Tagebuch

7. Juli 2024

Lion Feuchtwanger stand nie auf einer Spiegel-Bestsellerliste, keine Buchhandlung musste den kleinen Aufkleber auf ihre Exemplare im Bestsellerregal gleich neben der Tür kleistern, damit auch die Rat- und Ahnungslosen wissen: Hier zuschlagen, das müssen alle lesen, damit sie mitreden können, wenn sie sich im Club der gehobenen Gattinnen treffen. Dazu kommt, der Lion hat auch ein Buch geschrieben mit dem verräterischen Titel „Moskau 1937“, das macht ihn zu einem zu früh gestorbenen Putin-Versteher. Heute ist sein 140. Geburtstag. Der Greifenverlag zu Rudolstadt druckte 1956, als er noch lebte, die Auswahl „Centum Opuscula“, im Klappentext als „Hundert kleine Werke“ erläutert. Darin sind unter anderem auch Theaterkritiken, weshalb ich das Buch vor Jahren erwarb. Das Lesebändchen steckt derzeit bei Schillers „Die Braut von Messina“, was mich an ein uneingelöstes Versprechen erinnert. Welches das ist, weiß nur der, dem ich es versprach: ich.

6. Juli 2024

Nun sind alle meine Lieblingsmannschaften ausgeschieden. Also die, die einigermaßen deutsch sprechen: Schweiz, Österreich und natürlich Schland. Also Deutschland. Wenn Prinz William im Stadion ist, schwenkt die Kamera hie und da einmal auf ihn, wenn Erdogan da ist oder Orban, muss die Kamera geölt werden, weil sie sich nicht schwenken lassen will. Und Bernhard Schlink, der Schlink aller Schlinke, wird heute 80 Jahre alt. Professor und Hyper-Bestsellerautor, das spült Kohle in den Kohlekasten ohne Ende. Ich gestehe, kein einziges Buch von ihm zu besitzen oder gar gelesen zu haben, ich sah wohl die Verfilmung von „Der Vorleser“, wenn ich mich recht erinnere. Das war es aber auch schon. Dennoch finden sich in meinem Archiv diverse Beiträge zu ihm, in den noch unsortierten Haufen von Ausschnitten sicher weitere. Bei Wikipedia kann man jederzeit nachlesen, wann und wie lange ein Schlink auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste stand: Hut ab!

5. Juli 2024

„Heinrich und Kleo auf Reisen“ heißt ein Kapitelchen in Manfred Gebhardts Buch „Die Nackte unterm Ladentisch. Das Magazin in der DDR“. Darin geht es um Heinz Kahlow und Gattin, die über viele Jahre in Kahlows Reisefeuilletons eben als Heinrich und Kleo fungierten. Als ich sehr schweren Herzens meinen aus der Erbmasse stammenden vollständigen Magazin-Bestand der Jahre  1954 bis 1990 ausschlachtete, sammelte ich auch diese Kahlow-Arbeiten heraus. Das einzige Buch, das ich je von ihm las, war „Das Dekameronical“, fünf musikalische Stücke nach dem unsterblichen Giovanni Boccaccio. Das war im August 1978 kurz vor Beginn meines vierten Studienjahres in Berlin. Da gab er es an einer Stelle damaligen Berufskritikern, „die immer einige Zeit abwarten, ehe sie ein vorschnelles Urteil äußern.“ Wir wissen längst, dass die Berufskritiker der DDR keineswegs zuerst oder gar allein immer ihre eigenen Urteile äußerten. Heinz Kahlow wäre heute 100 Jahre alt.

4. Juli 2024

Noch ist es mir nicht gelungen, einmal allein über Hedda Zinner zu schreiben und sie nicht nur zu erwähnen in anderen Zusammenhängen. In ihrem Band „Der Teufelskreis und andere Stücke“ signalisiert mir ein sehr massives Lesezeichen vor der dreiaktigen Komödie „Was wäre, wenn...?“, dass ich hier ein Thema fand, was mir lohnend erschien. Das Werk erlebte zwischen dem dritten und dem siebenten Oktober 1959, quasi anlässlich des zehnten Jahrestages der Gründung der DDR, eine so genannte Ring-Uraufführung an insgesamt elf Theatern. Ich weiß nicht, wie oft dergleichen vorkam, im Oktober 1959 saß ich gerade meine ersten fünf Wochen in der Schule, ich wusste wohl nicht einmal, was ein Theater ist. Dennoch sah ich einmal Hedda Zinner in Bad Saarow, wo unser Ferienheim eine Lesung mit ihr organisiert hatte. Meine Suchmaschine bietet mir wahlweise den 1. oder den 4. Juli (1994) als Todestag, auf ihrem Grabstein steht der 1. Juli. Glauben wir dem Stein.

