Tagebuch
25. August 2025
Als ich am 25. August 1975 in Gehren den Zug bestieg, um schließlich nach Umsteigen in Ilmenau und Erfurt in Berlin zu landen, musste ich mich bis Biesdorf durchschlagen, wo mich für eine Nacht ein Behelfsquartier aufnahm. Das geschah, weil ich sonst die technische Immatrikulation am 26. August um 11.15 Uhr im Hauptgebäude der Humboldt-Universität nicht sicher erreicht hätte. Das wollte ich aber, weil alle Alternativen seltsam klangen im Anschreiben an den künftigen Studenten der Philosophie. Ich erinnere mich sehr dunkel, dass ich ein dunkles Zimmer betrat im Wohnheim „Victor Jara“, aber ein Bett war noch frei. Kein Mensch dachte damals daran, des 75. Todestages von Friedrich Nietzsche zu gedenken. In den Regalen meiner Eltern stand nur eine kleinformatige Ausgabe des „Zarathustra“, in der ich gelegentlich geblättert hatte. Heute, zum 125. Todestag, fällt man in Weimar fast aus den Stöckelschuhen vor Begeisterung: er ist unser Erbe, sagt die Unesco.
24. August 2025
Nach „Stadtmitte umsteigen“ gestern ist heute „Im Lustgarten“ im Register gelandet, jetzt habe ich tatsächlich 26 Bücher von Heinz Knobloch komplett gelesen, der dickste Wälzer von ihm ist noch in Arbeit, er ist mein Katzenaufsichts-Begleitbuch von 492 Seiten. Am Ende von „Im Lustgarten“ war ich geneigt, aufzuatmen, es reichte mit Lustgarten. Das Buch tendiert ein wenig in Richtung Volltextsuche ohne Suchmaschine, wofür Knobloch natürlich wenig konnte. Man blätterte halt früher in Lexika und ähnlichen Nachschlagewerken mit angefeuchteten Fingerspitzen, man saß in Lesesälen auf durchgesessenen Ledersesseln und durfte kein Staub-Allergiker sein. Ernst Wiechert, den die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen den „großen Deuter des Leidens und der Schwermut, aber auch den Künder von der Tapferkeit des Herzens“ nennt, starb am 24. August 1950 in der Schweiz. Er steht bei mir zwischen Kurt Wolff und Georg Trakl und vor Arnold Zweig.
23. August 2025
Wenn eines Tages die Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik, die natürlich in die neue nahtlos mitgeschleppt wurde, geschrieben werden sollte, dann müsste ein Kapitel nicht nur den etablierten Quoten-Ossis gelten, die sich jede bessere Redaktion hielt, sondern auch die Stellvertreter-Ossis aus dem alten Ostblock. Wir halten uns unseren Ukrainer, bis sich herausstellt, dass der eigentlich ein Russe ist, wir haben unsere zweieinhalb Rumänen, unsere drei Ungarn, bei den Tschechen sind wir schon etwas unsicher, Slowaken überlassen wir den Österreichern und ihrer Erinnerungskultur, die ja überhaupt mit denen besser können, weil die einst zu ihnen gehörten. Bulgarien ist unser Ilja Trojanow, der für uns die Welt bereist und die Feuilletons füllt und dabei hat er es mit dem heutigen Tage auch schon auf sechzig Lebensjahre gebracht. Als ich noch bulgarische Studenten hatte, hieß es immer, die Bulgaren seien die Preußen des Balkans. Ich habe es nie überprüft, sie waren fleißig.
22. August 2025
Wenn man jemandem zu nahe tritt, steht man ihm noch nicht zwingend auf den Füßen. Das fiel mir eben ein und steht deshalb hier, denn andere Tagebücher führe ich nicht. Wir sehen heute, und zwar zu unserer großen Überraschung, die letzte Folge von „1923“ komplett werbefrei, nachdem uns bis gestern stets drei Werbepausen mit je fast fünf Minuten Länge den Blick nach den Katzen erlaubten, die zu späterer Stunde den Balkon nicht mehr verlassen wollen. Nach „Yellowstone“ und „1883“ wollte „1923“ mir bis zur letzten Folge der zweiten Staffel nicht so recht gefallen. Fünf bis sieben Parallelhandlungen in Kleinportionen verabreicht zu bekommen, ist nicht meine Sache. Dafür aber bleiben wir auch die nächsten Tage bei Taylor Sheridan und sehen uns „Landman“ an. Nikolaus Lenau, der vor 175 Jahren in Oberdöbling starb, das seit 1892 zu Wien gehört, fand sein Grab nicht auf dem Wiener Zentralfriedhof, sondern auf dem Weidlinger Friedhof bei Klosterneuburg (NÖ).
