Arthur Eloesser: Charlotte Birch-Pfeiffer

Otto Reutter, es mag Menschen geben, denen dieser Name noch etwas sagt, sang in äußerst grauen Vorzeiten Couplets, es mag Menschen geben, die noch wissen, was das war. Das war ansteckend, andere eiferten ihm nach, wieder andere hatten ihm vorgeeifert, worüber selten Magisterarbeiten geschrieben werden. Hier hat er nur einen Gastauftritt, weil er in meinem Bücherregal unmittelbar neben Arthur Eloesser steht. Das wiederum hat ordnungspolitischen Sinn, denn er war kaum fünf Wochen jünger als Eloesser, beide des Jahrgangs 1870. Als Reutter während einer Tournee in Düsseldorf starb, war er fast 61 Jahre alt. Die Zeit, in und an der Arthur Eloesser starb, blieb ihm erspart. Den jungen Ruhm von Erich Kästner aber, den hat er, den haben beide noch erlebt. Und Kästner wiederum, dessen 50. Todestag im vergangenen Jahr etwas mehr als das übliche Rauschen im Blätterwald erzeugte, der schrieb im Jahr 1930 „Sogenannte Klassefrauen“. All denen, die allem Anschein entgegen dann doch nicht so richtig wissen, worum es da geht, half Ari Sunshine final auf die Sprünge. Sie macht es sich zur Aufgabe, Frauen über 40 zu animieren, wozu ihr bürgerlicher Name Ariane Möller wohl zu bürgerlich ist. Sie zitiert „Sogenannte Klassefrauen“ in voller Länge.

Und zwar in ihrem Blog, von dem weder Eloesser, noch Reutter noch Kästner gewusst hätten, was das eigentlich ist. Der allzu früh verstorbene Humorschriftsteller Matthias Biskupek zum Beispiel nannte meine Internetseite, meine Homepage, die ich nur mein Feuilleton nenne, Blog. Zu RTL oder NDR hat mir das nicht verholfen. Aber zu einem Forschungsprojekt, dem ich nun schon einige Jahre allerhand Zeit widme: Arthur Eloesser. Der schrieb 1900 „Charlotte Birch-Pfeiffer. Zu ihrem hundertsten Geburtstag“ für BÜHNE UND WELT. Zeitschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik. Amtliches Blatt des Deutschen Bühnen-Vereins, 2. Jahrgang 1899/1900, II. Halbband. Dass hätte ich vermutlich nie oder sehr viel später erfahren, wenn mich nicht Volker Wetzel (Berlin-Lichtenberg) darauf aufmerksam gemacht hätte. Charlotte Birch-Pfeiffer? War da nicht was, war da nicht was mit Urin, mit Terpentin? Natürlich war da was. Mein selektives Gedächtnis hat aus dem DDR-Deutschunterricht wenig gespeichert, das aber unauslöschlich: Heinrich Heine und sein „Deutschland. Ein Wintermärchen“. Die Lehrerin entschlüsselte uns, dass Caput so etwas wie ein Kapitel bedeutet und dann kamen halt auch Verse mit dem Namen Birch-Pfeiffer, kein Vorname.

Es ist Caput XI, in dem sich die vier Zeilen finden, die wohl die berühmtesten und bösartigsten sind, die je über Charlotte Birch-Pfeiffer geschrieben wurden: „Birch-Pfeiffer söffe Terpentin, / Wie einst die römischen Damen. / (Man sagt, dass sie dadurch den Urin / Besonders wohlriechend bekamen.)“ Womit der Sprung zu Erich Kästner gelungen wäre. Denn seine Klassefrauen sind willens und entschlossen, sich die Nägel blau zu hauen, die Haupt plissieren oder die Nasenflügel zunähen zu lassen, wenn, ja wenn es Mode wird. So sind Frauen natürlich nicht, weiß Expertin Ari Sunshine und gegen Expertinnen soll man nichts sagen, es wäre Diskriminierung. Bei Kästner aber steht gewissermaßen als überleitender Gag zu Heinrich Heine, dass die Klassefrauen auch bereit wären, ihr Bein an Laternen zu heben. Urin, Urin! Die beiden Vertreter des Jahrgangs 1870 sind, es sei eidesstattlich versichert, an allem unschuldig. Warum Reutter hier überhaupt erschien, siehe oben. Arthur Eloesser aber lieferte in seinem Beitrag zum hundertsten Geburtstag „der Birch“, wie er sie angelegentlich immer wieder einmal nannte, mehr als nur einen Versuch, der Person etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die vielen bis heute nur Unperson ist, nicht erwähnenswert.