3. Juli 2024

Nach dem dritten Frühstück zahle ich unsere Rechnung. Ernst Fischers 125. Geburtstag heute rutscht mir durch, Manfred Bielers 90. steht rechtzeitig im Netz. Der Teeladen am Markt öffnet erst um 14 Uhr. Wir fahren eine wilde Strecke bis zur A 38, kommen sehr gut durch. Die Frau an der Rezeption meint, viele würden nach Navi in die Elbe fahren. Der Blick auf den Jubiläumskalender zeigt ganze vier weiße Tage, dafür drei Tage mit zwei, einen gar mit drei Namen, zu denen ich, wenn mein Tag 48 Stunden hätte, schreiben könnte und meist auch würde. Überraschender Anruf heute von einem, den eine Operation in die Situation versetzte, in Ruhe in meinen Büchern zu lesen, die er alle kaufte, als sie neu waren. Ja doch, ein paar treue Leser habe ich. In Quedlinburg kam ich nur am Morgen zum Lesen, Franz Fühmann hat meine aktuelle Aufmerksamkeit und wird sie, wann immer sich Gelegenheit bietet, neu auf sich ziehen. Acht Beiträge von mir zu ihm schon im Netz.

2. Juli 2024

Anfang März vorigen Jahres wohnten wir direkt am Ständerhaus, heute sahen wir uns nach dem Frühstück das eindrucksvolle kleine Fachwerk-Museum dort an. In der oberen Etage Gefühle wie auf hoher See, der Fußboden ist uneben wie nur irgend denkbar in einem 800 Jahre alten Haus. Nächstes Ziel der Domschatz auf dem Berg, den wir noch nicht sahen. Der Name der Heiligen Corona treibt einen Besucher dazu, eine der Aufsichtspersonen mit einem nicht enden wollenden Vortrag über die Pandemie zu belästigen in einer Lautstärke, dass die halbe Kirche mithören kann, Dialekt aus dem Westen. Natürlich aus dem Westen, möchte ich meinen. Abends dann der Festakt mit Oberbürgermeister, Kulturstaatsminister und einem gut getimten Programm: die Reden nicht zu lang, eindrucksvoll die Liebesgeschichte in Briefen zwischen Klopstock und Meta Moller, gelesen von Astrid Kohlhoff und Silvio Beck. Astrid Kohlhoff gibt mir anschließend ihren Programmablauf.

1. Juli 2024

Der Weg zu Klopstock gestern war mit einer Autobahnsperre gepflastert, zum Glück standen wir im Stau so weit hinten, dass wir rückwärts zur Abfahrt rollen konnten und mit einer halben Stunde Verspätung in Quedlinburg ankamen. Unser Zimmer mit Marktblick, zum Parkplatz 100 Meter, 300 zu unserem Vorjahrsdomizil am Ständerhaus. Dass es hier eine staatliche und eine private Gäste-Information gibt, die nicht optimal miteinander kommunizieren, erfährt man nebenher. Wie auch immer: heute ein sehr schöner Stadtrundgang auf Klopstocks Spuren, nicht nur die Führung im historischen Kostüm, auch unterwegs kostümierte Figuren aus Klopstocks Leben. Am Ende das Geburtshaus für uns geöffnet, es gab Klopstock-Wein, einen Weißburgunder vom Landesweingut Kloster Pforta, sehr lecker und gut gekühlt. Anmeldung für den Festakt in der Kulturkirche St. Blasii morgen, die aus Brandschutzgründen maximal 199 Besucher aufnehmen kann, wir darunter.

30. Juni 2024

Ruft man Juli Zeh auf der Plattform aller Plattformen auf, dann erfährt man, dass sie heute ihren 50. Geburtstag feiert. Die Frage, die man gar nicht gestellt hat, wird auch gleich beantwortet: Was ist besonders an Juli Zeh? Die Antwort: „Juli Zeh ist eine der herausragendsten Schriftstellerinnen der zeitgenössischen deutschen Literatur. Durch ihre tiefgreifenden Romane und das starke Engagement in politischen Diskursen setzt sie ein bedeutendes Zeichen in der literarischen Landschaft.“ Mit Romanen hab ich meine Probleme, weil sie mich zu lange festhalten, ob sie tief greifen, entgeht mir folglich und ich bin mir nicht sicher, ob alle ihre neuen SPD-Freunde, die früher nie Juli Zeh lasen, jetzt aber begeisterungsstarr den Namen sprechen, mir glaubhaftes Zeugnis ablegen. Lektüre nach Parteibuch ist ein seltsames Zeichen in der literarischen Landschaft, wofür die Gelesene natürlich nur mittelbar verantwortlich ist. Wir reisen heute gen Klopstock, weshalb hier ein Schweigen folgt.