21. August 2025
Wo war ich am 21. August 1968? Schlechte Frage, die ich irgendwo schon beantwortet habe. Ich saß an einem Redaktions-Schreibtisch und war froh, dort sitzen zu dürfen. So viele Plätze waren für 15jährige da nicht vorgesehen. In Bielefeld hätte ich Tochter eines Autohausbesitzers sein müssen, um ein Volontariat im Osten zu bekommen 1990, da war ich schon promoviert und Bielefeld zahlte mir das Gehalt eines Westvolontärs. Andere traf es schlechter. Am 21. August 2015 starb in Landau in der Pfalz der Germanist Walther Hinck, von dem ich eine verblüffende Menge Bücher besitze. Für „Das moderne Drama in Deutschland“ und „Theater der Hoffnung“ muss ich nur meinen Sessel drehen, andere Titel stehen, der Mann war Jahrgang 1922, leider in der obersten Reihe meiner nach Geburtsjahrgängen geordneten Bibliothek. Diesbezügliche Kletterpartien werden voller Argwohn beobachtet, ich konnte bisher aber jeden Absturz verhindern. Walter Hinderer steht weiter unten.
20. August 2025
Als die Ukraine frisch überfallen war, wollten unsere Kriegsministerinnen 5000 Stahlhelme dorthin liefern und alle lachten. Dabei hatten die wirklich keine Stahlhelme. Hätten wir ihnen stattdessen 10.000 Rasenmäher jener Marke geliefert, mit der der Balkonnachbar heute unendliche zwei Stunden die Nachbarschaft traktierte, die Russen wären kurz vor der Grenze Gehör-traumatisiert in Richtung Heimat abgedreht und unsere Drohnen-Start-Ups müssten sich andere Krisengebiete als Abnehmer suchen. Vor 80 Jahren, am 20. August 1945, starb Alexander Roda Roda, der Mann mit der roten Weste, in New York City. 2022 widmete ich ihm in kurzer Folge zwei Texte, was mir einen freundlichen Kontakt mit seiner Biografin einbrachte. Sie bezichtigte mich keiner Fehler, was immer schön ist, weil die so genannten Experten selten mehr Spaß haben als an Fehlern anderer. Im Buch „Die Kummerziege und andere Dienstbotengeschichten“ steckt wartend mein Lesezeichen.
19. August 2025
Es ist erstaunlich, wie viel wertvolles Wasser man auf eine lange Hecke sprühen kann, wenn einem der aktuelle Wasserpreis nicht im Wege steht. Der kleine solargetriebene Springbrunnen auf dem Katzenbalkon nimmt sein Wasser aus sich selbst und hört sofort auf zu sprühen, wenn man ihn mit vollem Körpereinsatz in den Schatten versetzt. Arnolt Bronnen, am 19. August 1895 in Wien geboren, am 12. Oktober 1959 in Berlin gestorben, damals noch Ost-Berlin, ist ein Fall für Erklärer geworden: mal Brecht-Intimus, mal Nazi mit Abstrichen, dann Förderprojekt der jungen DDR. Das Leben in Reinkultur, heute würde mancher von Hufeisen-Theorie faseln, dem das neu erscheint, die etwas Geschulteren kennen ihren Hegel gut genug. Mit Hufeisen ist man in der Fledermaus-Fauna besser beraten als in der Dialektik menschlicher Persönlichkeiten, die sich, unbegreiflich allen Dogmatikern, vermutlich tatsächlich aus ihren Widersprüchen heraus entwickeln, Ende meist offen.
18. August 2025
Einmal besichtigte ich das Maison de Balzac im Pariser 16. Arrondissement. Weil es ganz in der Nähe eine Explosion mit Glasschaden gab, standen auf einem Balkon in der vierten Etage nahebei zwei nackte Frauen, die sich nur ein sehr kleines Handtuch vorhielten, um ihrer Neugier von oben Genüge zu tun. Meine Neugier von unten hielt sich in Grenzen: Man ist nicht umsonst kurzsichtig. Innen war ich beeindruckt und meine um die Bestände meiner Eltern erweiterte Balzac-Sammlung ist ansehnlich, interessant auch die vielen verschiedenen Übersetzerinnen und Übersetzer. Am 18. August 1850 starb Balzac. Karl Marx sah in ihm eine Art schöngeistiges Handbuch der Politischen Ökonomie des Kapitalismus, kombiniert mit Lehrheften für kritischen Realismus. Ich interessierte mich als älteres Kind vor allem für seine „Tolldreisten Geschichten“. „Verlorene Illusionen“ kamen später dazu, da brauchte ich zu diesem Thema keinen Roman mehr, schon gar keinen französischen.
17. August 2025
Müsste ich erklären, warum mich Ludvik Kundera nie wirklich interessiert hat, käme ich in Nöte, Erklärungsnöte. Vielleicht verwechselte ihn mein Unterbewusstsein immer mit Milan Kundera, der mich noch mehr nie wirklich interessierte, auch wenn von ihm wenigsten auf dem Umweg über die Bibliothek der Süddeutschen Zeitung sein Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ an mich geriet. Das Münchener Blatt machte das Buch zur Nummer 1 der Reihe „50 große Romane des 20. Jahrhunderts“. Heute stünde da sicher ein Roman eines Ukrainers, will ich glauben, aber die Zeiten ändern sich. Der Kundera, der am 17. August 2010 starb, war schon früh befreundet mit Franz Fühmann, der ihn auch übersetzte. So habe ich doch etwas von ihm, nur eben unauffällig. Der kleine Bruder des Klimawandels heißt Wetterwandel. Ihm zu Ehren werden keinerlei Institute gegründet, keine Konferenzen auf den Seychellen einberufen. Aber er kühlt ab oder wärmt endlich.
16. August 2025
„Vom Wesen des Feuilletons“ heißt das ziemlich dicke Buch, das ich heute als Nummer 48 des laufenden Jahres 2025 in mein Leseregister eintrug. Es ist ein über weite Strecken ärgerliches Buch mit ärgerlichen Thesen, albernen Zitaten aus dem Mutterland der Arbeiter, seltenen Belegen für ein völlig undissidentisches Schaffen von Rainer Kunze bis zum Beginn der 60er Jahre. Einige seiner hier gedruckten Lehren hat der Verfasser zunächst zu ernst genommen, anderen ist er bald nicht mehr gefolgt, später war ihm das frühe Buch bisweilen eher peinlich, aber er hat sich bekannt zu ihm, was ihn ehrt. Mancher hat seine Stalin-Gedichte verleugnet, obwohl er gar keine geschrieben hatte. Mit dem heutigen Samstag beginnen unsere Katzenwochen. Der kürzlich gemeldete Rekord in unmittelbarer Folge gelesener Bücher eines Autors von 2009 ist gebrochen, der ewige Rekord bleibt bestehen, denn 27 Bücher eines Autors kann ich erst lesen, wenn ich sie greifbar besitze.
15. August 2025
„Berliner Feuilleton“ heißt das Büchlein, das ich heute als Nummer 47 des laufenden Jahres 2025 in mein Leseregister eintrug. Ich musste nicht alles darin mehr lesen, weil ich einige Sachen schon aus anderen Bänden des Verfassers kannte. Eingetragen wird erst, wenn alles gelesen ist, völlig logisch. Eingetragen in meinem Trötsch-Jahreskalender für mögliche Schreibanlässe ist für heute Leonie Ossowski. Die hieß eigentlich Jolanthe von Brandenstein. Ich gebe zu, dass ich auch nicht Jolanthe heißen wollen würde, wenn ich Jolanthe gehießen hätte. So aber schrieb sie als eine der frühen Leonies, heute wimmelt es von ihnen schon auf hundert Metern Straße vielfach und sie schrieb das Buch „Die große Flatter“. Die DDR liebte das Buch, weil es die Gebrechen der Bundesrepublik alt so herrlich vorführte. Heute wäre sie 100 Jahre alt. Falls meine Suchmaschine nicht lügt, dachten zwei Radioprogramme an sie. Die Bundesrepublik liebt ihre Gebrechen nicht, wie einst die DDR.
14. August 2025
Erstaunlich, was man alles von einem Bahnhof erzählen kann, den es schon lange nicht mehr gibt. Ein gelblicher Rest steht noch, ich war da, aber natürlich ohne Assoziationen. Wer dort jedoch einst mit dem Zug aus Dresden gekommen ist, um hinfort in Berlin zu leben, wer erstmals in seinem Kinderleben allein mit der Bahn von Berlin nach Dresden fahren durfte zu seiner Großmutter, dem ist der Anhalter Bahnhof etwas Besonderes. So wäre mir die Haltestelle in Gehren etwas, weil ich dort frühe Biere trank, in die kurz ein Tauchsieder gesteckt wurde, so wäre Gehren Hauptbahnhof etwas, weil ich dort Russen sah, die damals noch Sowjetsoldaten hießen und eigentlich nicht in einer Bahnhofskneipe Schnaps und Bier trinken durften. Aber sie taten es. Unser Klassentreffen ist heute nicht in Gehren, sondern in Langewiesen, ab 17 Uhr, hieß es. 17.01 Uhr war ich schon der letzte, der kam. Wir sind eben Rentner, stehen vor der Tür um 6.45 Uhr, wenn 7 Uhr geöffnet wird.