Er stand sehr wahrscheinlich selbst am 23. Juni 1900 nahe am Grab der Birch-Pfeiffer. Das Grab findet sich auf dem Friedhof IV, Jerusalems- und Neue Kirche im heutigen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Eingang Bergmannstraße 45 – 47. In der Ordnung des Lexikons Berliner Grabstätten von Hans-Jürgen Mende hat dieser Friedhof die Nummer 02-13. Der Name Birch-Pfeiffer steht gleich auf der ersten Seite 118, der Autor gibt allerdings ein falsches Geburtsdatum an, den 23. Juni 1799, macht die Birch also ein Jahr älter. Auf diesem Friedhof fand übrigens auch Arthur Eloessers akademischer Lehrer Erich Schmidt seine letzte Ruhe, verstorben am 29. April 1913), er erreichte also nicht einmal seinen 60. Geburtstag. Wir wollen für einen Moment annehmen, dass Eloesser als Literaturhistoriker, nicht als Theaterkritiker, seine Urteile letzter Hand in seine beiden Bände „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ einfließen ließ. Was zugleich bedeutet, dass spätere Aussagen nicht eingeflossen sind. Im Fall der Charlotte Birch-Pfeiffer bleibt das spekulativ, es gibt außer den ganz frühen vor der Literaturgeschichte und auch nach ihr keine weiteren Äußerungen, immer mit der Einschränkung: soweit es das bisher erschlossene Material hergibt.

„Die Schauspielerin und Theaterdirektorin Charlotte Birch-Pfeiffer raubte dem Meister der Dorfgeschichte Berthold Auerbach das herzig schwäbelnde „Lorle“, wie sie auch die Grille der George Sand und die Waise von Lowood der Currer Bell auf die Bretter geschickt hat. Die Birch-Pfeiffer war die größte Beherrscherin der deutschen Bühne nach Kotzebue, aber die resolute Frau belieh nicht nur die beliebtesten literarischen Genres, sie griff auch mit beiden Händen ins Leben und setzte es mit einer unschuldig angeschminkten Rotbäckigkeit auf die Bühne; es gab keinen deutschen Stamm, den sie nicht kannte, keinen Dialekt, den sie nicht sprach, keine soziale Schicht, die sie nicht gutherzig bemutterte. Wenn ein Stück in Hamburg spielt, wird ansässiges Bürgertum und auswanderndes Proletariat flott kontrastiert, und wenn die Schwäbin, überall zu Hause, sich mit oberbayrischen Bauern abgibt, sieht man sie an Anzengruber schon näher als an Iffland.“ So steht es in Band II der Literaturgeschichte, verächtlich, gar vernichtend klingt das keineswegs. Eloesser benennt zwei Vorläuferinnen, Johanne Franul von Weißenthurn (16. Februar 1772 bis 17. Mai 1847) und Amalie von Sachsen (10. August 1794 bis 18. September 1870), sie schrieb als Amalie Heiter.

Ihre Wirkung auf das Theater des 19. Jahrhunderts in Deutschland ist jedoch nicht zu vergleichen mit der der Birch-Pfeiffer, „die dann in den vierziger Jahren die deutsche Bühne ihrem Großbetrieb unterwarf mit bürgerlichen Dramen, Volksstücken, Dialektstücken, mit ihrem resoluten bühnensicheren Zugriff, der bis zum Proletariat herunter und wiederum über alle Stände zu den Höhen der Gesellschaft hinauf gelangte.“ Die Vokabeln resolut und robust benutzte Eloesser öfter in Bezug auf die Birch, für die Heinrich Heine nichts als Verachtung übrig hatte. Was er über sie schrieb, wäre heutigen Feministinnen ein gefundenes Fressen, hätte er es nicht gerade auf die Birch angewendet. Denn die ist eine Unperson und wird nur erwähnt, wenn bestimmte Thesen zu stützen sind: „Das Rührstück einer Johanna Franul von Weissenthurn, Amalie Heiter d.i. Amalie Herzogin von Sachsen) oder Charlotte Birch-Pfeiffer war zwar als Kassenfüller und Virtuosenfutter geduldet, ja konnte, prestigearm, wie diese Theaterproduktion war, zu einer weiblichen Domäne stilisiert werden, für das „hohe Drama“ jedoch glaubte man, in Spielplänen wie dramaturgischen Schriften auf weibliche Einmischung verzichten zu können.“ Schrieb eine Michaela Giesing, Jahrgang 1952.

