Tagebuch
10. Mai 2024
Wolfgang Mayer seligen Angedenkens, dessen „Dänen von Sinnen“ seit Jahren meine abgespülten Bieretiketten presst, ehe sie der Sammlung einverleibt werden, erfreute mich vor 30 Jahren mit einem Fax, dessen Text er als Gegendarstellung deklarierte, obwohl das natürlich keine war. Mir trug das ein Endlos-Telefonat ein, nachdem ich ein Gegen-Fax an ihn ins Adenauer-Haus versandt hatte. Und wenn ich jetzt davon lese, habe ich ihn vor Augen: wie er mich mal hasste, mal benutzen, mal beinahe mein Freund sein wollte. In meiner Zeitungszeit hatte ich solche Herren (nie Damen) immer wieder an der Strippe: einer wollte mich alle halbe Jahre überreden, endlich einmal Dagmar Schipanski medial aufs Kreuz zu legen, die allein durch DDR-Frauenförderung zu Ruhm und Ehre gekommen sei. Den Armen hatte seine Stasi-Vergangenheit aus dem Job gekegelt, nun sann er auf Rache. Familienfotos erinnern uns an Amsterdam, wo wir zuletzt 2009 waren. Von Volendam aus.
9. Mai 2024
Der Männertag treibt aus allen Richtungen Bratwurstduft an den Nasen vorbei. Unser vorgezogener Spaziergang „Teichrunde“ führt uns in den vorderen Orient, der am Wasser zu eben jener Musik tanzt und sich vergnügt, die unser Ohr Arabien denken lässt. Wir zählen auf dem Großen Teich nicht weniger als 17 Schwäne, zwei mit Jungen auf dem Brandenburger Teich. Woher die wohl immer so plötzlich kommen. Der russische Sangesbruder Bulat Okudshawa hat heute seinen 100. Geburtstag, Wikipedia meint, er sei etwas wie der Georges Brassens der Sowjetunion gewesen. Der George Brassens Frankreichs war als Chansonnier nie mein Ding, weil ich nicht der Chanson-Fan war. Das wird sich in diesem Leben nicht mehr ändern. Okudshawa schrieb einen Napoleon-Roman und andere, die an mir vorbeirauschten. 80 Jahre alt würde heute Bernd-Dieter Hüge, über den ich schon zu DDR-Zeiten schrieb und dann nicht wieder. Vielleicht hätte er es verdient, ich weiß nicht.
8. Mai 2024
Manche Bücher stehen 40 Jahre und mehr im Regal, ehe ich sie endlich lese. So jetzt „Noch ein Wunsch“ von Adolf Muschg. Vor zehn Jahren war ich drauf und dran, sein 1968 zuerst gedrucktes Stück „Rumpelstilz“ für einen Beitrag zum 80. Geburtstag zu verwenden. Bei der Absicht ist es geblieben, am 8. Mai 2014 schrieb ich den letzten Satz in die entsprechende Datei. Meine Ärztin schockierte mich heute mit einer sogenannten Verdachts-Diagnose, schrieb mir eine Überweisung und ich holte mir dort auch umgehend einen Termin. Eine mir befreundete Suchmaschine hat diverse Informationen für mich dazu, welche, an denen „Gesponsort“ steht, und welche, die selbst eine gute Position gewinnen müssen, um mich zu erreichen. Rückblick: Vor 30 Jahren acht Stunden Sonntagsdienst, vor 25 Jahren Jugendweihe-Feier in der Festhalle, die zweite nach 1992. Feier an langer Tafel im Arbeitszimmer, sogar Berlin und Gera dabei. Unvorstellbar heute, kein Platz mehr.
7. Mai 2024
2004 war das der letzte Geburtstag meines Vaters, von dem wir natürlich nicht wussten, dass es der letzte war. Für Volker Braun war es damals der 65. Geburtstag, er feierte in der Kulturbrauerei in Berlin, die ihm ein angemessen karger Ort erschien. 20 Jahre später wird wieder gefeiert, ich trage mit meinem „Volker Braun 85“ heute aus der Ferne bei. Mein Kalender weist mich außerdem auf Emil Felden hin, dessen 150. Geburtstag heute ist. Ich würde ihn nicht kennen, wenn er nicht, was ungewöhnlich genug ist, 1909 in seiner Kirche St. Martini in Bremen Kanzelreden über Henrik Ibsens Schauspiele gehalten hätte, zu einem Buch mit dem Titel „Alles oder Nichts!“ vereint 1911 im Verlag Die Tat, Leipzig. Ich besitze ein sehr gut erhaltenes Ganzleinenexemplar mit 214 Seiten Umfang, das meine anständig sortierten Ibsen-Bestände ergänzt. Mein letzter Ibsen war 2019 im Oktober „John Gabriel Borkman“ im Meininger Staatstheater, auch fast fünf Jahre her inzwischen.
