Tagebuch

4. Dezember 2023

Nachtrag: Schon ist der letzte Behandlungstag erreicht, mir bleiben Fangopackung, klassische Teilkörpermassage und Whirlbad. Der feierlichen Einweihung des Weihnachtsbaumes gestern sind wir ferngeblieben. Wir schauten ihn uns heute an. Von den Rudolstädtern haben wir uns mit Foto zur Erinnerung verabschiedet, sie wollen uns besuchen, wenn sie in Ilmenau sind. Zum letzten Abendessen haben wir eine neue Tischgenossin aus Aschaffenburg, der wir von unseren schlechten Erfahrungen mit Aschaffenburger Inkasso-Unternehmen erzählen müssen. Nachdem ich gestern tatsächlich mit „Mein Weg als Deutscher und Jude“ zu Ende kam, fing ich heute die nächsten Seiten im Sammelband an, bis zu den „Selbstbetrachtungen“ schaffte ich es aber nicht mehr. Wir befreiten das Auto so weit als möglich vom Eis und drehten unsere vorerst letzte Spazierrunde. Natürlich nahmen wir zum Essen noch einmal den Welschriesling des ersten Abends, den wir auch kauften.

3. Dezember 2023

Nachtrag: Pünktlich um 13 Uhr werden wir vor dem Hotel von einem kleinen Bus abgeholt, der mit uns, den Rudolstädtern und einigen anderen aus anderen Hotels die Egerland-Rundfahrt antritt. Ein recht gut deutschsprechender junger Mann erklärt uns vieles, was wir zum Teil kaum sehen, denn es ist schlechte Sicht unterwegs. Er erklärt uns weniger als in Marienbad die Reiseleiterin im Frühjahr, die uns vor allem Einblicke in die jüngere Geschichte verschaffte von der fehlenden Landwirtschaft bis zu den Vertreibungsfolgen. Auch jetzt sehen wir kahle Gegenden, wo früher ganze Dörfer lagen. In Eger gibt es eine kleine Stadtführung inklusive Glühwein, danach haben wir bis zur Rückfahrt freie Zeit. Wir stehen vor dem Haus, in dem Walleinstein ermordet wurde. Der Weihnachtsmarkt ist hübsch, es ist aber zu nasskalt, um zu verweilen. So besuchen wir geöffnete Geschäfte, um uns zu wärmen und kaufen am Ende sogar bei Asiaten zwei Einlegesohlen mit Fell gegen eiskalte Füße.

2. Dezember 2023

Nachtrag: Heute und morgen sind für uns anwendungsfreie Tage, wir sehen aber, dass das nur für uns gilt. Andere wandern in ihren weißen Bademänteln umher, sitzen brav in den Wartebereichen. Unsere Tischnachbarn überlegen, eher nach Hause zu fahren. Sie haben ein schlechtes Gewissen ihrer beiden Katzen wegen, die für diese paar Tage ihre vertraute Umgebung verlassen mussten. So reden wir über Katzen und Hunde und Dörfer und Reviere und Gewohnheiten. Auch heute nur sehr wenig Wassermann, dafür aber gleich solche Sätze: „Wahre Verantwortung ist wie ein mit Herzblut unterschriebener Vertrag. Er bindet über alle Einwände der Vernunft hinaus, und Freiwilligkeit und Urteil vermögen nichts gegen ihn.“ Wie ist denn ein mit Herzblut unterschriebener Vertrag, wer stoppt die finale Blutung, wenn die Unterschriften stehen? Nein, dergleichen geht gar nicht für mich. Heute finden wir eine Tafel für den Walzerkönig Johann Strauß, der mehrmals Kurgast war.

1. Dezember 2023

Nachtrag: Mich erwartet heute noch vor dem Frühstück eine Elektrotherapie im Schwesternzimmer. Dann Perlbad in der Hydrotherapie, am Nachmittag die zugebuchten Massagen: Fußreflex und eine indische Kopfmassage. In Kenntnis einheimischer Physiotherapie-Preise für vergleichbare Leistung sind wir mehr als nur angetan und schon entschlossen, in einer günstigeren Jahreszeit erneut eine Woche zu kommen. Für 2024 ist erst einmal Marienbad zum zweiten Male vorgesehen. Nur zwölf Seiten Wassermann heute, dafür fotografieren wir jenen Franz, nach dem das Bad genannt ist, jenen Dr. Bernhard Adler mit Schneehaube auf dem Marmorkopf, dem die Stadt das Kurwesen verdankt. Die ausgedehnten Parkanlagen müssen wunderschön sein, wenn alles grün ist und nicht gefroren. Das Kurviertel ist Kulturerbe und rasch rundum erkundet. Eine spezielle Abhandlung zu Goethe und Franzensbad kennt man in der Tourist Information nicht, wir sollen aber in Eger nachfragen.