In einer der „Pariser Vorreden zu den Reisebildern“ schrieb Heine: „In der Literatur sah es am kläglichsten aus. Auf der Bühne blühten der larmoyante Houwald, der erzprosaische Müllner, der seichte Herr Raupach und die fette Madame Birch-Pfeiffer.“ Allein die Birch wird neben drei Männern ausschließlich auf Körperlichkeit reduziert. Adolf Müllner, Ernst Raupach und Ernst von Houwald, das verschweigt Heine, weil er die ganz große Zeit der Birch wegen eigenen Ablebens nicht mehr selbst erlebte, waren kaum so erfolgreich. In Zürich leitete sie über mehrere Jahre sehr erfolgreich das Theater, Friedrich Wilhelm IV., der Preuße, verlieh ihr den Professorentitel, was Frauen mitten im 19. Jahrhundert nun wirklich nicht übertrieben oft geschah. Den Lesern seiner „Romantischen Schule“ gab Heine mit auf den Weg: „Das Publikum verspeist mit Wonne des Herrn Raupachs dürre Erbsen und Madame Birch-Pfeiffers Saubohnen; Uhlands Perlen findet es ungenießbar.“ Wohl veröffentlichte 1877 ein gewisser Adelbert von Keller das Buch „Uhland als Dramatiker, mit Benutzung seines handschriftlichen Nachlasses“, auf deutschen Bühnen jedenfalls hat Uhland keine Rolle gespielt, von welchen Perlen er da redet, bleibt Heinrich Heines Geheimnis.

Ein bisschen was wusste Heine natürlich dennoch über Charlotte Birch-Pfeiffer: „Da die Franzosen höchstwahrscheinlich nicht wissen wer Madame Birch-Pfeiffer und Herr Raupach ist, so muss ich hier erwähnen, dass dieses göttliche Paar, geschwisterlich nebeneinander stehend, wie Apoll und Diana, in den Tempeln unserer dramatischen Kunst am meisten verehrt wird. Ja, Herr Raupach ist ebensosehr dem Apoll wie Madame Birch-Pfeiffer der Diana vergleichbar. Was ihre reale Stellung betrifft, so ist letztere als kaiserl. Österreichische Hofschauspielerin in Wien und ersterer als königl. Preußischer Theaterdichter in Berlin angestellt. Die Dame hat schon eine Menge Dramen geschrieben, worin sie selber spielt. Ich kann nicht umhin hier einer Erscheinung zu erwähnen, die den Franzosen fast unglaublich vorkommen wird: eine große Anzahl unserer Schauspieler sind auch dramatische Dichter und schreiben sich selbst ihre Stücke.“ Es ist verblüffend, wie ahnungslos sich Heine hier hinsichtlich der Theatergeschichte gibt, hinterließ er doch immerhin eine Abhandlung zu „Shakespeares Mädchen und Frauen“, bei mir in bester Erinnerung und das keineswegs nur wegen der beigegebenen Porträts. Den Franzosen kam vermutlich gerade hier nichts unglaublich vor.

