Tagebuch
13. Juni 2024
Ein Fahrzeug mit der Aufschrift Thüringenforst und ein Fahrzeug mit keiner Aufschrift, dafür aber der Aufforderung, die Regierung zu stürzen, weil sie das Volk arm macht, beide mit Hänger, haben heute für fast sechs Stunden drei Mietparkplätze und einen Behindertenparkplatz blockiert. Das alles nur, weil sie vor dem Kindergarten jede Stunde zur Parkscheibe hätten rennen müssen, denn länger darf man dort in der Woche nicht stehen. Wenn man aber im Kindergartengelände arbeitet, muss man ja irgendwo parken. Gut, ich verstehe diese schaffenden Werktätigen. Sie erinnern sich der führenden Rolle der Arbeiterklasse und wissen, dass das Ordnungsamt im Zweifel nie nach Falschparkern auf Genossenschaftsparkplätzen sucht: keine Zuständigkeit. Soll sich die WBG doch eigene Ordnungshüter halten! Ansonsten behaupten zwei meiner Nachschlagewerke, Theodor Däubler sei am 14. Juni 1934 gestorben, zwei nennen den 13. Juni 1934. Tot ist er auf alle Fälle.
12. Juni 2024
Zehn Jahre ist Frank Schirrmacher heute schon wieder tot, mein Archiv platzt von Gedenktexten beinahe, denen ich nicht nachgehen will. Am Anfang fand ich es schwer erträglich, dass ein junger Schnösel wie Schirrmacher auf einen Alten wie Reich-Ranicki folgte (nicht auf einen alten!). Dann aber kam der Schnösel zum Sparkassenforum der Sparkasse Arnstadt-Ilmenau und hielt dort einen Vortrag, der das gesamte Ehepaar Ullrich vollständig und absolut begeisterte. Seither denke ich immer, wenn ich dieses oder jenes Geschwafel über Baby-Boomer höre, zum Beispiel, dass sie alle jetzt in Rente gehen: Schirrmacher, du hättest jede Rente verdient, viele von diesen Boom-Babies eher nicht. Der Blitz erschlägt nicht immer die Falschen, aber er hat eine gewisse Vorliebe für sie. „Die Stunde der Welt“ heißt das einzige Buch von Schirrmacher, das ich besitze, es enthält diverse lustige Fotos. Und Texte, die definitiv nicht auf die Kichererbsen von Theaterpremieren hinzielen.
11. Juni 2024
Was für eine Freude ist es Wahlverlierern, wenn sie zusehen dürfen, wie die Wahlsieger mangels Personal auf der Kandidatenliste die gewonnenen Mandate gar nicht besetzen können. Die Stühle bleiben dann einfach leer im Gemeinde- oder Stadtrat, denn die Verlierer dürfen nicht nachrücken, wie sie es vielleicht gern würden. Ich kenne Parteien, die kommen immer mit 36 oder 40 Namen, auch wenn sie nur zwei bis drei Mandate gewinnen, seitdem die alten mit den neuen Bundesländern vernäht wurden, die besseren schaffen elf. Die professionellen Politastrologen haben Rechtsruck diagnostiziert und erfreuen sich an Gegenden Europas, wo er nicht stattfand. Sie fragen aber nicht, wieso hier und dort nicht oder wieso dort und hier nicht. Das ergäbe peinliche Antworten. Und welcher Fernsehexperte gibt schon gern peinliche Antworten. Die Gefahr von Kohabitation meldete die Korrespondentin aus Paris. Da ist nicht Geschlechtsverkehr gemeint, sagt meine Suchmaschine.
10. Juni 2024
Nachtrag: Aus Wien eine Mail mit der Entschuldigung, zwei falsche Flaschen ins Paket gepackt zu haben, ich darf die falschen behalten und bekomme die richtigen nachgeliefert. Den gestern fast zu Ende gebrachten Wilhelm Busch von Arthur Eloesser stelle ich heute ins Netz. Weil ich gestern nicht an Miguel Angel Asturias dachte, tue ich es heute. Ich stand in Paris an seinem Grab, es war der 19. Mai 2002. Vorher bei Jim Morrison, nachher bei Frederic Chopin und George Bizet. Bei Claude Mauriac und Samuel Beckett, bei Eugene Ionesco, Sartre, Simone de Beauvoir und Roland Topor dann schon der Friedhof Montparnasse, nicht mehr Père Lachaise. Angesichts des näher rückendes Endes, las ich eben bei Wladimir Solouchin, bedauert man nicht so sehr, was man nun niemals sehen wird, als was man nicht wiedersehen wird. Alter bringt Lust auf Wiedersehen, bei manchen auch den Drang, noch alles mitzunehmen, was irgend geht. Ist das jene Torschlusspanik?
