Tagebuch

23. April 2024

Auf Montag verschobene Sonntagsreden zu Immanuel Kant und seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ sind in einem kriegsgeilen Ampelland dreifach peinlich. Natürlich heißt es am Anfang des ersten Abschnitts „Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht wird.“ Das passt vielen in ihren üblichen Jammerkram. Schon auf der nächsten Seite aber steht bei Kant: „Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.“ Das passt gar nicht in einem Ampelland, das Staatsschulden Sondervermögen nennt und Weichspüler in die Schuldenbremsensoße gießen will. Schützt Kant vor asexuellem Missbrauch durch ahnungslose Redenschreiber! Rückwärts zu neuen Steilufern! Nachhaltigkeits-Apostel in die Produktion! Selbst die doofe DDR wusste, das man Geld erst verdienen muss, ehe man es ausgibt. Sie hielt sich nur nicht dran: Mit dem bekannten Ende.

22. April 2024

Schatten wirft er nun keine mehr voraus, der 300. Geburtstag von Immanuel Kant ist da. Mit meiner inzwischen 61. Arbeit zu Arthur Eloesser bin auch ich ihm ein wenig näher gekommen. Vermuten will ich, dass neben allen Verdiensten, die er sich in Königsberg und der Welt erwarb, auch große Schadwirkung von ihm ausgeht bis heute. Er ist der Vater des Gedankens, dass guter Wille alles, gute Wirkung nichts oder nebensächlich ist. Er ist der Vater des Gedankens, dass guter Wille dem Wollenden wichtig ist, nicht dem Wirkenden. Alles blinde Gutmenschentum, alle Zeichensetzerei ohne Sinn und Verstand, außer dem Sinn des Selbstgenusses, gehen auf ihn zurück. Es ist auf ihn eine Rechtfertigungsethik für fast alles zu bauen. Ihn zu stützen im Gegensatz zum Utilitarismus, der allein wegen seines Platt-Materialismus als Popanz bestens brauchbar wurde, scheint leicht. Im wirklichen Leben testete ich heute mein erstes estnisches Duschgel, es wird wohl das letzte bleiben.

21. April 2024

Im September ist es schon wieder zehn Jahre her, dass ich Racines „Phädra“ im Meininger Theater sah. Ich will nicht behaupten, dass es mir frisch im Gedächtnis haftet, aber ich könnte nachlesen, was ich schrieb. Meine Datei zu „Andromache“ ist vollständiger als die zu „Phädra“, was nicht einmal mich beunruhigt, andere haben ganze Symphonien unvollendet gelassen, wieder andere das Fragment zur Kunstform erklärt. Von beiden bin ich meilenweit entfernt und frage mich sofort, wieso ich von Meilen rede, wo doch sonst der Kilometer mein Urmeter ist. Man schwätzt halt vor sich hin. Da Jean Baptiste Racine am 21. April 1699 starb, steht er in Reclams Literatur-Kalender 2024, in dem mancher und manche fehlt, die ich hineingesetzt hätte, wenn ich ein Kalendermacher wäre. Lieber aber wäre ich ein Wettermacher, dann würde ich den Aprilschnee vom Kickelhahn pusten. Meine AOK-App meldet mir am Morgen das Erreichen des Monatszieles. Jippie, heißt das.

20. April 2024

Der April macht, des Reimes wegen, was er will. Heute will er ein wenig mehr Schnee fallen lassen, nachdem er nun bereits seit Tagen versucht, die Erinnerung an erste Balkonsitzungen mit Aperol und ohne Thermohose in Vergessenheit zu drängen. Graupel fielen auf uns, der Kickelhahn sah weiß aus, die Kirschblüten mussten tapfer sein. Das alles hält uns nicht davon ab, an Richard Huelsenbeck zu denken, der am 20. April 1924 in Muralto in der Schweiz starb, nahe Ascona und Locarno, wo wir uns Ende Oktober 2004 herumdrückten, was auch schon wieder fast 20 Jahre her ist. Huelsenbeck studierte an sechs Universitäten vier Fächer, brachte es bis zum Schiffsarzt und ging hinein in die Geschichte als Mitbegründer des Dadaismus. In der Gruppe Trio spielte er nicht mit, obwohl die auch „Da-Da-Da“ sang. Das Ärzteblatt verlegt seinen Tod nach Minusio, was an Muralto grenzt und also keine Streitigkeiten begründen helfen sollte. Dada muss man nicht mögen.