6. Mai 2024
Das Buch „Prosa schreiben“ von Werner Bräunig stand 50 und mehr Jahre in meinen Regalen, nun las ich es endlich und gleich zu Ende. Und weil es mir Gelegenheit geben sollte, zu seinem auf den kommenden Sonntag fallenden 90. Geburtstag ein paar Zeilen zu schreiben, fing ich damit sofort an. Es sind am Ende gut 2100 Wörter geworden, Thomas Wolfe wäre damit unzufrieden gewesen, wie ich Bräunig entnahm. Ich bin recht zufrieden. Zumal ich vor zehn Jahren zum 80. Geburtstag auch schon schrieb. Zwei Themen zu ihm bleiben mir auf alle Fälle noch, ob mit oder ohne Anlass, werde ich sehen. Schon heute verabschiede ich mich endgültig vom Plan, über Dimitár Blagoew zu schreiben, dessen Buch „Das Leben und die Literatur“ ich 1998 las, dessen morgiger 100. Todestag eine Gelegenheit gewesen wäre. Meine Bulgarien-Jahre als Leser waren die Jahre 1998 bis 2001, zu einer Fortführung ist es leider nie gekommen. Dennoch stehe ich gut im Stoff dank meines Archivs.
5. Mai 2024
Mit einem promovierten Biologen durchstreifte ich einst die heimischen Wälder auf der Suche nach Feuersalamandern, erhielt sehr detaillierte Informationen, welche Bachquellgebiete mit sauberstem Wasser sie bevorzugen. Für alle Fälle hatte der Biologe eine Tupperbüchse bei sich mit für den Pressefotografen geeigneten Salamander-Larven, die dann auch gebraucht wurden. Heute beim Aufstieg zur Schwarzburg in Schwarzburg marschierte schwungfüßig ein dicker schwarzgelber Salamander von rechts nach links über den Fußweg, sämtliche verfügbaren Kameras traten in Aktion, die Fotografierenden fotografierten sich gegenseitig in lustigen Fotografierpositionen und auch kleiner Film entstand. Alle Beteiligten bekannten, in ihrem Leben noch nie einen leibhaftigen Salamandra salamandra gesehen zu haben. Kaum waren sich darob alle zwischen 9 und 71 Jahren einig, machte sich ein zweites Exemplar ansichtig, mehr orange als gelb und etwas furchtsamer.
4. Mai 2024
Familientreffen in leicht reduzierter Zahl und neuen Konstellationen. Das Wetter will anscheinend mitspielen. Der Saharastaub ist ersetzt durch Rapsgelb. Friedhofs-Check zeitnahe und rechtzeitig. Es gibt eine Gruppe von Experten, deren Aufgabe in den Medien nicht darin besteht, uns Neues zu vermitteln. Sie wiederholen Altes, ganz früher nannte man sie Co-Repetitoren, sie halfen den ganz schwer Begriffsstutzigen über die niedrigsten Hürden. Manchmal raten sie anderen Experten zu nicht allzu kühnen Parallelen. Hätten wir jetzt nämlich 1932 Zweipunktnull, oder gar 1933 dito, wären wir wahrscheinlich alle sehr erstaunt über die krassen Unterschiede. Gut, also Experten für Rechtsextremismus müssen ihr Geld verdienen, ihre Publikationsliste verlängern, wie das alle Experten, auch solche für Seidenraupenzucht im späten 18. Jahrhundert in Mitteldeutschland oder für Selbstmordprophylaxe im Umfeld christlicher Feiertage am Beispiel Weihnachten, tun müssen.
3. Mai 2024
Am Tag nach der Restzahlung kommt die Stornierung. Es wollen nicht genügend Leute wie wir nach Zakopane und ins Riesengebirge, weshalb die Reise ausfällt. Die alternativen Angebote sind nichts für uns, wir wollten ja nicht umsonst dahin und nicht dorthin. Immerhin gibt es dadurch Geld, das schon weg war, zurück aufs Konto, was die Abwicklung des Monats leichter gestaltet. Absagen kennen wir seit 30 Jahren, sie kamen selten, aber sie kamen. Die ärgerlichste war für eine Reise nach Venedig, bis heute nicht nachvollziehbar, weil mit einem Hotel im alten Zentrum verbunden, nicht der übliche Tagestrip von Lido di Jesolo aus oder von noch weiter her. Drei Tage Mai, dreimal schon wieder die 10.000 Schritte. Ich beginne, Adolf Muschg zu lesen, mich nach passenden Kritiken umzuschauen. Alles vorhanden. Stelle meine beiden alten Kritiken zu Boris Wassiljew ins Netz. Jahrgang 1924 hat reizvolle Angebote für mich, alle werde ich kaum schaffen.
