Tagebuch

30. Oktober 2023

Nachtrag: Heute heißt das Ziel Auschwitz. Es ist zweigeteilt. Zunächst das Museum, dann das Stammlager in einem längeren Rundgang. Wir sind Teilnehmer einer deutschsprachigen Führung, sehen, was wir schon oft gesehen haben, nun mit eigenen Augen. Das schützt ein wenig, nicht ganz. Den Weg nach Birkenau zum Vernichtungslager fahren wir selbst, es hätte auch einen Shuttle-Service gegeben. Rampe, Krematorium 2, Baracke im Frauenlager, die Dimensionen riesig, überall nur noch Schornsteine und Grundrisse. Mit wenig Ausnahmen. Unsere Führerin bittet um Respekt, den Rasen nicht zu betreten, unter dem Asche liegt, größere Gruppen sehr junger Leute tun es dort dennoch. Es hat alles den Anschein von Massentourismus, der sich in Birkenau nur verteilt über die riesige Fläche. Männer in gelben Westen versuchen Ankommende auf private Parkplätze zu lotsen. Wir fahren mit schweren Beinen nach Gleiwitz, letzte Station unserer Kurzreise, es ist nicht weit.

29. Oktober 2023

Nachtrag: Man kann nicht in Krakau gewesen sein, ohne den Wawel besucht zu haben. Das System der Eintritte ist auf den ersten Blick kompliziert. Da man ohnehin nicht alles sehen kann, ist eine Entscheidung für die eine und gegen die andere Ausstellung unumgänglich. Wir nahmen die „State Rooms“ und die Kathedrale, sahen die große Glocke dennoch, nachdem wir den Turm erstiegen hatten. In den Katakomben standen wir vor Särgen mit Königen, die uns nur selten dem Namen nach bekannt waren, ich wusste dafür mit den Herren Cyprian Norwid, Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki etwas anzufangen, auch Jan Karski war mir bekannt, dem an einer der beiden Synagogen, die wir betraten, eine Plastik gewidmet ist: Karski auf einer Bank. Wir standen unvermeidlich auch vor dem Sarkophag von Lech Kaczynski nebst Gattin. Am Ende des Tages zum zweiten Male mehr als 14.000 Schritte auf der Uhr. E-Autos dürfen in Polen kostenlos parken, was uns sehr, sehr half.

28. Oktober 2023

Nachtrag: Es gibt rote Busse in Krakau, die man mit einem 24-Stunden-Ticket etwa sechs Stunden nach eigenem Belieben benutzen kann. Ein 48-Stunden-Ticket verlängert den Vorgang für den Tag danach um weitere sechs Stunden. 36 Stunden lang verkehrt der Bus schlicht und einfach nicht, was nur dann ein Problem ist, wenn man es vorher nicht weiß. Wir wussten es am zweiten Tag. Nach einer Rundfahrt durch ganz Krakau gönnten wir uns eine 30-Minuten-Fahrt auf der Weichsel, die im Ticket enthalten ist und suchten dann die Fabrik von Oskar Schindler auf. Genauer die Ausstellung zur Geschichte Schindlers. Man kann überall fotografieren, was angenehm ist, man muss überall Englisch beherrschen, wenn man des Polnischen nicht mächtig ist. Unsere gute alte Täter-Sprache kommt nicht vor. In Polen sind Geschäfte offen, wenn unsere längst geschlossen sind, Restaurants haben ausreichend Personal und erstaunlich junges. Das Essen, es überrascht uns nicht, ist sehr gut.

27. Oktober 2023

Nachtrag: Die Addition ungünstiger Umstände mit widrigem Wetter erzeugt selten Ausgangslagen, die fröhlich stimmen. Und doch sind wir in Krakau heute angekommen, es gelang uns, ohne große Schwierigkeiten mittels der entsprechenden Codes in die große Ferienwohnung zu gelangen, deren beide Bäder sich als separate Toilette und Bad erwiesen. Unterwegs lernten wir Tesla-Supercharger kennen, Ladestationen, an denen man in kurzer Zeit die Batterie vollbekommt, ehe man die Fahrt zum nächsten fortsetzt. Diese Stationen sind nicht allzu dicht gesät, aber man erreicht die nächste, wenn man den Forderungen der Technik nach vorgeschriebener Höchstgeschwindigkeit folgt, ohne auch nur kurz schneller zu fahren. Staus unterwegs sowie Umleitungen können tödlich sein, für die E-Autos ist der Gang mit einem kleinen Kanister zur nächsten Tankstelle nicht vorgesehen, man kann sie auch nicht schieben. In Polen haben diese Fahrzeuge lindgrüne Kennzeichen, kein End-E.