19. April 2024

Als der Henschelverlag in seiner dialog-Reihe 1977 einen Band mit vier Stücken von Stefan Schütz veröffentlichte, lebte selbiger noch in Potsdam, 1980 kehrten er und seine Frau der DDR Popo nebst Rücken. Ein Lesezeichen steckt ziemlich weit vorn in „Odysseus' Heimkehr“, ich kam offenbar zu keinem Ende. Seinen heutigen 80. Geburtstag kann Schütz nicht mehr feiern, er starb 2022 am 13. Dezember in Oldenburg. Ich kann auch nicht mehr als blättern bei ihm heute: „Ich werde alle meine Leiden eurer Wahrheit übergeben und nichts verschweigen“, lässt er seinen Odysseus sagen und das hätte dem Sinne nach auch George Gordon Noel, 6. Baron Byron, schreiben oder unterschreiben können, den die Welt als Lord Byron kannte und mit gewissen Transportverlusten unterwegs auch jetzt noch kennt. Der starb heute vor 200 Jahren in Missolunghi, was ihm den Ruf einbrachte, für Griechenland gestorben zu sein. Tatsächlich war es ein Sumpffieber nach vorherigem Schlaganfall. 

18. April 2024

Die Jahrestage fliegen tief, nicht alle bringen ein schlechtes Gewissen, wenn sie verstreichen, ohne mich in höchste Alarmbereitschaft versetzt zu haben. Der gute alte Marcel Pagnol zum Beispiel hatte zwar jahrelang einen Tag nach mir Geburtstag, aber am 18. April 1974 starb er, knapp ein Jahr vor seinem 80. Ohne meine Sammelleidenschaft für die bb-Reihe des Aufbau-Verlages wäre im Regal zwischen Gabriel Marcel und Gabriel Chevallier zwar keine Lücke, sein natürlicher Platz aber unausgefüllt. So stehen da nun „Marcel – eine Kindheit in der Provence“ und „Die Zeit der Geheimnisse“ brav nebeneinander, 722 Druckseiten zusammen. Und morgen ist schon der 250. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Riemer, den ich nicht ganz verstreichen lasse, aber auf die etwas längere Bank schiebe, die Goethe-Bank sozusagen, auf die er ohnehin gehört, denn wenn er nur Karoline von Humboldt, Wilhelms Gattin, angeschmachtet hätte, wäre er längst schon vergessen.

17. April 2024

Heute vor zehn Jahren starb in Mexiko City Gabriel Garcia Márquez. Bei uns der Tag, den wir Gründonnerstag nennen, auch der 150. Geburtstag von Karl Henckell, den damals wie heute kein bleibender Ruhm umschwebte. Zu meinem 50. Geburtstag schenkte mir der damalige Landrat „Reise zum Ursprung“ von Dasso Saldivar, eine Biographie „über“ Garcia Márquez, so der etwas ungewohnte Untertitel. Mir ist die leichte Unsicherheit des Landrates vor Augen, der sich vorsichtig erkundigte, ob er denn das Richtige getroffen hätte. Ich konnte ihn beruhigen. Das Büro des OB hatte sich nach meinem Wunsch erkundigt und sich so abgesichert. Der Nobelpreisträger von 1982 nimmt innerhalb meiner eher dürftigen Lateinamerika-Bestände einen gewichtigen Platz ein, auch „Leben, um davon zu erzählen“ fehlt nicht. Es sind neun DDR-Ausgaben dabei, der Rest ist von Kiepenheuer & Witsch. Für ihn rutschte mein Bestand Isabel Allende komplett in die zweite Reihe.

16. April 2024

„Beim Namen gerufen, sind wir in der innersten Substanz berührt, die uns zusammenhält.“ Schrieb Sibylle Lewitscharoff, die seit Mai vorigen Jahres nicht mehr gerufen werden kann, sie starb kurz nach Vollendung ihres 69. Lebensjahres. Einmal bin ich ihr in Berlin begegnet, im ersten Moment nicht sicher, wer mich da unverwandten Blickes anschaute, im langen Mantel, beige-oliv, will mir meine Erinnerung einreden, eine Handtasche am langen Henkel über der Schulter. Hinterher sagte ich mir: vielleicht kam ihr mein Gesicht tatsächlich bekannt vor, vielleicht überlegte sie sogar kurz, woher. Viel mehr Buchpreise als sie bekam, kann man in Deutschland kaum bekommen, was die wichtigen betrifft. Darunter 1998 der Ingeborg-Bachmann-Preis, 2011 der Kleist-Preis und 2013 der Georg-Büchner-Preis. Folgerichtig ist mein Archiv zu ihr auch überaus gut gefüllt. „Vom Guten, Wahren und Schönen“ heißt das Buch mit dem Zitat. Erst 70 wäre sie heute geworden, kein Alter.