2. Mai 2024
Neuer Wein aus Poysdorf. „Stalins Blick“ von Werner Bräunig zum zweiten Mal. Die ungarischen Anthologien neu sortiert, aus keinem Land habe ich mehr. Der erste Urlaub am Plattensee seit 1976 rückt näher. Und die Restzahlung für Zakopane ist auch getätigt. Das Geld verlässt das Konto in atemberaubendem Tempo, kaum ist es eingetrudelt. Vor 25 Jahren schrieb ich am 2. Mai die erste monatliche Arbeitszeitabrechnung nach meiner langen Infarkt-Pause: 29 Überstunden in knapp drei Arbeitswochen. Besuch des Chefredakteurs angekündigt für den nächsten Tag, es sollen angeblich Entscheidungen fallen für die neue Redaktion in Arnstadt. Fünf Jahre später bin ich schon wieder weg aus Arnstadt und schiebe Sonntagsdienst, kann zum Mittagsessen nach Hause fahren, dann zurück in die Redaktion. Fünf Jahre später ist abermals Sonntag, aber ohne Dienst und doch bezahlt. 1300 Jahre Arnstadt in Arnstadt mit Festumzug. Essen im Südtiroler Festzelt in der Ritterstraße.
1. Mai 2024
Den Zusammenhang zwischen Klassenkampf und Blasmusik werde ich bis an mein hoffentlich noch nicht allzu nahes Ende nicht begreifen. Ich begreife, dass alle mehr Geld für weniger Arbeit wollen. Von mehr Geld für Arbeitende profitiere ich als Rentner alljährlich auch. Dass immer mehr Nichtarbeitende profitieren, finde ich nur teilweise lustig: eben sehe ich im Fernsehen einen Bürger, der allein für seine unfassbar zahlreichen Kinder dem Rechtsstaat jährlich anderthalb Millionen Euro legal aus der Tasche zieht, er kam aus einem extrem sicheren Herkunftsland in ein extrem blödes Geldverteilungsland. Und dann starb gestern Paul Auster. Unvergessen, wie Sigrid Löffler im „Literarischen Quartett“ den Wiener Mund rundete, um den Namen hyperkorrekt auszusprechen. Man kann es mit Lautumschrift andeuten, man kann auch an Jean-Paul Belmondo denken, dessen Paul wie Paul und Auster gesprochen wird. Von Auster besitze ich 21 Bücher. Alle von Rowohlt.
30. April 2024
Vollzug, Vollzug. Mit leicht angefeuchtetem Auge lauschten wir der Rede der Standesbeamtin. Im Trauzimmer waren wir zuletzt vor 30 Jahren. Ich als Fotograf. Wir seinerzeit in Lichtenberg hatten noch sehr viel Sozialismus, auch vor der Tür, nicht nur in den salbungsvollen Worten. Es hat gehalten. Was mit dem Sozialismus nicht ganz funktionierte. Weswegen der morgige Kampf- und Feiertag auch nur noch Tag der Arbeit heißt. An unseren Masten hängen jetzt bereits sehr viele Kandidaten: die am höchsten, bei denen die Befürchtung heruntergerissen zu werden am größten ist. Während ich vor 20 Jahren noch zum Auszugdrucker eilte, um zu sehen, ob die Kohle auf dem Konto ist, weiß ich heute, dass die Rente kommt wie das Amen in der Parteigruppenversammlung. Das Paar befindet sich im Harz, während sich uns bestens bekannte Menschen und Menschinnen in Indonesien kleine blaue Eier verspeisen. Bei uns gibt es heute nur noch einen süßen Kuchenrest.
29. April 2024
Albert Emil Brachvogel, lese ich in der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB), rettete durch seine Geburt seine Mutter vor einer für unheilbar gehaltenen Geisteskrankheit. Mein „Lexikon Berliner Grabstätten“ verzeichnet sein Grab als Ehrengrab auf dem Dom-Friedhof II in Berlin-Mitte, Abteilung 1-7-1, G3. Dort war ich nie, las auch nie eine Zeile von ihm. Wohl aber sehe ich sein Buch „Friedemann Bach“ lebhaft vor mir in einer besonderen Regalreihe bei meinen Eltern, der Lieblingsreihe meiner Mutter, unweit von Alfred Amenda mit seinem „Appassionata. Ein Lebensroman Beethovens“. Dass Alfred Amenda eigentlich Alfred Karrasch war, der schon am 1. Mai 1932 der NSDAP beitrat, weiß ich erst heute. Brachvogel ist am 29. April 1824 geboren. Neben der Rentenzahlung morgen ein weiteres Großereignis: ich werde zum zweiten Male Schwiegervater. Dergleichen kommt vor, nur Mütter müssen bis November warten, ehe sie das auch werden dürfen.