Tagebuch

8. Dezember 2023

Nachtrag: Dass Guy Stern gestern im Alter von sagenhaften 101 Jahren gestorben ist, erfahre ich erst heute, was normal ist. Woher ich seinen Namen kenne, ist unspektakulär: eines Tages kaufte ich antiquarisch ein Buch mit dem Titel „Zum Verständnis des Geistigen“, Verfasser: Efraim Frisch. Über den habe ich inzwischen mehrfach geschrieben, zuletzt zum Termin 1. März in diesem Jahr. Herausgeber des Bandes von Frisch war Guy Stern, er schrieb auch die natürlich von mir benutzte Einleitung. Frischs „Zenobi“ liegt immer noch in Griffweite auf meinem Arbeitstisch. Vor 100 Jahren, am 8. Dezember 1923, präsentierte das Alte Theater Leipzig die Uraufführung von Brechts „Baal“. Alwin Kronacher war damals Schauspieldirektor, es gab einen soliden Theaterskandal, der noch nie einem Autor wirklich geschadet hat, wie wir nicht erst seither wissen. Nach Berlin kam das Stück erst 1926. Max Mell, den ich nun wieder systematisch lese, sah keinen Brecht als Kritiker.

7. Dezember 2023

Nachtrag: Die Theaterkritiken von Josef Hofmiller, die ich gestern und vorgestern las, sollten mir ein Thema für einen kleinen Text sein. Auch weil ich sowohl seinen 150. Geburtstag im vorigen Jahr als eben seinen 90. Todestag im Oktober verstreichen ließ. Nein, ein Theaterkritiker war er nicht. Was nur bedingt gegen ihn spricht. Viele waren es nicht und blieben es trotzdem. Ich kann mich seit heute wieder telefonisch krankschreiben lassen, was mir wenig hilft, denn niemand hat Interesse an meinem Krankenschein. Außerdem gehen Ärzte und Ärztinnen so selten ans Telefon ihrer Praxis, dass es am besten wäre, die Bundesregierung würde im nächsten Schritt erlauben, dass sich Menschen ohne Lese-/Rechtschreibschwäche selbst bei Bedarf krankschreiben. Zu überlegen ist, ob eine eventuell auftretende Häufung von Fällen mit einer Aussetzung der Lohnfortzahlung zu verbinden wäre. Fehlerfreie Selbstkrankschreibungen sollten als Sprachkompetenznachweis gelten.

6. Dezember 2023

Nachtrag: Zu Hause nun endlich die „Selbstbetrachtungen“ begonnen, die natürlich keinen anderen Wassermann bringen. „Jeder Versuch, sich selbst zu sehen, scheitert an der Unabänderlichkeit des Ichseins, und jeder Versuch, sich selbst zu erkennen, an der Ungewissheit des Selbstseins.“ Auf der Basis solcher Überzeugungen Romane und sogar durchaus nette Einakter zu schreiben, scheint mir abenteuerlich: abenteuerlich inkonsequent. Konsequent sind dagegen Lokführer. Ab morgen wollen sie uns wieder alle in Geiselhaft nehmen für ihre hehren Ziele. Vorbei sind die guten alten Zeiten, als Gewerkschafter und Sozialdemokraten den Acht-Stunden-Tag als Sieg feierten und zwar den in einer Sechs-Tage-Woche. Heute müssen es 35 Stunden in einer Fünf-Tage-Woche sein, voller Lohn natürlich inklusive. Als unser oller Karl aus Trier an sinkende Wochenarbeitszeiten dachte, gab es die Fachkraft Lokführer im Dutzend billiger, jetzt müssen sie aus Adams Rippe geschnitzt werden.

5. Dezember 2023

Nachtrag: 10.000 Schritte gelangen mir an keinem dieser kalten Tage in Franzensbad, die kurzen Wege im 40-Zimmer-Hotel waren auch nicht angetan, viel zu helfen, das war vor einem Jahr in Bad Rodach anders. Schwer vorzustellen, dass seit meiner großen Operation in Halle nun schon wieder ein komplettes Jahr vergangen ist. Mein linkes Bein will immer noch nicht wirklich seine Dienste tun, immer wieder zuckt da ein Schmerz, dort ein Schmerz, nie lange, aber es reicht. Schlimmer ist, was sich oberhalb und unterhalb der Kniekehle abspielt, es könnte ein Meniskus-Schaden sein vom zweiten Sturz im August her. Bis zum Orthopädie-Termin ist aber noch eine Weile Zeit. Heimwärts fuhren wir nicht die Umgehungsstrecke der Anreise und kamen auch alles in allem sehr gut durch. Die Wohnung in dieser einen Woche extrem ausgekühlt. Wir beschlossen, die Heizung auch über Nacht erst einmal anzulassen. Mein „Hundert Kerzen für Tendrjakow“ heute vordatiert im Netz.