Bei Arthur Eloesser fällt im Zusammenhang mit Birch-Pfeiffer Heines Name nicht. Ich unterstelle ihm Absicht: natürlich kannte er sowohl „Die Romantische Schule“ als auch „Deutschland. Ein Wintermärchen“. So könnte man den Schluss seines Jubiläumsbeitrags von 1900 als Replik auf Heine lesen: „Die Birch-Pfeiffer war ein Theaterkind, sie machte, was dem Publikum gefiel, und ihr Glück wurde ihr von weniger erfolgreichen Konkurrenten übel genommen. Sie gehörte zu der Klasse der selbst schaffenden Schauspieler und Direktoren, denen die selbstverständliche Beherrschung scenischer Mittel gegeben ist, zu jener Klasse, aus der wackere Dramatiker, wie Schröder und Iffland, und aus der die genialsten Menschenschöpfer Aeschylus, Shakespeare, Moliére hervorgegangen sind.“ Natürlich vergleicht der Kenner der Theatergeschichte Charlotte Birch-Pfeiffer nicht mit den genialsten Menschenschöpfern, weiß aber aus der Erfahrung unzähliger Theaterabende, was es bedeutet, wenn ein Bühnenautor die Bühnenmittel seiner Zeit beherrscht. Nicht wenige große Genies wussten es eben nicht, weil sie nie lebendigen Kontakt zu einer lebendigen Bühne hatten, was den Stücken an Tiefe nichts nahm, an Spielbarkeit bisweilen viel.

Franz Brümmer (17. November 1836 – 30. Januar 1923) hielt es für unter seine Würde, die Birch-Pfeiffer auch nur zu erwähnen in seinem „Lexikon der deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts“ (Reclam Leipzig), weder im ersten Band noch im Nachtrag zum ersten Band kommt sie vor. Dem Theaterhistoriker Arthur Eloesser war es selbstverständlich, ihr in seinem Buch „Das Bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“, Berlin. Verlag von Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung) 1898 einen gebührenden Platz zuzuweisen. Was dort gegen Ende des Textes zu lesen ist, kommt bisweilen nahezu oder ganz wörtlich im Jubiläumsbeitrag zum 100. Geburtstag von Charlotte Birch-Pfeiffer wieder. Eloesser konnte sich in aller Regel auf seine eigenen Formulierungen und Charakteristiken verlassen, auf sein Gedächtnis und sein Archiv sicher auch, was um 1900 natürlich noch leichter fiel als dreißig Jahre später. „... sie scheitert niemals wie größere Genien an den eigentümlichen Forderungen des Theaters.“ Das wussten 50 Jahre früher schon Gottfried Keller und Hermann Hettner, wie man ihrem Briefwechsel entnehmen kann, Keller blickte dabei vor allem auf Berthold Auerbach, bei dem sich Birch-Pfeiffer einmal direkt bediente.

„Wenn die Prinzessin von Sachsen, die nur einige gänzlich unbeachtet gebliebene Ausflüge in das Romantische Land gethan hat, sich in der Enge des häuslichen Lebens wohl sein lässt, und wenn ihre Stücke gerade nach den lyrischen Süßigkeiten als einfache Kost willkommen waren, so entsteht in Charlotte Birch-Pfeiffer eine Beherrscherin der Bühne, der es ähnlich wie Kotzebue gegeben war, alle Instinkte des Publikums zu befriedigen und ohne jede Beschränkung durch das Genre in einer unabsehbaren Vielseitigkeit ihre dramatische Tätigkeit zu entfalten. Ihre Beweglichkeit, ihre Emsigkeit kennt keine Grenzen.“ So Eloesser 1898. 1900 dann: „Ihr, der größten Beherrscherin der Bühne seit Kotzebue, war es gegeben, alle Instinkte der Masse zu befriedigen und ohne jede Einschränkung in ein Genre eine unabsehbare und fast immer erfolgreiche Vielseitigkeit zu entfalten. Ihre stärksten, noch heute nachwirkenden Erfolge hat sie auf dem Gebiete des bürgerlichen Rührstücks erzielt, aber der dramatische Großbetrieb, den sie eröffnete, hat alle oben bezeichneten Gattungen und Spezialitäten umfasst“. Sie war ein halbes Jahrhundert erfolgreiche Schauspielerin, Autorin, Regisseurin und Theaterleiterin in einer Männerwelt und Männerzeit.