30. November 2023

Nachtrag: Drei Anwendungen in dichter Folge am Morgen bringen den Vorteil eines langen freien Tages. Ich schaffe 48 Seiten schwer genießbaren Wassermann, dessen Buch alles ist, was ich nie als Autobiographie bezeichnen würde, es ist faktenarm, selten anschaulich, kaum einmal so auf den Punkt formuliert, dass ich mir den Satz notieren würde. Gestern standen wir am Goethe-Denkmal und sahen, dass wir den Kammerbühl auf keinen Fall sehen werden in dieser Woche. Heute sahen wir das Wilhelm-Müller-Denkmal, der nur 1826 Kurgast in Franzensbad war. Der Sauvignon am Abend war der dritte trockene tschechische Weißwein, den wir kosteten, er war der schwächste, der Welschriesling der beste, auch wenn uns die Chefin des Hauses ihren Weißburgunder nahelegen wollte, der freilich auch sehr respektabel war. Mit an unserem Tisch sitzt seit dem ersten Abend ein Paar unseres Alters aus Rudolstadt, mit dem wir uns sofort gut verstanden und viel schwätzen.

29. November 2023

Nachtrag: Wir hätten um 13 Uhr schon da sein sollen, was uns aber niemand vorher mitteilte. So war unser Vorstellungsgespräch bei der Ärztin schon Geschichte, ehe wir überhaupt die Rezeption passiert hatten. Wir besiedelten Zimmer 108 mit Blick auf einen Frisör-Salon und eine Vinothek, bekamen noch vorher den Tisch Nummer 8 zugewiesen und durften auf einem Vordruck ausfüllen, was wir an welchem Tag zu essen gedachten. Erstmals gültig für heute, denn gestern mussten wir nehmen, was es gab. Ersten Fußgang in Dunkelheit und Kälte absolvierten wir in die unmittelbare Nachbarschaft. Das Zimmer hat einen freundlichen und gut beleuchteten Schreibtischplatz, was mich immer erfreut, denn ich habe die Absicht, mit Jakob Wassermanns „Mein Weg als Deutscher und Jude“ so weit wie möglich zu kommen. Meine erste Anwendung heute: Moorpackung, gleich um 7 Uhr. Danach nach dem Frühstück Wassergymnastik und eine angenehme manuelle Therapie.

28. November 2023

Eine Franzensbader Elegie hat Goethe leider nicht hinterlassen, denn Silvie von Ziegesar übte wohl eine so große Anziehungskraft auf ihn aus, dass er sich in aller Heimlichkeit wie einst gen Italien von Karlsbad gen Franzensbad aus dem Staub machte, dort aber war es mit dem Inkognito dann nicht weit her. Heiratspläne hätte der noch nicht ganz so alte Goethe ohnehin keine schmieden können, denn zu Hause in Weimar wartete Christiane mit August. Der Gatte sandte ihr Wasser, von dem er selbst gern trank. Wir werden heute hoffentlich ohne Störungen in Franzensbad eintreffen und ganz sicher nicht sogleich auf Goethes Spuren wandeln. Nach Karlsbad 2013 und Marienbad in diesem Jahr, als Büsche und Bäume noch kahl waren, nun auch das dritte der Bäder Westböhmens, da Büsche und Bäume wieder kahl sind. Hier wird deshalb eine unvermeidliche Sendepause folgen, die wiederum mit Nachträgen ausgeglichen wird. Bis dahin genießen wir diverse Anwendungen.

27. November 2023

Wenn ich in meinem Archiv schnüffle an der Stelle, wo Material zu Eugene O’Neill gesammelt ist, falls ich da schon alles einsortiert habe, dann sehe ich eine ziemlich erdrückende Übermacht von Kritiken zu „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, sogar mich selbst habe ich dorthin sortiert, weil ich eben, lang ist es her, im Landestheater Eisenach, selige Zeiten in diesem schönen Haus, eine Inszenierung sah. Meiner DDR-Ausgabe mit O’Neill-Stücken fügte ich nach dem Niedergang des Ausgabelandes zwei Bände „Meisterdramen“ hinzu, bei S. Fischer erschienen, in Band II steckt heute noch als Lesezeichen ein Verlagsflyer für H. G. Wells „Die Welt des William Clifford“. Den Roman kenne und besitze ich nicht, mein Wells-Bestand stagniert bei sechs Bänden. Zuletzt las ich von O’Neill „Unterm karibischen Mond“, das war am 27. November 2013. Was damals der 60. Todestag war, ist heute der 70., ich werde „Im Nebel vor Cardiff“ lesen, das ist sehr schön kurz.

