Tagebuch
22. Mai 2024
Diese Wette hätte ich glatt verloren. Ich war fest überzeugt, „Meine hochgeborene Herrschaft“ von Maria Edgeworth gelesen zu haben: vor vierzig Jahren. Stimmt aber nicht. Das schmale Büchlein steht also noch immer in der Hoffnung, von mir nicht nur in die Hand genommen zu werden. Die Irin starb heute vor 175 Jahren und hat sogar Sir Walter Scott beeinflusst, von dem ich allerdings wirklich etwas las vor vielen Jahren. Und jetzt in „Waverley“, wo er sie erwähnt. Es gibt Autoren, denen diese eine Information für ihre armseligen Zeilen zu Edgeworth in ihren Literaturgeschichten ausreicht. Kurz nach 11.30 Uhr wurde ich aus dem einen Raum in den zweiten gerollt: liegend, mit Venenzugang und Messgeräte-Anschluss. Als ich erwachte, war alles vorbei, ich hatte keinerlei Erinnerung an meine Gastroskopie, genau wie im Aufklärungsbogen angekündigt. Es wurde eine Gewebeprobe entnommen, die ungarische Ärztin klang wenig besorgt, ich klinge gern so ähnlich.
21. Mai 2024
Einmal schrieb ich über Klaus Mann, es ist fünf Jahre her, anlässlich des 70. Todestages. Zweimal schrieb ich über Boris Wassiljew, es ist mehr als 35 Jahre her. Als Klaus Mann sich 1949 das Leben nahm, feierte der in Smolensk geborene Russe eben seinen 25. Geburtstag und es folgten noch eine Menge Geburtstage nach, er starb erst 2013. Bei Marcel Reich-Ranicki finde ich über Klaus Mann den Satz: „Dieser Selbstmord war die unvermeidbare Folge seines ganzen Lebens – und nicht eine unmittelbare Reaktion auf aktuelle politische Zustände.“ Und den auch: „Er war nicht nur der Sohn Thomas Manns, er spielte ihn auch.“ Und den: „Nicht einer seiner Romane lässt sich von argen Geschmacksentgleisungen freisprechen, bisweilen geriet er auf die Ebene der Trivialliteratur.“ Das Buch „Thomas Mann und die Seinen“ liegt weiter in Griffnähe. Nicht wegen Klaus, sondern wegen Golo Mann. Der muss nur warten, denn im Vorüberhuschen ist zu dem einfach nichts auszurichten.
20. Mai 2024
Balzac, der berühmte Honoré de Balzac, kam heute vor 225 Jahren in Tours zur Welt, damals war nur nicht Pfingstmontag. Heute füllen viele Balzac-Bände mein Frankreich-Regal, etliche aus der Erbmasse, etliche von mir selbst gesammelt. Zu systematischer Lektüre bin ich nie gekommen, wohl aber in das ihm gewidmete Museum in Paris. Und sah natürlich auch das Balzac-Monument im Musée Rodin in Paris und alles, was dazu gehört. Meine Mutter umgab gern die „Tolldreisten Geschichten“ mit dem Anstrich des Geheimnisvollen, „Verlorene Illusionen“ standen in Gehren immer neben „Glanz und Elend der Kurtisanen“. Es gab auch „Die sehr sonderbaren Geschichten“. Mit „Da geht Kafka“ kam ich am Balaton nur jeden Morgen leicht voran, dafür lese ich morgen das zwölfte und letzte Kapitel. Johannes Urzidil kommt auch darin immer wieder auf seinen Goethe zu sprechen, was zu „Goethe in Böhmen“ natürlich passt. Dort fehlen mir noch eine paar mehr Seiten.
19. Mai 2024
Nicht weniger als fünfmal die 10.000 Schritte in diesem Urlaub, am Budapest-Tag sogar mehr als 17.000. Das große Auspacken der Koffer erst heute, gestern hielt uns noch der letzte Spieltag der Bundesliga leidlich in Atem. Bis spät Berichte überall, auf WDR sogar noch eine Sendung nach der Sendung. Die Wahlwerbung erfrischend. Die Linke lädt schon für 24. Mai ein zur Kommunalwahl. Ob zwei Tage zu früh eigens für unsere Gerechtigkeits-Molche Wahllokale etwa geöffnet werden, ist unsicher, wir anderen wählen die restlichen Parteien erst am 26. Mai. Am Abend schauen wir uns den Krimi von vorigem Sonntag an, Claudia Michelsen muss einen erzdummen Satz sagen und die Regie patzt mehrfach grob. Nicht immer ist es gut, Gesinnung aus dem Fenster baumeln zu lassen. Es guckt ja keiner mehr, ob die Beflaggung stimmt. Der böse Orbán lässt sogar Rentner aus der Schweiz und Norwegen in Ungarn kostenlos Bus und Bahn fahren. Und uns auch. Populismus pur.