Wirklich hoch anrechnen will ihr das noch heute kaum jemand. Allenfalls, wenngleich etwas verdruckst, versuchte es Doris Maurer 100 Jahre nach Arthur Eloesser. Bei dem steht: „In einer glücklichen Verbindung von Routine und Naivetät scheint sie nicht erst für die Aufführung zu schreiben, sondern jedes Drama gleichsam als fertige Vorstellung mit allen Mitteln der Inscenierung sich abspielen zu sehen. Ihre Stücke gehen nicht erst den Weg vom Manuskripte durch die Hände der Dramaturgen, Regisseure, Schauspieler zur Bühne, sie sind gleichsam auf den Brettern entstanden“. Und: „An der Produktion der Birch-Pfeiffer, die alle Gattungen von der burlesken bis zu heroischen und romantischen umfasst, hat das bürgerliche Genre der Zahl nach keinen überragenden Anteil, es tritt nur in dem Verhältnis auf, in dem es zum allgemeinen Repertoire der Zeit steht, wie ja das Schaffen dieser Schriftstellerin ein getreues Spiegelbild aller dramatischen Bestrebungen der Epoche ist.“ Allein deshalb, wäre zu folgern, kann sie nicht einfach aus der Geschichte der Literatur, des Theaters, der Bühnen des 19. Jahrhunderts ausgeklammert werden. In einer Geschichte von Frauenleben im 19. Jahrhundert beansprucht sie zweifelsfrei einen Ehrenplatz.

Dass Dramatisierungen vorhandener Texte ihre größten Bühnenerfolge wurden, ist an Zahlen ablesbar. Und das gilt keineswegs nur für Stadtrandtheater oder auf Unterhaltung spezialisierte Häuser. Birch-Pfeiffer feierte ihre Triumphe ebenso am Burgtheater in Wien wie am Königlichen Schauspielhaus in Berlin, in Zürich oder Hamburg. „Aber auch die Stücke selbständiger Erfindung sind nicht ohne Glück, sie zeichnet modernes Leben mit großer Gegenständlichkeit, sie findet den angemessenen Ausdruck für die Verschiedenheiten der deutschen Stämme und Landschaften, sie weiß, im Besitze reicher menschlicher Erfahrung, jeder Szene die entsprechende Atmosphäre, jeder Person nach Amt, Rang, Herkunft die gehörige Prägung zu geben. Sie kombiniert in erfinderischer Weise Situationen, die über den Rahmen des häuslichen Lebens hinausgehen und Personen verschiedener Abstammung, entgegengesetzter Lebensbildung und Anschauung zu Kontrastwirkungen zusammenzuführen.“ Eloesser sah 1898 entsprechend seines Themas vor allem auf das in seinem Sinne bürgerliche Genre und registrierte in dessen Entwicklung sehr genau, was sich an Änderungen neu zeigte und hatte so eben auch ein Auge für Leistungen der Birch-Pfeiffer.

„Sie hat sein Niveau durch die Annäherung an das Volksstück etwas tiefer gelegt und neue Schichten in die Beobachtung gezogen, sie hat durch die Berührung mit dem Dialektstück ihren Figuren eine stärkere Ursprünglichkeit, landschaftliche Eigentümlichkeit gegeben, sie hat durch allerdings sehr naive und loyale Anspielungen auf die revolutionäre Gährung diesem Genre auch einen zeitgeschichtlichen Hintergrund gegeben und es nicht ganz in der abgeschlossenen Enge häuslichen Lebens verkommen lassen. Sie hat die bürgerliche Gattung konserviert, indem sie ihr durch Ausnutzung aller Bühnenmittel und durch Ausbeutung aller literarischen Neuerungen ein stärkeres Kolorit und eine größere Gestaltenfülle gab.“ Eloesser greift als Beispiel die Gestalt des Pfarrers auf die Bühne heraus, die vor Birch-Pfeiffer streng genommen gar keine war, auch wenn gelegentlich Pfarrer auf der Bühne agierten. „Der Figur des Pfarrers ist die Neuheit der Erfindung nicht abzusprechen, sie weist auf ähnliche Figuren in Anzengrubers „Pfarrer von Kirchfeld“ und Sudermanns „Heimat“ hin. … Hier steht der Geistliche selbst im Mittelpunkt des Stückes als der Liebende, der Kampf zwischen Pflicht und Neigung“. Birch-Pfeiffer also eine Art von Pionierin?