9. Juni 2024
Nachtrag: Nicht nur die alten Ehemänner vergessen Hochzeitstage: ich dachte an unseren 48. heute. Im fernen Jahr 1974, als die der Slowakei und Nordmazedonien doch eher unähnliche DDR ihr 25-jähriges Jubiläum bejubelte, waren der 1. und der 8. Juni Samstage, wir sagten Sonnabende ganz altmodisch, an denen ich erstmals und zweitmals mit der seither an meiner Seite lebenden Person weiblichen Geschlechts verabredet war, ein Date hatte, wie das unsere amerikanischen Freunde nennen, die ihr Bier aus kleinen Flaschen molekülweise trinken. Also ist das jetzt schon eine 50 Jahre durchhaltende Beziehung. Ich denke an mein Foto der 50-jährigen Abiturfeier meines alten Klassenlehrers an der Goetheschule, ich denke an meine Fotos von der Goldenen Hochzeit meiner Schwiegereltern und Eltern, zeitlich in dieser Reihenfolge und siehe: ich bin alt geworden. Noch arbeitet die Apparatur leidlich, noch schmeckt der Wein, noch gehe ich zu Stich- und Europawahl.
8. Juni 2024
Nachtrag: Mit Wolfgang Kohlhaase beende ich die Anthologie, er hatte meine Aufmerksamkeit zuletzt, als er am 5. Oktober 2022 mit 91 Jahren starb und überall gewürdigt wurde. Eben noch rechtzeitig erreiche ich die „LiteraturEtage“ in Weimar, wo vor der Jahresversammlung der Literarischen Gesellschaft Thüringen Wolfgang Haak Gedichte las, nachdem ihn André Schinkel in spätbarocker Ausführlichkeit vorgestellt hatte. Hinter mir saß Jens-Fietje Dwars, der immer noch tapfer den „Palmbaum“ macht und versprach, sich um mein vom Verlag seit 2020 vernachlässigtes Abonnement zu kümmern. Ich lerne nebenbei: von der DDR ablenken kann man nicht nur, indem man die Beschäftigung mit ihr für hin- und ausreichend erklärt. Man kann auch vorschlagen, andere Länder des ehemaligen Ostblocks in eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen, das klingt besser und hat ähnlichen Effekt. Obwohl ich denke: Bulgarien und Armenien waren doch anders als die DDR.
7. Juni 2024
Nachtrag: Läse ich nicht Hunderte von Theaterkritiken seit Jahren, wäre mir Emil Pohl kaum jemals untergekommen vermutlich, so aber weiß ich: der Mann war Bühnenautor. Einer von jenen, die die Bühne kannten als Schauspieler und als Theaterdirektor. Deren Stücke gehen selten für immer in die Theatergeschichte ein, erfolgreich sind sie aber oft. Am 7. Juni 1824 erblickte er im späteren Kaliningrad das Licht der ostpreußischen Welt, am 18. August 1901 starb er in Bad Ems. In „Das schönste Buch der Welt. Wie ich lesen lernte“ heute Helmut Baierl und Bernhard Seeger. Das ist ein Segen solcher alten Anthologien, dass sie mich an Autoren zwingen, denen ich sonst wohl keinerlei Aufmerksamkeit widmen würde. Ich will nicht sagen: schenken würde. Aufmerksamkeit liegt bei mir in keinem Präsentkorb. Bei Baierl begegnet mir erstmals der Name Waldhauserin. Das war die dichtende Dame Anna Waldhauser (1860 – 1946), deren Mundartverse Mutter Baierl gern vortrug.
6. Juni 2024
Nachtrag: Ich weiß eine Ingrid, die heute 72 wird und von mir vor schätzungsweise 63 bis 65 Jahren eine winzige Kette geschenkt bekam, weil ich Knäblein in sie verliebt war. 50 und mehr Jahre später sprach ich mit ihr erstmals seit damals und es war ein nettes Gespräch. Dass Puschkin heute zu seinem 225. Geburtstag nicht mit einem Allunionsfest geehrt wird, wie es der sterbliche Highspeed-IM Uwe Berger in seinem Irrwitz-Tagebuch „Arbeitstage“ einst beschrieb, verwundert kaum, denn die Union (der sozialistischen Sowjetrepubliken), die angeblich Puschkins Träume in die Tat umsetzte, ist in die ewigen Jagdgründe der Historie entwichen. Gäbe es keinen Putin, wüsste die völlig freie Welt gar nicht, wohin mit all ihrem mutierten Antisowjetismus. Hätte er die Ukraine nicht überfallen, wären all die vielen Ukrainerinnen und -außen weiter so unbekannt wie früher, so aber wissen wir von ihnen und heucheln Interesse so gekonnt, dass wir es selbst gar nicht merken.