18. Mai 2024
Auch auf dem Rückweg dauert es ziemlich lange, wenngleich wir bis Dresdner Tor eine ganze Stunde gewinnen. Unser Busfahrer liebt offenbar die Landstraßen, wo immer welche zu nutzen sind. Vielleicht steckt das zur Mautvermeidung im Blut, vielleicht hat es auch profanere Gründe. Immerhin bediente er sich während der Fahrt aus fünf verschiedenen Haribo-Packungen und war ein angenehmer Fahrer. Schon 6.45 Uhr mussten die Koffer am Bus sein, unsere wurden zuerst verstaut, weil wir erst nach fast allen anderen umsteigen mussten. Nach Ilmenau mit einem Tesla-Taxi, der Fahrer verriet uns, dass 40 Minuten laden ihm mindestens eine Tour jeweils vermasselt, sonst sei das Fahrzeug hervorragend. Wir kennen das vom vorigen Jahr: Tesla heißt Angst und Wasser schwitzen unterwegs, fährt man zu schnell oder ungeplante Umwege. Fahrende Computer eben, von der anderen Seite her gedacht. Zu Hause nichts Nennenswertes in der Post. Kein Anruf.
17. Mai 2024
Balatonfüred: Schon wieder der letzte Tag, kurze Reisen sind nicht länger. Das Ziel heute heißt Pannonhalma, danach Veszprém. Der Tagore an der Strandpromenade ist freigeschnitten, heute endlich ein Foto leidlicher Qualität. Fotografiert habe ich auch ein kleines Denkmal für Tibor Déry, der 1977 starb und zu DDR-Zeiten einer der gefragtesten ungarischen Autoren war. Ebenso Tafeln, die an Blaha Lujza erinnern, die mir bis dahin nur ein Name für eine Budapester Metro-Station war, die erst 1970 eröffnet wurde. Sie war also noch neu, als wir sie 1970, 1971 und 1973 nutzten, in den Jahren danach nicht mehr ganz so neu. Jetzt weiß ich: Blaha Lujza war eine Bühnenschönheit, die ihre Sommer in Balatonfüred verbrachte. Ihr Ferienhaus ist jetzt ein nach ihr benanntes Hotel. Vor dem letzten Abendessen an der Promenade Weinverkostung. Wir tranken einen wunderbaren Rosé an der Lázár Pince. Dort jeden Abend an einem anderen Tisch zu sitzen, wäre eine schöne Sache.
16. Mai 2024
Balatonfüred: Heute Premiere trotz vieler und langer Ungarn-Urlaube: die Puszta, genauer die Bakodpuszta. Wir werden zuerst beköstigt mit Suppe, Brot und Wein nach Belieben, dann gibt es eine Vorführung mit Graurindern als Zugtieren, mit Pferden und einem Esel als Reittieren, final eine Vorführung mit einem Zehnerzug weißer Pferde, je vier in einer Reihe nebeneinander, zwei ganz hinten, auf denen der Reiter steht. Mit einer Kutsche geht es dann hinaus in die weite Landschaft, wo die Graurinder mit ihren Kälbern sich bewegen, die Kälber gar nicht grau. Und Zackelschafe. Alle ganz offenbar an Touristen gewöhnt, sie gehen erst im allerletzten Moment aus dem Weg und schauen immer sehr neugierig. Die Wollschweine sehen wir nur aus größerer Entfernung. Unser Wein vom Montag darf im Zimmer ruhen, wir ließen ihn nicht im Bus, denn nicht alle Straßen sind EU-gefördert gut, was Weine eher nicht mögen. Dafür waren alle, die wir kosteten, hervorragend.
15. Mai 2024
Balatonfüred: Der dritte 90. Geburtstag in kurzer Folge: heute Fritz Mierau, auf den ich irgendwann noch kommen werde. Wir fahren nach Székesfehérvár, das perfekte Wort für den ersten Grundkurs ungarischer Aussprache. Unser Reiseleiter, sonst in allem löblich, verballhornt alle ungarischen Namen und Wörter grauenhaft und nicht einmal die zwei Tage mit dem Muttersprachler gestern und vorgestern halfen. Für morgen heißt es entsprechend: Wir fahren in die Puschta, übermorgen nach Fäschprämm, was also für Einheimische Veszprém wäre. Den berühmten Esterházy nennt er glatt Esterhatsi, man mochte „Gesundheit“ rufen. Am schlimmsten ergeht es Rákóczi, nach dem, wo man auch hinkommt, eine Straße oder ein Platz benannt ist. Er wird zu Rakoschi, den es auch gab, nur war Mátyás eben der Diktator von Stalins Gnaden, der 1956 gestürzt wurde und nicht der gute alte Ferenc. Nachmittags sehen wir in Füred noch das Aquarium und das Sommerhaus von Jokai Mor.