26. November 2023

Mihaly Babits ist tatsächlich am 26. November 1883 geboren, Irrtum der Nachschlagewirtschaft ausgeschlossen. Damit gehört er, wofür er nichts kann, zum Jahrgang Franz Kafkas, zu dessen 100. Todestag im kommenden Jahr wir totsicher mit Ergüssen geflutet werden. Den Ungarn Babits kennt kein Mensch, würde ich sagen, wenn ich es nicht besser wüsste. Denn ich habe anno 2016 bereits einmal über ihn geschrieben, als er 75 Jahre tot war. In Wien nannte man ihn Michael, als man dort seine „Geschichte der europäischen Literatur“ veröffentlichte. Dort nennt man freilich auch jeden János tapfer Johann und jeden Imre Emmerich, als gehörten die Magyaren noch immer zur guten, alten Donau-Monarchie. Der Babits war wichtig im so genannten Nyugat-Kreis, von dem ich sagen würde, dass ihn niemand kennt, wenn ich es nicht besser wüsste, siehe oben. Wer wie ich mehr als ein halbes seiner nun mehr als 70 Jahre in Ungarn verbracht, kennt eben auch einige tote Ungarn.

25. November 2023

Beinahe hätte ich heute über Anthony Burgess geschrieben, in der irrtümlichen Annahme, er sei am 25. November 1993 gestorben. Ist er aber nicht, da war er nämlich schon drei Tage tot. Immerhin, ich darf auch heute verraten, dass ich „A Clockwork Orange“ nie vollständig ansehen konnte, es gehörte in Zeiten der in jeder zweiten Garage aufblühenden Videotheken nach 1990 zu den ersten Werken, die ich mir auslieh. Es nervte mich, ich fand die allgemeine Begeisterung, die ja vor allem auf Stanley Kubrick gemünzt war, der aus dem Buch einen Film gemacht hatte, übertrieben, und zwar heillos. Aber das kannte ich schon von der „Rocky Horror Picture Show“, im Westen Kultfilm, für mich nur verklemmter Mumpitz mit Strapsen. Wobei ich Susan Sarandon bis heute mag. Von Burgess gibt es auch eine Hemingway-Biographie, die ich im September 2011 las und eine „Kleine Kulturgeschichte des Liegens“, Titel „Wiege, Bett und Récamier“, die ich bis heute noch nicht las.

24. November 2023

Und heute Schnee. Erst krümelig als Graupelschauer, während ich in täglicher Bravheit Altglas zu den Containern trage, was den Grundstein legt an Schritten via 10.000. Später dann Flocken wie im Schöpfungsplan für Winteranfänge vorgesehen. Wir werden morgen Schnee fegen müssen. Unsere hochverehrten Grünen klatschen am lautesten, wenn die Abschaffung der Schuldenbremse gefordert wird. Geld ausgeben, das nicht da ist, war immer ein rosarotes Phänomen. Der ganze Sozialismus ging nicht zuletzt zugrunde, weil er ständig nicht vorhandenes Geld ausgab. Kann man Sozialismus auch in einem Land aufbauen, hieß einst die falsch mit Ja beantwortete Frage. Jetzt versucht Grün-Rot, den Kapitalismus eines einzelnen Landes zugrunde zu richten, dem immerhin die Möglichkeit bleibt, das Land zu verlassen. Der Bevölkerung wird das kaum gelingen. Sie muss dableiben. Die Nachhaltigkeitsschwätzer vererben Schuldenberge, dieses Erbe kann man leider nicht ausschlagen.

23. November 2023

Nach einer gewissen Zeit werden auch eigene Tagebücher zu fremden. Ich könnte demnach, würde ich ein Buch schreiben mit dem Titel „In fremden Tagebüchern unterwegs“, durchaus bei mir selbst wildern, nachdem ich aus zahlreichen Tagebüchern, die ich besitze, den gedruckten, den von Hand geschriebenen, kräftig zitiert hätte. Am 23. November 1998 etwa produzierte ich in Ilmenau meine allererste Mac-Seite, der gute alte Linotype-Kasten wurde demontiert und mir wuchs das Programm QuarkXPress so ans Herz, dass ich ihm lange nachtrauerte, als ich später an hauseigene Redaktions-Systeme gezwungen wurde, die unfassbar teuer waren, nichts erleichterten, dafür aber wenigstens mit dem Internet verbunden erschienen. Lang ist es her. Ich sehe, dass das Programm in der 2023er Version immer noch gängig ist, könnte es sogar bei mir laufen lassen. 1990 schrieb ich noch alles mit Schreibmaschine, mechanisch mit Breitwagen, an die elektrische ließ ich mich sanft zwingen.


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