26. Oktober 2023

Früher war nicht nur mehr Lametta, es war auch mehr Kondition. Am 26. Oktober 1973 fuhr ich morgens nach Berlin, musste von Arnstadt bis Erfurt ein Taxi nehmen, weil ich verschnarcht hatte, dass dieser Zug in Arnstadt endet. In Berlin war ich pünktlich in der Universitätsstraße 3b, niemand außer mir wartete ganz oben auf ein Eignungsgespräch. Es dauerte anderthalb Stunden, drei Leute und ich. Meine Schwäche war das Theatererlebnis, natürlich. Woher sollte ich wissen, warum Roman Silberstein in Halle in dieser bestimmten Szene einer bestimmten Inszenierung in die Knie geht und nicht stehen bleibt? Es fiel keine Entscheidung an diesem Freitag, später fiel sie gegen mich. Ich kam auf halbwegs umsteigerischen Wegen wieder nach Hause, traf in den Zügen immer auf Leute, mit denen ich schwatzen konnte. Heute treffe ich in Dresden auf Freunde, die mir zum 70. Geburtstag eine Reise nach Krakau schenkten, weshalb hier eine mehrtätige Sendepause folgt.

25. Oktober 2023

Im Briefkasten heute gleich zwei dicke Reise-Kataloge. Ende Oktober, so meine Prognose, sind sie da und schon haben wir unser Wunschprogramm für 2024 zusammengestellt, die genauen Termine natürlich noch nicht. Wir sind Langfrist-Planer, was unsere Sponti-Freunde, von denen wir zum Glück nur wenige haben, eigentlich keine, mit Grinsen quittieren. Der Frühbucher-Rabatt bringt bei vier Anmeldungen das Geld für zwei noble Kisten Wein. Wir müssen nur noch austarieren, wann welche Ferien, wann welche Familientreffen anfallen, welche Buchung in Quedlinburg schon fest ist, weil wir 300 Jahre Klopstock vor Ort erleben wollen und so weiter. Vor 50 Jahren rief ich mir den genau ein halbes Jahr zurückliegenden Abgang aus der NVA vor Augen. Im Zug erst kurz vor Leipzig ergatterten wir unsere Personalausweise, das hatte ich natürlich vergessen. Mein Wehrpass ist Dauerleihgabe an die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Berlin.

24. Oktober 2023

Vor zwanzig Jahren las ich in Frankreich Hans Carossas „Aufzeichnungen aus Italien“, darunter „Mittag in Neapel“ und „Brief aus Florenz“. Carossa befürchtete, Italien könne nach dem Krieg den Deutschen nicht mehr zugänglich sein. Das ist nicht so gekommen. Ich war 2003 bereits zum 15. Male in Italien seit 1991. Nummer 30 wäre jetzt eben gewesen, wenn es mehr Menschen mit Lust auf Genuss in Norditalien gegeben hätte. Schöner Satz von Carossa: „Ein Alt-Erfahrener kennt seine Zustände; durchleiden aber muss er sie dennoch.“ Mich ereilt heute mal wieder eine Impfung, ich wähle aus dem Repertoire den Grippeschutz, was mir im AOK-Bonusprogramm 500 Punkte bringt und am Abend ein Gefühl, als wäre ich vom Infekt zu Boden geschleudert. Portugiesischer Rosé-Wein mundet dennoch, zumal er leicht ist. Ich lief aus der Scheffelstraße über die Poliklinik bis nach Hause und brachte sogar einen Termin beim Orthopäden mit und Schritte fast ohne Ende.

23. Oktober 2023

Mein privater Literaturkalender für 2024 nimmt Form an. Würde ich tatsächlich zu allen Namen, die ich mir farbig markiert habe, im kommenden Jahr etwas schreiben, wäre Balzac gegen mich ein Waisenknabe an Produktivität. Der Vergleich kommt mir natürlich nur, weil auch Balzac markiert ist am 20. Mai, wo wir alle zusammen seinen 225. Geburtstag wahrscheinlich kaum feiern werden. Ich verrate, dass ich das „Maison de Balzac“ in der Pariser Rue Raynouard schon von innen sah, es explodierte etwas auf der anderen Straßenseite, Scherben klirrten, aber auf die Idee, es könnte ein Terroranschlag gewesen sein, kam ich damals nicht. War noch nicht so üblich wie heute. Die Linke findet es empörend, wenn die Ausgetretenen ihr Mandat nicht zurückgeben wollen, das sie doch nur haben wegen dreier Direktmandate. Sie besitzen Humor, denn die Nachrücker hätten natürlich mehr Recht, an die Fleischtöpfe zu rücken als die, die dort seit einer Weile den großen Löffel schwangen.