4. Dezember 2023

Nachtrag: Schon ist der letzte Behandlungstag erreicht, mir bleiben Fangopackung, klassische Teilkörpermassage und Whirlbad. Der feierlichen Einweihung des Weihnachtsbaumes gestern sind wir ferngeblieben. Wir schauten ihn uns heute an. Von den Rudolstädtern haben wir uns mit Foto zur Erinnerung verabschiedet, sie wollen uns besuchen, wenn sie in Ilmenau sind. Zum letzten Abendessen haben wir eine neue Tischgenossin aus Aschaffenburg, der wir von unseren schlechten Erfahrungen mit Aschaffenburger Inkasso-Unternehmen erzählen müssen. Nachdem ich gestern tatsächlich mit „Mein Weg als Deutscher und Jude“ zu Ende kam, fing ich heute die nächsten Seiten im Sammelband an, bis zu den „Selbstbetrachtungen“ schaffte ich es aber nicht mehr. Wir befreiten das Auto so weit als möglich vom Eis und drehten unsere vorerst letzte Spazierrunde. Natürlich nahmen wir zum Essen noch einmal den Welschriesling des ersten Abends, den wir auch kauften.

3. Dezember 2023

Nachtrag: Pünktlich um 13 Uhr werden wir vor dem Hotel von einem kleinen Bus abgeholt, der mit uns, den Rudolstädtern und einigen anderen aus anderen Hotels die Egerland-Rundfahrt antritt. Ein recht gut deutschsprechender junger Mann erklärt uns vieles, was wir zum Teil kaum sehen, denn es ist schlechte Sicht unterwegs. Er erklärt uns weniger als in Marienbad die Reiseleiterin im Frühjahr, die uns vor allem Einblicke in die jüngere Geschichte verschaffte von der fehlenden Landwirtschaft bis zu den Vertreibungsfolgen. Auch jetzt sehen wir kahle Gegenden, wo früher ganze Dörfer lagen. In Eger gibt es eine kleine Stadtführung inklusive Glühwein, danach haben wir bis zur Rückfahrt freie Zeit. Wir stehen vor dem Haus, in dem Walleinstein ermordet wurde. Der Weihnachtsmarkt ist hübsch, es ist aber zu nasskalt, um zu verweilen. So besuchen wir geöffnete Geschäfte, um uns zu wärmen und kaufen am Ende sogar bei Asiaten zwei Einlegesohlen mit Fell gegen eiskalte Füße.

2. Dezember 2023

Nachtrag: Heute und morgen sind für uns anwendungsfreie Tage, wir sehen aber, dass das nur für uns gilt. Andere wandern in ihren weißen Bademänteln umher, sitzen brav in den Wartebereichen. Unsere Tischnachbarn überlegen, eher nach Hause zu fahren. Sie haben ein schlechtes Gewissen ihrer beiden Katzen wegen, die für diese paar Tage ihre vertraute Umgebung verlassen mussten. So reden wir über Katzen und Hunde und Dörfer und Reviere und Gewohnheiten. Auch heute nur sehr wenig Wassermann, dafür aber gleich solche Sätze: „Wahre Verantwortung ist wie ein mit Herzblut unterschriebener Vertrag. Er bindet über alle Einwände der Vernunft hinaus, und Freiwilligkeit und Urteil vermögen nichts gegen ihn.“ Wie ist denn ein mit Herzblut unterschriebener Vertrag, wer stoppt die finale Blutung, wenn die Unterschriften stehen? Nein, dergleichen geht gar nicht für mich. Heute finden wir eine Tafel für den Walzerkönig Johann Strauß, der mehrmals Kurgast war.

1. Dezember 2023

Nachtrag: Mich erwartet heute noch vor dem Frühstück eine Elektrotherapie im Schwesternzimmer. Dann Perlbad in der Hydrotherapie, am Nachmittag die zugebuchten Massagen: Fußreflex und eine indische Kopfmassage. In Kenntnis einheimischer Physiotherapie-Preise für vergleichbare Leistung sind wir mehr als nur angetan und schon entschlossen, in einer günstigeren Jahreszeit erneut eine Woche zu kommen. Für 2024 ist erst einmal Marienbad zum zweiten Male vorgesehen. Nur zwölf Seiten Wassermann heute, dafür fotografieren wir jenen Franz, nach dem das Bad genannt ist, jenen Dr. Bernhard Adler mit Schneehaube auf dem Marmorkopf, dem die Stadt das Kurwesen verdankt. Die ausgedehnten Parkanlagen müssen wunderschön sein, wenn alles grün ist und nicht gefroren. Das Kurviertel ist Kulturerbe und rasch rundum erkundet. Eine spezielle Abhandlung zu Goethe und Franzensbad kennt man in der Tourist Information nicht, wir sollen aber in Eger nachfragen.

