Tagebuch

24. Oktober 2023

Vor zwanzig Jahren las ich in Frankreich Hans Carossas „Aufzeichnungen aus Italien“, darunter „Mittag in Neapel“ und „Brief aus Florenz“. Carossa befürchtete, Italien könne nach dem Krieg den Deutschen nicht mehr zugänglich sein. Das ist nicht so gekommen. Ich war 2003 bereits zum 15. Male in Italien seit 1991. Nummer 30 wäre jetzt eben gewesen, wenn es mehr Menschen mit Lust auf Genuss in Norditalien gegeben hätte. Schöner Satz von Carossa: „Ein Alt-Erfahrener kennt seine Zustände; durchleiden aber muss er sie dennoch.“ Mich ereilt heute mal wieder eine Impfung, ich wähle aus dem Repertoire den Grippeschutz, was mir im AOK-Bonusprogramm 500 Punkte bringt und am Abend ein Gefühl, als wäre ich vom Infekt zu Boden geschleudert. Portugiesischer Rosé-Wein mundet dennoch, zumal er leicht ist. Ich lief aus der Scheffelstraße über die Poliklinik bis nach Hause und brachte sogar einen Termin beim Orthopäden mit und Schritte fast ohne Ende.

23. Oktober 2023

Mein privater Literaturkalender für 2024 nimmt Form an. Würde ich tatsächlich zu allen Namen, die ich mir farbig markiert habe, im kommenden Jahr etwas schreiben, wäre Balzac gegen mich ein Waisenknabe an Produktivität. Der Vergleich kommt mir natürlich nur, weil auch Balzac markiert ist am 20. Mai, wo wir alle zusammen seinen 225. Geburtstag wahrscheinlich kaum feiern werden. Ich verrate, dass ich das „Maison de Balzac“ in der Pariser Rue Raynouard schon von innen sah, es explodierte etwas auf der anderen Straßenseite, Scherben klirrten, aber auf die Idee, es könnte ein Terroranschlag gewesen sein, kam ich damals nicht. War noch nicht so üblich wie heute. Die Linke findet es empörend, wenn die Ausgetretenen ihr Mandat nicht zurückgeben wollen, das sie doch nur haben wegen dreier Direktmandate. Sie besitzen Humor, denn die Nachrücker hätten natürlich mehr Recht, an die Fleischtöpfe zu rücken als die, die dort seit einer Weile den großen Löffel schwangen.

22. Oktober 2023

Gegen Putenoberkeule lässt sich wenig einwenden, sie stammt von einem zweibeinigen Tier, welches vermutlich die Grünen wählen würde, wenn es die doppelte Staatsbürgerschaft für Vögel gäbe, die nicht singen können. Aber die ist noch nicht erfunden. Ich pendle zwischen „Berliner Theater“ von Karl-Heinz Ruppel, Ausgabe 1943, und „Max Mell als Theaterkritiker“, während ich zwischendurch meine alten Notizen zu Eckart suche und sogar finde. Beim Ausschlachten alter CICERO-Ausgaben für mein Archiv stoße ich immer wieder auf feine Sächelchen, die sonst von der schreibenden Zunft großzügig umschritten werden. Ich sammle Sophie Dannenberg und freue mich, dass es Autorinnen gibt, die schon seit zehn Jahren keinen einzigen Roman mehr geschrieben haben. „Teufelsberg“ hieß ihr letzter, an den immer noch einmal im Monat erinnert wird, acht Jahre davor legte sie „Das bleiche Herz der Revolution“ aus der Hand. Ihre Kolumne heißt „En passant“.

21. Oktober 2023

Ich lese ein Buch mit dem leicht seltsamen Titel „Schrappel“. Gabriele Eckart hat es geschrieben, was mich freut, denn sie kann es als Geschenk zum langsam, aber sicher näher rückenden 70. Geburtstag sehen. Es sind nicht selten die besten Geschenke, die man sich selbst macht und bei Annäherung an diese vertrackten Runddaten steigt die Verführung zu Rückblicken rasant an. Ich verstehe das, blättere auch mit jetzt 70 immer öfter in alten Tagebüchern und schäme mich ein bisschen, dass mein guter Kontakt zu ihr ohne ersichtlichen Grund einschlief wie früher mein Vater, wenn er in einem Präsidium sitzen musste oder ich einmal im Präsidium bei einer Jugendfeuerwehr. Wenn ich das Buch durchgelesen habe, werde ich darüber schreiben, was ich sonst bei neuen und ganz neuen Büchern nicht mehr mache. Allein schon, weil sehr lange und intensive Vorarbeit sich nützlich machen kann. Am 21. Oktober 2003 waren wir in Meursault und in Pommard: Weintour.