22. Oktober 2023

Gegen Putenoberkeule lässt sich wenig einwenden, sie stammt von einem zweibeinigen Tier, welches vermutlich die Grünen wählen würde, wenn es die doppelte Staatsbürgerschaft für Vögel gäbe, die nicht singen können. Aber die ist noch nicht erfunden. Ich pendle zwischen „Berliner Theater“ von Karl-Heinz Ruppel, Ausgabe 1943, und „Max Mell als Theaterkritiker“, während ich zwischendurch meine alten Notizen zu Eckart suche und sogar finde. Beim Ausschlachten alter CICERO-Ausgaben für mein Archiv stoße ich immer wieder auf feine Sächelchen, die sonst von der schreibenden Zunft großzügig umschritten werden. Ich sammle Sophie Dannenberg und freue mich, dass es Autorinnen gibt, die schon seit zehn Jahren keinen einzigen Roman mehr geschrieben haben. „Teufelsberg“ hieß ihr letzter, an den immer noch einmal im Monat erinnert wird, acht Jahre davor legte sie „Das bleiche Herz der Revolution“ aus der Hand. Ihre Kolumne heißt „En passant“.

21. Oktober 2023

Ich lese ein Buch mit dem leicht seltsamen Titel „Schrappel“. Gabriele Eckart hat es geschrieben, was mich freut, denn sie kann es als Geschenk zum langsam, aber sicher näher rückenden 70. Geburtstag sehen. Es sind nicht selten die besten Geschenke, die man sich selbst macht und bei Annäherung an diese vertrackten Runddaten steigt die Verführung zu Rückblicken rasant an. Ich verstehe das, blättere auch mit jetzt 70 immer öfter in alten Tagebüchern und schäme mich ein bisschen, dass mein guter Kontakt zu ihr ohne ersichtlichen Grund einschlief wie früher mein Vater, wenn er in einem Präsidium sitzen musste oder ich einmal im Präsidium bei einer Jugendfeuerwehr. Wenn ich das Buch durchgelesen habe, werde ich darüber schreiben, was ich sonst bei neuen und ganz neuen Büchern nicht mehr mache. Allein schon, weil sehr lange und intensive Vorarbeit sich nützlich machen kann. Am 21. Oktober 2003 waren wir in Meursault und in Pommard: Weintour.

20. Oktober 2023

Wenn sich tagelang ausdauernd Anzeichen verdichten, dürfen wir davon ausgehen, dass diese Anzeichen am Anfang ziemlich weit voneinander entfernt waren. Es ist ähnlich wie mit dem Druck, der sich erhöht. Ein Promotionsthema „Wie oft erhöht sich in öffentlich-rechtlichen Nachrichten der Druck?“ böte sich an. Jeden Abend erhöht sich irgendwo auf irgendwen oder irgendwas der Druck und am Ende müsste nach solchen Erhöhungen irgendwann ein Knall vermeldet werden oder der Riss, in diesem Fall jedoch nicht in der Schüssel. Selbst bei der Sturmflut an der Ostsee werden Vermutungen darüber angestellt, wie enorm der Druck sein muss von der Wasserseite her, bis der Pegel um einen vollen Meter steigt. Vor einem Jahr beging niemand den 200. Todestag von Johann Heinrich Voss, obwohl der doch nun wirklich viel Druck auf den Hexameter ausübte, um ihn dem Deutschen anzuverwandeln. Heute ist er nun schon wieder 201 Jahre tot, weiß der Goethe-Geier.

19. Oktober 2023

Während ich genusserpicht am 14. Oktober in der Hotelsauna lümmelte und den Stirnschweiß auf mein Knie tropfen ließ, starb in Berlin Klaus Höpcke, was ich erst heute erfuhr aus einer Zeitung, die ich nur zweimal im Jahre lese: wenn Buchmesse ist. Nun denn, meine Trauer hält sich in recht überschaubaren Grenzen, aber mir fällt ein, dass ich ihn einmal selbst erlebte. Es war in Erfurt und er schulte uns, die wir uns für Schriftsteller hielten. Wir hörten von ihm über die Verlogenheit von Erich Loest, der immer behauptete, nicht gedruckt zu werden. Höpcke fütterte uns mit gigantischen Auflagezahlen, die Loest als Loest und unter seinen drei Pseudonymen erzielte (mit entsprechender Kohle auf der Einnahmeseite). Loest schrieb sogar für die „Sybille“. Eine Kollegin aus grauer Vorzeit geriet, wenn sie den Namen Höpcke hörte, in Wallung. Das war aber schon nach 1990, als der Mann, den Loest mutig „Regierungskrimineller“ nannte, im Erfurter Landtag umherlümmelte.


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