30. November 2023

Nachtrag: Drei Anwendungen in dichter Folge am Morgen bringen den Vorteil eines langen freien Tages. Ich schaffe 48 Seiten schwer genießbaren Wassermann, dessen Buch alles ist, was ich nie als Autobiographie bezeichnen würde, es ist faktenarm, selten anschaulich, kaum einmal so auf den Punkt formuliert, dass ich mir den Satz notieren würde. Gestern standen wir am Goethe-Denkmal und sahen, dass wir den Kammerbühl auf keinen Fall sehen werden in dieser Woche. Heute sahen wir das Wilhelm-Müller-Denkmal, der nur 1826 Kurgast in Franzensbad war. Der Sauvignon am Abend war der dritte trockene tschechische Weißwein, den wir kosteten, er war der schwächste, der Welschriesling der beste, auch wenn uns die Chefin des Hauses ihren Weißburgunder nahelegen wollte, der freilich auch sehr respektabel war. Mit an unserem Tisch sitzt seit dem ersten Abend ein Paar unseres Alters aus Rudolstadt, mit dem wir uns sofort gut verstanden und viel schwätzen.

29. November 2023

Nachtrag: Wir hätten um 13 Uhr schon da sein sollen, was uns aber niemand vorher mitteilte. So war unser Vorstellungsgespräch bei der Ärztin schon Geschichte, ehe wir überhaupt die Rezeption passiert hatten. Wir besiedelten Zimmer 108 mit Blick auf einen Frisör-Salon und eine Vinothek, bekamen noch vorher den Tisch Nummer 8 zugewiesen und durften auf einem Vordruck ausfüllen, was wir an welchem Tag zu essen gedachten. Erstmals gültig für heute, denn gestern mussten wir nehmen, was es gab. Ersten Fußgang in Dunkelheit und Kälte absolvierten wir in die unmittelbare Nachbarschaft. Das Zimmer hat einen freundlichen und gut beleuchteten Schreibtischplatz, was mich immer erfreut, denn ich habe die Absicht, mit Jakob Wassermanns „Mein Weg als Deutscher und Jude“ so weit wie möglich zu kommen. Meine erste Anwendung heute: Moorpackung, gleich um 7 Uhr. Danach nach dem Frühstück Wassergymnastik und eine angenehme manuelle Therapie.

28. November 2023

Eine Franzensbader Elegie hat Goethe leider nicht hinterlassen, denn Silvie von Ziegesar übte wohl eine so große Anziehungskraft auf ihn aus, dass er sich in aller Heimlichkeit wie einst gen Italien von Karlsbad gen Franzensbad aus dem Staub machte, dort aber war es mit dem Inkognito dann nicht weit her. Heiratspläne hätte der noch nicht ganz so alte Goethe ohnehin keine schmieden können, denn zu Hause in Weimar wartete Christiane mit August. Der Gatte sandte ihr Wasser, von dem er selbst gern trank. Wir werden heute hoffentlich ohne Störungen in Franzensbad eintreffen und ganz sicher nicht sogleich auf Goethes Spuren wandeln. Nach Karlsbad 2013 und Marienbad in diesem Jahr, als Büsche und Bäume noch kahl waren, nun auch das dritte der Bäder Westböhmens, da Büsche und Bäume wieder kahl sind. Hier wird deshalb eine unvermeidliche Sendepause folgen, die wiederum mit Nachträgen ausgeglichen wird. Bis dahin genießen wir diverse Anwendungen.

27. November 2023

Wenn ich in meinem Archiv schnüffle an der Stelle, wo Material zu Eugene O’Neill gesammelt ist, falls ich da schon alles einsortiert habe, dann sehe ich eine ziemlich erdrückende Übermacht von Kritiken zu „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, sogar mich selbst habe ich dorthin sortiert, weil ich eben, lang ist es her, im Landestheater Eisenach, selige Zeiten in diesem schönen Haus, eine Inszenierung sah. Meiner DDR-Ausgabe mit O’Neill-Stücken fügte ich nach dem Niedergang des Ausgabelandes zwei Bände „Meisterdramen“ hinzu, bei S. Fischer erschienen, in Band II steckt heute noch als Lesezeichen ein Verlagsflyer für H. G. Wells „Die Welt des William Clifford“. Den Roman kenne und besitze ich nicht, mein Wells-Bestand stagniert bei sechs Bänden. Zuletzt las ich von O’Neill „Unterm karibischen Mond“, das war am 27. November 2013. Was damals der 60. Todestag war, ist heute der 70., ich werde „Im Nebel vor Cardiff“ lesen, das ist sehr schön kurz.


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