29. Juni 2024

Erstmals seit langem wieder ein Goethe-Vortrag im Amtshaus, den ich mir anhöre. „Fruchtbares Scheitern – Goethes Ilmenauer Erfahrungen“. Leider bestätigen sich meine Befürchtungen: das ist es nicht. Zu sehr ist das Thema abgegrast, ich selbst habe sechs der Themen oder sieben bereits in Vorträgen und Texten abgehandelt. Und ich würde nie in die Schweiz fahren, um dort vor Goethe-Freunden das Thema „Goethe in der Schweiz“ abzuhandeln. Die Referentin ist Präsidentin der Goethe-Gesellschaft Schweiz, war Assistentin von Adolf Muschg, der 1999 in Ilmenau auch über Goethe in Ilmenau referierte. Dazu kein Satz, der sich festhakte, keine einzige originelle Wendung, alles brav und bieder von Peter im Baumgarten bis zur Redepause 1784. Für mich neu: die neue Dauerausstellung zu Goethe auf dem Gotthard, die es seit zwei Jahren gibt, die Referentin beteiligt. Das weckt Neugier. Von Goethe-Briefen an Frau von Stein bin ich satt wie vom Gedicht „Ilmenau“.

28. Juni 2024

Es gilt, Grüße in Richtung Großhennersdorf zu richten, von wo mich eine Sendung erreichte von imponierendem Volumen, sie trägt den schönen Titel: Günter Kunert. Werke und Beiträge zu seinem Werk – Supplementband 8. Ich bin in diesem Privatdruck doppelt enthalten, was meine Eitelkeit kitzelt, ohne dass ich nun kichern muss. Der kleine Förderpreis der Rudi-Ratlos-Stiftung wird auch in diesem Jahr in der Rubrik „Alter Kram aus dem Osten“ nicht an mich vergeben werden: der Stiftungsrat meint, ich hätte akuten Nachholebedarf in der Narrativ-Theorie und würde unverantwortlich oft glauben, manches in meinem Rentnerleben erinnere zunehmend an die böse Unrechtsdiktatur, zuvörderst der mediale Glaube, von Politikern geteilt, und umgekehrt, man dürfe dem Klassenfeind keine Munition liefern. Da gibt es ganz andere Munitionslieferanten auf dieser Welt, die die Produktion echter Toter fördern, man halte das Maul also statt ewig Unfug zu labern.

27. Juni 2024

Unerwartet lange gestern die Vertreterversammlung der Wohnungsbaugenossenschaft im Parkcafé. Ein Studierendenvertreter vom Studierendenrat fühlte sich berufen, messerscharfe Fragen so lange zu stellen, bis die versammelten Grauköpfe sämtlicher Geschlechter anfingen zu murren und zu maulen. Die Vertreter wechseln, ihre Auftrittsdramaturgie nie. Sie fragen immer nach Solaranlagen zuerst und dann nach Solaranlagen. Während die Grauköpfe immer nach dem Müll fragen. Es ereignete sich auch ein Fall von bösartiger Beschimpfung des Vorstandes, weil der Vorstand etwas anderes sagt als die Stadt. Nun hat zwar die Stadt in Sachen Genossenschaft gar nichts zu sagen, aber gelernte DDR-Bürger Ü70 lernen nicht unbedingt willig, dass man zuerst für sich selbst die Verantwortung trägt. Besser ist es, man kann eine Eingabe an die Obrigkeit machen, auch wenn die sich im Zustand der Unzuständigkeit befindet. Heute Tag des Dauerregens und des Donnerwetters.

26. Juni 2024

Es ist die Zeit des Mähens, kein Fenster darf auch nur auf Lüftstellung stehen, schon ist der Lärm unerträglich. Die Fabrikanten von Newslettern füllen meine Posteingänge, ich muss löschen und löschen, bis die Tastatur glüht. Früher konnte man die Bestellung einfach stornieren, das geht jetzt auch noch, nur kommen die Nachrichten trotzdem. Dafür landen die Antworten von ZVAB jetzt direkt im Spam-Ordner. Banken, bei denen ich nie war, teilen mir mit, dass mein PhotoTAN ausläuft und erneuert werden muss, es braucht nur einen Klick. Wir kennen das dummerweise und klicken auf Löschen. Ich lese über einen Dichter namens Ludwig Greve, der vor Amrum ertrank vor vielen Jahren und nachträglich den Peter-Huchel-Preis erhielt. Vermutlich lese ich die falschen T-Shirts, mir war der Greve völlig unbekannt. Nun hat er sogar seinen 100. Geburtstag in diesem Jahr: am 24. September, da wollen wir uns einmal umschauen, ob ein Jubel herumbrandet im Umkreis.


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