5. Juni 2024
Nachtrag: Jeden Morgen liegt auf dem Frühstückstisch die Morgenpost des Hotels mit Tipps und einer Tagesempfehlung: für Montag war es Seßlach, für Dienstag die Burgruine Straufhain und heute Schloss Rosenau. Das lockte uns natürlich, denn dort wurde jener sagenhafte Mann geboren, den Queen Victoria so über alles liebte, dass sie nach seinem frühen Tod nur noch in Schwarz ging vierzig Jahre lang und dem Schwanenteich im Schlosspark schwarze Schwäne stiftete. Zwei späte Nachfolger dieser schönen Tiere sahen wir, die Führung durchs Schloss erleben wir mit einem Paar vom Niederrhein und zwei Britinnen, die Wert darauf legten, aus Wales zu kommen. Bis 1972 wurde das Schloss als Altenheim genutzt, jetzt ist es sorgsam restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich. Für die Therme blieb Zeit anschließend, wir erlebten den zweiten Ida-Schleicher-Aufguss, ohne sie gäbe es die Therme gar nicht, sie ist am 7. Juni 1900 geboren und starb 1978.
4. Juni 2024
Nachtrag: Yoko heißt die wunderbarste Fachkraft, die einen hiesigen Mangel ausgleicht, die wir je kennenlernten. Sie ist Japanerin, ruderte folglich nicht übers Mittelmeer oder schlich über die bulgarische Grenze, gelernte Masseuse, die nicht nur ihre Arbeit hervorragend macht. Sie ist auch freundlich, kommunikativ und sitzt nach vollbrachter Tagesarbeit gemeinsam mit uns in der Sauna, wenn Aufguss ist. Was die einheimischen Fachkräfte ungemein selten tun. Nachdem wir Sonntag und Montag im Thermenrestaurant essen mussten, weil unser Hotelrestaurant Schließtage hatte, ist heute wieder der Normalfall, drei Gänge natürlich auch. Schön immer noch die Einrichtung des „Bierhakens“, den man an seine Zimmertür hängt, wenn man den Zimmerservice abwählen möchte. Der wird mit einem kleinen 03er Bier belohnt, wahlweise geht auch ein anderes Getränk. Endlich beende ich „Jede Sorte von Glück“, Brigitte Reimanns Briefe an ihre Eltern, runde 450 Seiten stark.
3. Juni 2024
Nachtrag: Vor 100 Jahren starb Franz Kafka und weil alle damit befasst sind, halte ich mich erst einmal zurück. Mein Programm ist heute ohnehin ein völlig anderes, ich halte es mit den gestern erwähnten Drohnen: faulenze, greife nicht einmal mich selbst an, weil im Programm eine siebzig Minuten lange Massage enthalten ist. Aber erst morgen. Heute nach dem Frühstück die Therme. Gestern sahen wir noch die Reste des Stadtfestes, das Heimatmuseum auch. Ich kaufte eine uralte Broschüre zum freundlichen Preis von fünf Euro, Titel „200 Jahre Friedrich Rückert“ aus der Reihe „Schriften des Rodacher Rückert-Kreises“, drin ein Beitrag meiner lieben alten Kollegin Margarete Braungart, die ich oft in Meiningen im Schriftstellerverband des Bezirkes Suhl traf. Es gibt einen nach ihr benannten Literatur-Preis seit einigen Jahren, Preisträger sind mir dennoch keine bekannt. Dass an Kafkas Todestag Günther Rühle geboren wurde, sagt mein unerschöpflicher Datenkalender.
2. Juni 2024
Eigentlich sollte es heute nach Zakopane gehen, fünf Übernachtungen, ein schönes und vor allem für uns völlig neues Programm. Zu wenig Interessenten aber, also Absage der Reise, Rückzahlung des bereits überwiesenen Geldes. Angebotene Alternativen wiesen zu viel Bekanntes aus, sodass wir kurzfristig auf vollkommen Bekanntes umschalteten, weswegen hier ein paar Tage Schweigen walten werden. Solide deutsche Überschwemmungen haben ein enormes Nachrichtenpotential, wie wir sehen durften, Kriege und sonstige auswärtige Katastrophen mussten sich hinten anstellen. Die lieben Ukrainer dürfen nun endgültig tun, was sie die ganze Zeit schon wollten. Das kenne ich noch aus der NVA-Philosophie: wir hätten den Gegner auf seinem eigenen Territorium vernichtet, ehe er dazu gekommen wäre, uns überhaupt ordentlich zu überfallen. Die Zeiten ändern sich, Drohnen hatten wir nur in unseren Bienenvölkern, sie waren faul, verriet einst mein Lieblingskinderbuch.