20. Oktober 2023

Wenn sich tagelang ausdauernd Anzeichen verdichten, dürfen wir davon ausgehen, dass diese Anzeichen am Anfang ziemlich weit voneinander entfernt waren. Es ist ähnlich wie mit dem Druck, der sich erhöht. Ein Promotionsthema „Wie oft erhöht sich in öffentlich-rechtlichen Nachrichten der Druck?“ böte sich an. Jeden Abend erhöht sich irgendwo auf irgendwen oder irgendwas der Druck und am Ende müsste nach solchen Erhöhungen irgendwann ein Knall vermeldet werden oder der Riss, in diesem Fall jedoch nicht in der Schüssel. Selbst bei der Sturmflut an der Ostsee werden Vermutungen darüber angestellt, wie enorm der Druck sein muss von der Wasserseite her, bis der Pegel um einen vollen Meter steigt. Vor einem Jahr beging niemand den 200. Todestag von Johann Heinrich Voss, obwohl der doch nun wirklich viel Druck auf den Hexameter ausübte, um ihn dem Deutschen anzuverwandeln. Heute ist er nun schon wieder 201 Jahre tot, weiß der Goethe-Geier.

19. Oktober 2023

Während ich genusserpicht am 14. Oktober in der Hotelsauna lümmelte und den Stirnschweiß auf mein Knie tropfen ließ, starb in Berlin Klaus Höpcke, was ich erst heute erfuhr aus einer Zeitung, die ich nur zweimal im Jahre lese: wenn Buchmesse ist. Nun denn, meine Trauer hält sich in recht überschaubaren Grenzen, aber mir fällt ein, dass ich ihn einmal selbst erlebte. Es war in Erfurt und er schulte uns, die wir uns für Schriftsteller hielten. Wir hörten von ihm über die Verlogenheit von Erich Loest, der immer behauptete, nicht gedruckt zu werden. Höpcke fütterte uns mit gigantischen Auflagezahlen, die Loest als Loest und unter seinen drei Pseudonymen erzielte (mit entsprechender Kohle auf der Einnahmeseite). Loest schrieb sogar für die „Sybille“. Eine Kollegin aus grauer Vorzeit geriet, wenn sie den Namen Höpcke hörte, in Wallung. Das war aber schon nach 1990, als der Mann, den Loest mutig „Regierungskrimineller“ nannte, im Erfurter Landtag umherlümmelte.

18. Oktober 2023

430 Mark der DDR betrug mein Monatsgehalt in der Bibliothek der TH Ilmenau, da war eine Prämie von 50 Mark schon ein gewaltiger Brocken, eine Gehaltserhöhung um 20 oder 30 Mark ein Ereignis. Am 18. Oktober 1973 erreichte mich ein Brief der Humboldt-Universität mit Einladung zum Eignungsgespräch am 26. Oktober. Wie groß meine Hoffnungen waren, weiß ich nicht mehr, dass sie sich zerschlugen, natürlich noch. Auf dem Balkon uns gegenüber heute die Hausmeisterin der Genossenschaft, was Wohnungsabnahme bedeutet. Später sah ich: der Briefkasten zugeklebt, der Name vom Klingelschild entfernt. Vierzig Jahre Ilmenau Geschichte, der Rest nun Wismar. Der Hermes-Bote spät mit dem Wein, doch eine große Kiste, nicht wie versprochen zwei. Zum Glück kräftiger Besuch im Haus, wir feiern den Geburtstag nach, der uns nach Kissingen entführte. Nun fehlt nur noch eine Lieferung aus Eisenstadt, nach Wachau und Weinviertel einmal Burgenland.

17. Oktober 2023

Es ist mir tatsächlich gelungen, ein paar Zeilen zu Ingeborg Bachmann zu schreiben und gleich ins Netz zu stellen, das am Tag 33 mit mehr als 10.000 Schritten in Folge. Vor 50 Jahren hatte ich schon meinen dritten Arbeitstag in der Hochschulbibliothek, Zweigstelle ET im Kirchhoffbau auf dem Ehrenberg. Eine meiner damaligen Kolleginnen starb 2020 fünf Tage nach ihrem 74. Geburtstag, was ich erst erfuhr, als ich fünf Monate später zufällig ihren Grabstein auf dem Ilmenauer Friedhof fand. Am 17. Oktober 1998 hatte unser Sohn sein erstes Landesliga-Heimspiel Basketball gegen Mühlhausen in Ilmenau, lang ist es her. Er kam als Sieger nach Hause, zehn Punkte auf dem Konto. Das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist Slowenien und jemand sagt, dort schreibe offenbar jeder Zweite Gedichte. Die Rede des Philosophen Slavoj Žižek soll Buhrufe erzeugt haben, melden die Nachrichten. Wenn ich sein Bild sehe, sehe ich meinen Nachfolger in meiner Redaktion, leider.

