidt, bei dem wiederum Arthur Eloesser Vorlesungen gehört hatte. Den 150. Geburtstag von Gilbert Keith Chesterton lasse ich mir nur sehr ungern entgehen, es geht aber nicht anders. Immerhin zitiere ich dies von ihm: „Die meisten Leute sagen entweder, dass sie mit Bernhard Shaw einer Meinung seien, oder dass sie ihn nicht verstehen. Ich bin der einzige Mensch, der ihn versteht, und nicht seiner Meinung ist.“ Ein Shaw-Buch mit diesem Vorwort muss man ganz einfach lesen und ich werde es tun, sobald die Zeit Luft dafür lässt. Optiker-Termin heute mit dem Auftrag für eine neue Brille endend. Dazu benötige ich jedoch ein Rezept, damit die Krankenkasse zuzahlen kann. Das wird morgen den Vormittag kaputt hacken, muss aber sein des Geldes wegen.
28. Mai 2024
Drei Soldatenfriedhöfe, zwei Gedenkfeiern an einem Tag, eine ergreifend, eine wegen seltsamer Störeffekte gar nicht. Seltsame Gedenkkultur. Man kann sich eine kleine Kirche kaufen, an der ein kleiner Fallschirmspringer hängt: wie an der wirklichen Kirche, wo der Amerikaner hängen blieb, jetzt durch eine Attrappe ersetzt. Das vor zwanzig Jahren. Überall schon Vorbereitungen für die große D-Day-Feier. Auf einem der Friedhöfe viele Engländer mit dem Todesdatum 6. Juni 1944. Es war ein fürchterliches Gemetzel damals. Ein deutscher MG-Schütze sagte einmal in einer Fernseh-Dokumentation: er habe wohl an die 3000 Angreifer erschossen, erledigt, ich weiß seine Wortwahl nicht mehr. Meine Fotos von damals sind zwar noch in einem Album gelandet, aber nicht mehr datiert und beschriftet. Heute weiter Sakowski, weiter Brigitte Reimann. Mit dem zweiten Band der Tagebücher komme ich morgen zum Ende, werde mir dann den Rest der Eltern-Briefe vornehmen.
27. Mai 2024
Auch in Herouville wohnten wir damals in einem Ibis Hotel, sahen vorher noch Honfleur, Trouville und Deauville, was Erinnerungen an diverse französische Filme weckte. Mein Tagebuch hält das armseligste Abendessen in einem Hotel seit Ewigkeiten fest. Für vier Abende kauften wir in einem Carrefour drei Flaschen Corbières, ich fand auch normannische Biere für die Sammlung. Heute 150. Geburtstag von Richard Schaukal, zehn Jahre weniger bei Max Brod, zwanzig Jahre weniger bei Dashiell Hammet, dazu noch ein Todestag für den alten Österreicher Fritz von Herzmanovsky-Orlando, der am 27. Mai 1954 nahe Meran in Südtirol starb. Die Wahlergebnisse von gestern halten unseren Oberbürgermeister sicher im Amt, unsere Landrätin muss in die Stichwahl für ihre nächsten sechs Amtsjahre. Beide werden ganz sicher Schwierigkeiten haben, irgendwelche halbwegs stabilen Mehrheiten hinter sich zu bringen. In Ilmenau hocken jetzt neun Listen im Stadtrat für 46 Sitze.
26. Mai 2024
Kleiner Rückblick: Vor 20 Jahren starteten wir von Mönchengladbach aus in Richtung Normandie. Zunächst im Auto nach Gladbach, Zwischenübernachtung. Dann zur nächsten in Rouen. In Rouen sahen wir mit französischem Kommentar das Champions League Finale in Gelsenkirchen zwischen dem FC Porto und dem AS Monaco, 3:0 für Porto am Ende. Der Reiseleiter vermutete in mir einen Tierarzt, er war ein Hauptmann der Reserve, der Trompetensignale bevorzugte. Im Kalender für heute Franz Pfemfert, der vor 70 Jahren starb und vor allem mit „Die Aktion“ zu Ruhm gelangte, und Charles Sealsfield, der vor 160 Jahren starb und einer der Lieblingsautoren meines Vaters war. Eigentlich hieß er Postl und war nicht verwandt mit den Postls in Mühlberg, mit denen ich als Kind spielte. Zum Wahllokal in der Ziolkowski-Schule ging es wegen der Langzeitbaustelle durch einen Nebeneingang. Nur vier verschiedenfarbige Zettel zum Ankreuzen, acht Kreuze insgesamt für uns.
25. Mai 2024
Sagen wir so: Tränen der Rührung rollen mir nicht in den Bart angesichts der 75 Jahre Grundgesetz, zumal mir Haupt- und Staatsnachrichten nahelegen, zu jener seltsamen Minderheit zu gehören, die diesem Grundgesetz einst entnahmen, das deutsche Vereintvolk habe sich eine Verfassung zu geben nach dem Ineinanderstürzen sämtlicher Schwestern und Brüder inklusive aller Diversen, von denen wir damals nicht ahnten, dass es sie gab. Als wäre es darum gegangen, etwas DDR hineintropfen zu lassen in den Urtext. Aus Unrechtsstaaten tropft es nicht. Aber: es hätte ein Anlass sein können für Denkprozesse, deren ausdauernde Abwesenheit wir heute durchaus bedauern, wenn es um die so genannte Bilanz geht. Es ist über weite Strecken Scheiße gelaufen und immer sind es Westdeutsche, die sich erregen, dass nicht alle alles so toll finden wie stets sie selbst. Immer noch sagt eine starke Masse tonangebender Figuren „dieses Land“, nicht „unser Land“, ähnlich wie am Ende der DDR.
24. Mai 2024
Fritz Martin Barber gehört nicht zu den auffällig vielen ehemaligen DDR-Autoren, die zwar 1954 geboren wurden, das Datum aber so geheim halten, dass weder Wikipedia noch sonst eine Quelle den Feierbiestern unter uns erlaubt, ihnen zu ihrem 70. Geburtstag öffentlich oder intern ein langes Leben zu wünschen. Bei Barber, der heute 70 würde, käme der Wunsch ohnehin zu spät, er ist am 28. Dezember 2021 bereits gestorben, nach der leider so häufigen langen schweren Krankheit. Bei mir steht Barber mit seinem Poesiealbum 234 neben Gabriele Eckart. Zweimal war ich mit ihm in einem Buch: in „Offene Fenster 4“ und „Offene Fenster 5“, einmal sogar auf einer Druckseite (156). Ob ich ihn auf einem der beiden Poetenseminare traf, an denen ich teilnahm, 1974 und 1975, weiß ich nicht mehr. Ich war bei Gerd Eggers und Martin Viertel im Seminar, mit beiden wäre heute kaum Prestige zu gewinnen. Doch ist jenseits der 70 das Prestige unter den überschätzten Größen.
23. Mai 2024
Gut ein Jahr ist es her, dass ich in den Tagebüchern von Brigitte Reimann den Jahrgang 1968 las, ebenso in den Briefen, die sie an ihre Eltern schrieb. Heute steige ich in den Jahrgang 1969 ein, viel folgt dann nicht mehr. Zu Ende bin ich mit „Franz Kafka“ von Franz Baumer, ein wenig über Kafka liegt noch umher, worin ich lesen werde, vor allem in „Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten“, das ist hundert Jahre später höchst interessant. Meine neue Magen-Tablette am Morgen nüchtern, mal schauen, was sie bewirkt. Vom Aussetzen einer meiner sonstigen fünf Morgentabletten für eine ganze Woche keinerlei Wirkung. Es ist die einzige, für die ich kein Rezept benötige. Vor 30 Jahren Besuch des Buchautors Franz Rittig bei mir, ich war für Verleger und Autor so etwas wie der Lektor und Korrektor. Auch Verfasser des Klappentextes, der bis heute der einzige blieb, den ich schrieb. Der Verleger ist in die Anonymität entschwunden, nachdem er aus Ilmenau gen Harz zog. Schade.