Das ist viel weniger absurd, als es zunächst scheint. Arthur Eloesser wusste schon 1900: „Der Kritiker braucht sich mit ihnen nicht mehr auseinanderzusetzen, der Historiker muss die Zeit, die sie hervorbrachte, und das Publikum, das ihnen zujubelte, zu verstehen suchen.“ „Ihre dramatischen Bilder sind immer illusionsfähig genug, um wenigstens für die Dauer eines Theaterabend vor den Augen der Menge stand zu halten.“ „Aber nicht nur diese Glanzrollen sind so reich ausgestattet, man wird in ihren sämtlichen Stücken kaum eine Nebenrolle finden, die nicht mit einem hübschen kleinen Effekte versorgt ist. … Ihre mütterliche Phantasie hat wohl bevorzugte, aber keine Stiefkinder. Dafür müsste ihr das Völkchen der Schauspieler dankbar sein. Zum 100. Geburtstag am 23. Juni 1900 war es das Völkchen auch. Eloesser sah: „Die Gräfin Prokesch-Osten, als Friederike Gosmann die berühmteste Darstellerin der „Grille“, hatte ein reiches Blumengewinde niederlegen lassen, und wenn alle Künstlerinnen, die der toten Dichterin laute und breite Erfolge verdanken, diesem Beispiel der Verehrung gefolgt wären, dann hätte sich über die Ruhestätte der viel verspotteten Birch-Pfeiffer eine recht stattliche Pyramide von Blumen und Kränzen erhoben.“

Andere legten ihre Gebinde eher in Schriftform nieder: „Einige alte Berliner entsannen sich in Nachrufen des originellen, gastlichen Heimes in der Krausenstraße, wo nicht nur ihre schauspielerischen Kollegen und Kolleginnen Döring, Dessoir, Liedtke, die Frieb-Blumauer und Marie Seebach verkehrten, wo sich auch angesehene Schriftsteller, wie Gustav Freytag, Gustav von Putlitz, Julius Rodenberg, und Komponisten wie Meyerbeeer und Wilhelm Taubert, um den gemütlich summenden Theekessel versammelten, und sie widmeten der guten „Mutter Birch“ ein paar freundliche Worte der Erinnerung. So hatte die rüstigste aller Vielschreiberinnen wenigstens an ihrem hundertsten Geburtstag das, was der Franzose bonne presse nennt.“ Leider verrät Arthur Elosser nicht, wann und wo er sich eine Aufführung von „Der Leiermann und sein Pflegekind“ anschaute. Nur dass er es tat, ist sicher. Schiller-Freunden wird um 1900 vielleicht die Information neu gewesen sein, dass der 1804 erblindete Vater von Charlotte Birch-Pfeiffer Mitschüler Schillers an der Karlsschule war. Ihm las die Tochter vor, als Vorleserin lernte sie schon in jungen Jahren.

Bevor Arthur Eloesser Ende 1899 ins Theaterressort der „Vossischen Zeitung“ eintrat, war dort Theodor Fontane tätig, spezialisiert auf das Königliche Schauspielhaus, was ihm vieles erleichterte, manches sicher auch erschwerte. Unter die Erschwernisse darf man rechnen, dass er bestimmte Inszenierungen, die er gut kannte, nur deshalb immer neu besuchen musste, weil es ein Gastspiel zu sehen gab. Zwischen 1872 und 1888 verfasste Fontane nicht weniger als 27 Kritiken zu acht verschiedenen Stücken der Birch-Pfeiffer. Man spielte sie am Königlichen Schauspielhaus zu jeder Jahreszeit, in jedem Monat außer im Juli und August, wenn das Theater Sommerpause machte. Es ist anzunehmen, dass Eloesser die späteren dieser Kritiken noch gesehen hat. Wie bewusst er sie wahrnahm, ist nicht zu sagen. Aber für seine Abhandlung zum bürgerlichen Drama hat er ganz sicher zeitgenössische Besprechungen führender Berliner Blätter konsultiert. „So hat sie im „Leiermann und sein Pflegekind“, das Handwerk, das Kleinbürgertum sehr greifbar auf die Bühne gestellt, sie schildert die Hafenstadt … und den bildungsstolzen, leichtfertigen Berliner, dessen Phantasie durch die Leihbibliothek verdorben ist.“ Das klingt dann doch wie selbst gesehen.


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