14. Mai 2024
Balatonfüred: Am fakultativen Ausflug nach Budapest nehmen nicht alle teil. Diesmal umkurven wir den Heldenplatz nicht nur, sondern steigen aus. Haben gut Zeit für Schloss Vajdahunyad, den Millenniumsbau. An der großen Markthalle steigen wir aus und verabschieden uns bis zur Treffzeit. Allerlei traurige Anblicke unterwegs: die Mátyás Pince geschlossen, wo wir oft den ersten Abend mit Freund Géza verbrachten. Nicht geschlossen, aber völlig umgebaut das „Bástya“, in dem wir sehr oft zu Mittag oder zu Abend aßen. Zeitweise waren wir etwas wie Stammkunden, denen noch nach Küchenschluss etwas aus dem Kühlschrank geholt wurde. In der Rákóczi ut 28 ließ man uns ins Haus und wir stiegen bis in die dritte Etage, wo wir einst Gäste der Familie Timkó waren. Vor fast vor jeder Wohnungstür damals ein großes Glas mit eingelegten Gurken, Brot darin, das gären sollte. Orangeade hieß fast immer der Getränkewunsch meiner Mutter, ihre Beilage Tomatensalat.
13. Mai 2024
Balatonfüred: Es ist volle 48 Jahre her, dass wir am Balaton waren, 33 Jahre, dass wir zuletzt auch in Ungarn übernachteten. Der missglückte Ausflug nach Budapest von Bratislava aus im vorigen Jahr zählt nicht. Die Rundfahrt heute führte nach Tihany und Badacsony und mich zur Erkenntnis, dass ich mich gestern während der Anfahrt zum See und noch heute in einem sehr dummen Irrtum befand: wir sind auf der Nordseite und nicht auf der Südseite, wo wir von 1965 bis 1976 immer waren. Ein Gebäude in Tihany erkannte ich sofort wieder, weil es nach der Überfahrt damals das erste war, das wir sahen. Jetzt kamen wir natürlich nicht von unten her, sondern von oben. Für heute und morgen haben wir einen netten älteren Reiseführer, ehemaliger Lehrer, der uns viel erzählt. Die Geschichte von der Holzkanone, die Füred zerstören sollte, war die schönste. Dem 90. Geburtstag von Adolf Muschg heute gilt mein Text zu „Noch ein Wunsch“, vordatiert für „Meine Schweiz“.
12. Mai 2024
Balatonfüred: 3.35 Uhr hatten wir am Bahnhof zu sein, wo uns der Zubringerbus zum Hermsdorfer Kreuz erwartete. Dort wiederum standen fünf Busse, von denen drei nach Kroatien wollten, einer an den Chiemsee. Wir mussten warten, bis ein sechster Bus aus Dresden erschien, der den Koordinator enthielt, dem die Aufgabe zufiel, den anderen Reiseleitern zu erlauben, das große Umsteigen in Gang zu bringen. Als unser Bus dann schließlich die beiden letzten Zusteiger am Dresdner Tor zu sich genommen hatte, waren bereits fünf Reisestunden verflossen. Trotzdem kamen wir bei Licht am Balaton an, bezogen das Zimmer 458 im Hotel „Annabella“, welches in den Jahren 1966 bis 1968 erbaut wurde: mit Balkon, mit Seeblick und einem Speiseraum für sehr viele Gäste. Das Essen löblich, alle nichtalkoholischen Getränke inklusive. Zum heutigen 90. Geburtstag Werner Bräunigs mein Text zu „Prosa schreiben“ im Netz. Die gute Nachricht: Alle Ausflüge beginnen erst um 9 Uhr.
11. Mai 2024
Am 11. Mai 2004 verbreitete sich die Nachricht, in Suhl hänge am Brett eine interne Ausschreibung für meinen ehemaligen Job. Da ich gerade eben aus diesen oder jenen Gründen meine ehemalige Redaktion besuchte, hörte ich es aus mehreren Quellen, was die Frage aufwarf, was aus meinem Nachfolger wohl werden soll, wenn ihm schon wieder ein Nachfolger nachfolgen soll. Am Ende hat er länger ausgehalten als Putin als Präsident. Zwanzig Jahre später stehen mir die Aushänge für den nächsten Aufguss in der Sauna näher als die Interna irgendwelcher Redaktionen. Am 11. Mai 1994 bereitete ich mich auf die zweite Männertagsreise allein mit meinem Vater vor. Sie führte uns nach Ernst an der Mosel unweit von Cochem, wo wir gut wohnten, wo ich meinen ersten Elbling trank, von wo es Ausflüge gab nach Trier und über die Grenze nach Luxemburg. Zuerst aber sahen wir das Niederwalddenkmal und später das Deutsche Eck. Und heute ist wieder Reise-Vorabend für uns.