15. April 2024

Immer wenn ich etwas von Joachim Müller lese, denke ich: Warum hat der Westen das nie für sich ausgeschlachtet: ein NSDAP-Mann, 1945 aus dem Schuldienst entlassen aus nämlichem Grunde, ist bald NDPD-Mitglied in der DDR und Professor, der gelegentlich milde verschämt auf eigene Arbeit aus den Jahren 1933ff in einer Fußnote verweist und dann aber tapfer dusselige Artikel aus der Großen Sowjetenzyklopädie zitiert. Ich las am Morgen „Goethes Byrondenkmal“ aus dem Jahr 1954, geschrieben anlässlich des 130. Todestages von Lord Byron. Als Müller zu „Childe Harold“ schrieb, 1938, erschien das 388 Seiten starke Buch „Lord Byron stirbt für Griechenland“ von Claus Schrempf, das jahrzehntelang im Buchbestand meiner Eltern stand bis zu seiner Überantwortung an den Antiquariatsbuchhandel. Jetzt könnte ich es vielleicht brauchen, aber so ist das Leben. Ich habe trotzdem noch mehr Bücher als gut ist für meine Hausstaub-Allergie. Für Husten ist immer gesorgt.

14. April 2024

Wehe, wenn die ARD-Brennpunkt-Redaktion zuschlägt an einem Sonntag. Nicht nur der Tatort beginnt später. Es ist ohnehin nur der aus der Schweiz. Da die Tore noch nicht gezeigt werden dürfen, die die Meisterschaft vorzeitig entscheiden, darf man sich auf die Sendung in den dritten Programmen freuen. Die aber beginnen zur normalen Sendezeit, weil die Dritten eben nicht auch noch diesen albernen Brennpunkt, der alles wiederholt, was eben die Tagesschau hyperausführlich schon brachte, abermals wiederholt. Ergebnis: die Tore sind fast alle durch, als der Bursche mit den Rohdiamanten aus dem Schimpansenbauch irre kichernd in den Sonnenuntergang rast. Nach der dritten Wiederholung aller Iran-Nachrichten in den Tagesthemen gibt es dann die Tore. Von welchen Themen will man ablenken, könnte meine Frage lauten? Der Kanzler ist zeitgleich auf China-Trip, um sich dort teilnehmend nach dem Schicksal der Uiguren bei VW zu erkundigen oder so ähnlich.

13. April 2024

Zum Glück haben wir in Deutschland keine anderen Probleme. Deshalb befassen sich unsere Think Tanks, die man wohl nicht mit Denkpanzer übersetzen sollte, mit den wirklich wichtigen Dingen dieser Welt. Also: wie entwürdigend es ist, die Hosen herunterzulassen zur Klärung der Frage, ob man ein Weiblein oder ein Männlein sei. Wir sind Zeitenwende, wie wir einmal eine Weile Papst waren. Bei uns geht es nun auf Zuruf und die Welt ist besser als vorher. Wenn sich also am 1. November neun von sechzehn Dax-Vorständen zur Frau erklären, ist das Thema der männlichen Dominanz vom Tisch. Frauen, die im Beruf weniger verdienen als männliche Kollegen für gleiche Tätigkeit, die rufen beim Meldeamt an und rubbs, wird der Gehaltsscheck fetter. Aus Heinz wird Hilde und wenn dem Heinz seine Gattin (des Heinzes Gattin) dann sagt, die hab ich aber nicht geheiratet, gewinnt das Null-und-Nichtig völlig neue Dimensionen. Nichts gegen Deutschland.

12. April 2024

Mario Voigt, der westdeutschen Welt nicht bekannter als bei uns fränkische Sozialdemokraten oder niedersächsische Liberale, bot gestern dem Höcke eine Bühne. So die Lesart unserer Nachrichten-Wirtschaft. Ich kann nichts dazu sagen, weil ich das Geschehen auf den Brettern, die die Welt24 bedeuten, nicht sah. Ich schaute mir einen Reißer an mit einem ziemlich alten Mel Gibson und dann den Rest Leverkusen nebst Kommentar des ziemlich alten Lodda Maddäus. Las gleich vor dem Frühstück heute „Die wahre Geschichte des Ah Q“ zu Ende, vor vielen Jahren vom ziemlich alten Christoph Hein geschrieben, als er noch ziemlich jung war. Die Uraufführung 1983 in Berlin war unter neun Uraufführungen Heins bis 1989 die einzige in der Hauptstadt der DDR, den Rest streute die Hauptverwaltung Abklärung umher, was den Bühnen in den Bezirksfürstentümern zugute kam, die damals nicht einfach als Provinz abqualifiziert werden konnten, so sehr sie es dennoch waren.


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