16. Oktober 2023

Vor zwanzig Jahren freute ich mich auf meinen am nächsten Tag beginnenden Urlaub im Burgund. Mouthier en Bresse war das Ziel, vorher Zwischenübernachtung in Niederkassel, nachher wieder. Ein zweiseitiges Schreiben mit den Unterschriften meines Chefredakteurs und des von diesem gern vor Zeugen gedemütigten stellvertretenden Chefredakteurs kündigten mir an, dass mein Abschuss unmittelbar bevorstehe. Es folgten noch ein paar Kuriositäten, ehe ich am 1. Dezember Abschied nahm, meine letzten zehn Stunden in der Redaktion. Beim heutigen Blättern in mir gebliebenen Dokumenten merke ich, wie weit das weg ist. Jetzt weiß ich besser als damals, welche Wege diese oder jene Information nahm. Die Professorin Hedwig Richter, die ihren heutigen 50. Geburtstag nicht verhindern konnte, kommt auf der ersten Google-Seite immer noch mit ihrem Verständnis für das Besprühen des Brandenburger Tores vor, Historikerinnen sind nicht mehr das, was sie waren.

15. Oktober 2023

Nur im April und im September waren wir noch nie in diesem Hotel, noch nie hörten wir mehr leichte Klagen darüber, wie eng es in der Tiefgarage zugehe. Vielleicht hat das damit zu tun, dass die Leute gegen den angeblichen E-Auto-Trend immer dickere Karren fahren. Doch selbst in der Fernsehwerbung wagen einzelne Firmen nach langer und verlogener Präsentation ausschließlich von E-Autos wieder etwas mehr Realismus. Die Leute wollen mehrheitlich die Kurzstrecken-Brezeln nicht. So viele Kaffee-Pausen legen nicht einmal Abteilungsleiterinnen ein, wie die neuen Steckdosenfreaks auf längeren Strecken. Darüber hinaus wäre heute Italo Calvino 100 Jahre alt geworden. Er verfehlte das Ziel um etliche Jahre, starb schon am 19. September 1985, vier Wochen vor seinem 63. Geburtstag. Wie kommt man als Italiener zum Vornamen Italo? Man muss in Kuba geboren sein. Wäre ich da geboren, hätte meine Mutter mich vielleicht Thüring Ullrich genannt.

14. Oktober 2023

Nachtrag: Das ist tatsächlich unser dreizehnter Aufenthalt in diesem Hotel, seit 2011 waren wir nur 2016 und 2022 nicht da. Jetzt treffen wir Leute, die seit 25 Jahren und mehr immer wieder kommen, einer mehrmals im Jahr: mit und ohne Gattin. Ein älteres Paar aus Frankfurt/Main hauptsächlich wegen einer Autowerkstatt, wo sie ganz persönliche Betreuung finden. Nach dem Tiefpunkt vor zwei Jahren, als das Personal sich fast in Luft aufgelöst hatte, jetzt wieder alles wie in besten Zeiten: jeder auch nur halbwegs geleert aussehende Teller bringt die Bedienung zur Frage, ob er schon abgeräumt werden darf, das Weinglas wird ständig nachgefüllt. Nur der trockene Weiße ist nicht mehr im Angebot. Rosé und Rot (Domina) helfen darüber hinweg. Im Zeitungsladen hole ich meine gestern bestellten Blätter mit Buchmesse-Beilagen, alles klappt wie am Schnürchen. Und das Geburtstagskind findet eine Flasche Silvaner feinherb im Zimmer, kombiniert mit Glückwünschen.

13. Oktober 2023

„Wieder einmal hat es mein Chefredakteur geschafft, mir den Tag zu verderben.“ Als ich das vor zwanzig Jahren festhielt, ahnte ich noch nicht, dass mein Ende in Ilmenau eingeleitet war. Einer Schuld war ich mir nicht bewusst, mein Versäumnis war winzig, in geordneten Häusern nicht der Rede wert. Wenn man aber, ohne es zu ahnen, auf einer Abschussliste steht, gilt selbst ein zu locker gebundener Schnürsenkel als Provokation des Chefredakteurs. Eigentlich wären wir heute in Italien, die Genussreise zu genießen, die als Geburtstagsgeschenk für meine eheliche Mitarbeiterin gedacht war. So genießen wir die Färbung der Blätter bei unseren täglichen Wanderungen zum 10.000-Schritte-Ziel. Und fahren ersatzweise nach Bad Kissingen. Es wird unsere 13. Anreise und das an einem Freitag, den 13., sind wir abergläubisch? Einst setzte sich gar Matthias Biskupek auf unsere Fährte, er wollte wissen, was uns da immer wieder anlockte: das Casino an der Saale war es nicht.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround