Tagebuch
25. September 2025
Fahrt zum Ebro-Delta, ein Aussichtsturm. Die Anlegestelle für die Schiffe und allerlei Lädchen für Touristen mit Spezialitäten, Reis, Reisprodukte, wir erfahren viel über Nutzung des Deltas, über Schutz des Deltas, sehen in der Ferne Flamingos in gewaltigen Mengen. Noch ehe wir uns versahen, wurden wir fotografiert auf dem Schiff, nach der Rückkehr war ein Teller mit diesem Foto zu erwerben. Man sieht meine mäßige Begeisterung für solche geschäftstüchtigen Überfälle. Doch es gibt schlimmere Arten des Geldverdienens. In meiner Reiselektüre „Conrad Ferdinand Meyer“ von Franz Ferdinand Baumgarten halte ich heute auf Seite 103. Es liest sich besser, als ich dachte und frischt meine Meyer-Kenntnisse massiv auf. Der Wein, den es am Abend kostenlos gibt, war als weißer eine reine Katastrophe, als Rosé ist er erträglich. Unsere Tischnachbarn, die 65 Jahre verheiratet sind, picheln eisern die ganze Flasche Rotwein aus, obwohl sie eigentlich keinen trinken.
24. September 2025
Valencia, den Namen kennen wir natürlich vom Fußball. Die Stadt aber ist überwältigend. Wir sind zuerst in einer Stadt in der Stadt: es ist die „Stadt der Künste und der Wissenschaften“, entworfen von Santiago Calatrava. Hört man von Bauzeiten, von Finanzierungen und Refinanzierungen, von Einnahmen aus der Nutzung der von allen Seiten imposanten Bauwerke, liegt eine Frage sofort auf der Hand: warum geht das hier und bei uns nie? Valencia ist auch im historischen Kern mehr als nur sehenswert. Unser Rundgang beginnt am Torres de Serranos und endet auch dort, wir haben Zeit, ihn zu besteigen, sehen die Kathedrale, die Markthalle und ein kleines Museum, die Casa de les Roques, die Figuren und Gegenstände der Fronleichnamsprozession aufbewahrt. Frei zugänglich, für Fotografen attraktiv. Für mich attraktiv: Ein Laden in der Markthalle mit Bieren aus aller Herren Länder, ich musste mein Sammlerherz gewaltsam niederfrequent schlagen lassen. Herrliche Sorten.
23. September 2025
Vor allem hat unser Zimmer 239 einen wuchtigen Balkon, über den man sich so weit lehnen mag, wie man will, man sieht nichts vom Nachbarbalkon und wird auch nicht von dort gesehen. Das ist ein Vorzug, der durchaus selten ist. Wir unternehmen heute nach Programm einen Ausflug zum historischen Kern der Stadt, zu der unser Hotel gehört und dessen Namen es sogar trägt. Es ist ein Weg bergan zu bewältigen, unterwegs ein Muschelhaus, das offenbar als eine Hauptattraktion gilt und tatsächlich eine ist. Oben gibt es eine Festung, es gibt einen Leuchtturm, einen Garten, den man besichtigen kann, wenn man eine Eintrittskarte für beides erworben hat. Wir schaffen das nicht und wissen, was wir am programmfreien Tag tun werden. Immerhin sehen wir in der Ferne unser Hotel nahe am Strand, wir sehen als Statue Papa Luna, den Gegenpapst Benedikt XIII, auf den noch Clemens VIII folgte. Neben Rom hatten nur Avignon, Viterbo und Pisa einen oder mehrere Päpste.
22. September 2025
In Bussen kann ich normalerweise nicht lesen. Ich bin froh, dass uns seit Jahren die Wildecker Schmerzbuben und andere Versuche akustischer Körperverletzung erspart bleiben. Zur Sicherheit bin ich mit BlueTooth-Hörern ausgestattet, alles zu übertäuben, was mich melancholisch machen könnte. Heute aber lese ich ein komplettes Büchlein im Bus. Es trägt den Titel „Kleines Thüringer Bratwurst-Buch“, ist geschrieben von einem Uwe Keith, den nicht Frank Wedekind erfunden hat. Das Büchlein war die Nummer 13 der Reihe, in der mein „Ilmenau von A – Z“ die Nummer 50 wurde später. 12.57 Uhr passieren wir die spanische Grenze. Nirgends brauchen wir mehr unsere Münzen zur Toilettenbenutzung, die bei uns obligatorisch sind, um den Umsatz der Raststätten zu erhöhen. Denn man darf nur noch einen Bon pro Produkt einsetzen, das heißt Sanifair, ist aber schon lange bestenfalls Sani, aber fair nicht mehr. Es ist Nepp. Unser Zimmer hat etwas Meerblick.
21. September 2025
5.05 Uhr ist, darauf könnte man sich einigen, eine unchristliche Zeit für einen Busbahnhof-Termin. So sind sie aber, diese Zeiten, denn vor jeder längeren Busreise steht Logistik. Da sitzen Menschen, noch keine KI, die überlegen, wer wo abgeholt werden muss und wessen Abholung man damit gut verbinden kann. In der Regel treffen sich dann irgendwo mehrere Busse und alle aus diesen Bussen müssen warten, bis alle anderen Busse auch da sind. Alle dürfen aussteigen und sich den Bus suchen, der sie ans Ziel bringt, falls sie nicht, was die absolute Ausnahme wäre, schon im richtigen Bus waren. Die große Hoffnung: niemand schnappt sich den falschen Koffer und merkt es erst, wenn er am Nordkap ist, obwohl die Koffer in Sizilien sein müssten. 14.05 Uhr dringen wir in Frankreich ein, genauer: ins Elsass, das wir recht gut kennen. Da sind bereits neun Stunden um seit dem Busbahnhof. Und es geht noch nach Lyon. In Lyon haben wir Zimmer 415 und sind hungrig.
20. September 2025
Auf dem Friedhof an der Liesenstraße Berlin tobt heute das Fontane-Gedenken, ich werde sicher einen authentischen Live-Bericht bekommen und dann in meinen wohl verdienten Kurzurlaub reisen, von dem ich zurückkehre, wenn Benno Pludra seinen 100. Geburtstag feiern würde, wäre er nicht schon vorher gestorben. Der Oktober beginnt mit gleich vier 100. Geburtstagen, wer soll da nachkommen, da kann man froh sein, dass einige auch in den ersten Tagen des neuen Monats starben, vor fünf Jahren, vor zehn Jahren. Die Zahlen sind beliebig zu setzen. Wer lange gedenkt, lebt lange, würde Oskar Sima sagen, den man jetzt natürlich googeln müsste. Heute ist Thüringen das Land mit dem gesetzlichen Feiertag, der verhindert, dass ich wie sonst meine Sonntagszeitung kaufen kann. Ich muss sie zum Schaden meines Zeitungskioskes in fremden Bundesländern erwerben und mit ins Ausland schleppen, was Unfug ist, aber freistaatliche Feiertagspolitik, basta.
19. September 2025
Orange markiert steht in meinem Trötsch-Kalender heute Ulrich Greiner. Es ist die Markierung der Geburtstagskinder und das Kind Greiner wird genau 80 Jahre alt. Er ist in Offenbach am Main geboren. Früher dachte ich, wenn ich ein Foto von ihm sah, immer, er sei eine Art Wiedergänger von Andy Warhol. Natürlich kenne ich ihn hauptsächlich aus der Hamburger ZEIT und so sehr viel älter als ich ist er auch nicht. Vermutlich würde er voller Verachtung auf mich herabblicken, wüsste er, dass es mich gibt. Hätte ich nicht einen Platz am Katzentisch der deutschen Kritikertafel zu beantragen und den abschlägigen Bescheid demütig hinzunehmen? Ich will nicht leugnen, dass ich ein paar Bücher von Greiner besitze, die über der Tür meines Wohnzimmers in Richtung Flur stehen, was ein guter Platz ist, denn ich muss mich nur ein wenig recken, um eines herauszunehmen aus meiner Regal-Maßanfertigung, ich brauche keinen Hocker oder Stuhl um heranzukommen, ja.
18. September 2025
Manchmal gilt auch für Bücher: im Dutzend preiswerter. In meinem Fall: nur ein knappes halbes Dutzend. Genau fünf Bücher von Günter Hartung, von dem ich bisher nur „Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus“ besaß aus dem Jahr 1983. Ich hätte es dabei bewenden lassen, wenn Hartung nicht 1981 in „Weimarer Beiträge“ ein Schlachtfest mit Heinz Knobloch veranstaltet hätte. Das aber machte mich neugierig, mich schüttelte Wut vor so viel professoraler Selbstüberhebung, was mehr als vierzig Jahre später natürlich Unfug ist. Ich wollte, als ich wusste, was dieser Professor noch so geschrieben hat, zwei seiner Bücher von nach 1990 gern haben, bekam aber fünf zum nur leicht höheren Preis dieser beiden. Also besitze ich jetzt alle fünf und Hartung dürfte einer der ganz wenigen alten DDR-Professoren sein, der auf solch eine postsozialistische Werkausgabe verweisen kann. Zwei Bände haben Widmungen: für Dieter Schlenstedt und Manfred Lauermann.
17. September 2025
Als ich kürzlich in der Taylor-Sheridan-Serie „Landman“ zwei Frauen sah, die sich das Vergnügen gönnten, Gutes in einem Altersheim zu tun, wo die Senioren mehr oder minder von Mahlzeit zu Mahlzeit vor sich hin dämmerten, Höhepunkt war der Besuch eines Strip-Clubs, dachte ich sofort an Jack Nicholson im Film „Einer flog übers Kuckucksnest“. Der verschaffte seinen Mitgefangenen aus der Anstalt ein ähnliches Vergnügen und wurde unmenschlich dafür bestraft. Die beiden Frauen kamen mit dem Kopfschütteln anderer davon. Geschrieben hat die Vorlage des Films Ken Kesey und das Buch ist wie der Film auch in der DDR erschienen. Heute wäre Kenneth Elton Kesey, so sein kompletter bürgerlicher Name, 90 Jahre alt, nur etwas älter als der gestern verstorbene Robert Redford. Doch er starb schon 2001. Die ihn heute vergessen, dürfen 2026 seines Todestages gedenken. Fast mehr als Randle McMurphy beeindruckte mich seinerzeit der Häuptling Bromden.
16. September 2025
Für einen, der selbst im Laufe der Jahrzehnte, so muss ich es ja nun schon formulieren, so um die 700 bis 750 Gedichte geschrieben hat, nur dreieinhalb Dutzend davon sind auch veröffentlicht, lese ich wenig Gedichte. Wenn ich von Heine absehe, von dem ich alle las, ist nur Günter Kunert allein auf weiter Flur, von dem ich ganze Reihen seiner Lyrik las. Jetzt bin ich bei Jens Gerlach. Nicht aber, weil ich ihn plötzlich entdeckte oder vor sehr vielen Jahren seine „Dorotheenstädtischen Monologe“ las, sondern weil er 2026 zu denen gehört, deren 100. Geburtstage mich beschäftigen sollen. Mit „Der Gang zum Ehrenmal“ und „Das Licht und die Finsternis“ fing ich an. Gerlach war eines der seltenen schreibenden Exemplare, die von West nach Ost auswanderten. Unter den 1926 Geborenen waren solche, die sich dem Führer schenkten, indem sie freiwillig in die Waffen-SS eintraten oder solche, die das nicht taten, wie Heinz Knobloch. Fast alle sind inzwischen mausetot.
15. September 2025
Kurz entschlossen mache ich Willy Levin zum zweiten Mal zum Thema. Das hätte ich gar nicht planen können, eine Text-Spende macht es möglich. Alles andere wird geschoben, ich könnte mich bei den 68er Spontis bewerben: kurze Entschlüsse, langer Marsch durch die Institutionen, oder waren es Ämter, die sie entern wollte? Ich wohnte in einem anderen Land. Auch bei uns gab es Menschen, die behaupteten, durch Teilhabe ändern zu wollen. Es geht nur von innen heraus, sagten sie. Mich bespringt der Gedanke, dass Gedichte, die edlen Gebilde, mit Feuilletons, diesen unedlen Gebilden, womöglich verbindet, dass die einen nur wegen eines Verses, einer Zeile geschrieben werden, die ich dann markieren kann wie die anderen wegen eines Nebensatzes, den sie loswerden müssen in und zwischen den Zeilen. Vielleicht ist aber alles auch ganz anders. Der Sturm wehte heute Teile eines Blumenkastens von oben auf unseren Balkon, die Obermieter leugneten alle.
14. September 2025
Noch knapp zwei Jahre dauert es, bis ich sagen darf: ich habe die Hälfte meines Lebens in der DDR verbracht. Das ist immer noch viel, aber die Hälfte wird kleiner und kleiner, wie sich unter Brüdern sagen ließe. Ich selbst werde, wenn es in offiziell verbreiteten Verlautbarungen mit rechten, nicht mit linken Dingen zugeht, dadurch immer wertvoller. Ich erinnere einen Schaufensteraufkleber in der Unteren Marktstraße in Gehren, der das Ende der Lebensmittelmarkenzeit ankündigte oder mitteilte. Und kenne noch unsere Butter-Nummer: 363. Die musste man ansagen, damit im Sechs-Pfennig-Heft hinter der Fleischtheke, die damals noch nicht so hieß, nachgeschaut werden konnte, ob uns noch Butter zustand oder wir schon alles weggefressen hatten. F. C. Weiskopf, der kein Fußballclub war, sondern Franz Carl hieß, starb am 14. September 1954, da konnte ich schon laufen und Bücher schieben. Also im Regal nach hinten, wenn ich davor auf dem Hintern saß. Schöne Zeit.