August Stramm: Rudimentär

August Stramms Leben war ein kurzes. Ein Kopfschuss beendete es am 1. September 1915. Hauptmann der Reserve August Stramm, geboren am 29. Juli 1874 in Münster, soll der letzte seiner Einheit gewesen sein, den es traf, alle anderen waren bereits vorher gefallen oder an ihren Verwundungen gestorben. Mit 15 Lebensmonaten im Krieg übertraf August Stramm die durchschnittliche Lebenserwartung eines Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg um mehr als das Doppelte, die makabere Statistik besagt also, dass einer gleich sterben durfte, wenn ein anderer nicht nur sieben Monate durchhielt, sondern noch acht mehr. August Stramm hinterließ eine Frau, die Schriftstellerin Else Krafft (15. Mai 1877 bis 7. Februar 1947) sowie die beiden Kinder Inge und Helmuth, 1903 und 1904 geboren. Sein Schwiegervater Edmund Krafft war Redakteur der berühmten Vossischem Zeitung. Das Erscheinen seines zweiten Gedichtbandes „Tropfblut“ erlebte Stramm nicht mehr, Herwarth Walden gestaltete die Titelseite der Septemberausgabe seiner Zeitschrift „Der Sturm“ vom September 1915 als Todesanzeige für August Stramm.

Das Leben und Schaffen des Dichters August Stramm ist vom Leben und Schaffen Herwarth Waldens nicht zu trennen. Der Spiritus Rector des Sturm-Kreises, der in erste Ehe mit Else Lasker-Schüler verheiratet war und im sowjetischen Exil eines der zahllosen Opfer des Stalin-Terrors wurde, er starb am 31. Oktober 1941 in einem Gefängnis bei Saratow, seine Tochter Sina erfuhr das genaue Todesdatum erst volle 25 Jahre später, förderte Stramm, publizierte ihn in „Der Sturm“ und in den „Sturm-Büchern“, die in besseren Jahren antiquarische Spitzenpreise erzielten. August Stramm war Dramatiker, bevor er Lyriker wurde, weshalb es kein Fehlgriff ist, seines hundertsten Todestages mit einigen Blicken auf seinen Einakter „Rudimentär“ zu gedenken. Dieser entstand, gesicherte Angaben sind nicht bekannt, 1912 oder 1913, Anfang 1914 wurde er für den Druck noch einmal überarbeitet und wird gelegentlich sein erfolgreichstes Bühnenwerk genannt, was freilich innerhalb eines insgesamt eher erfolglosen Bühnenwerkes wenig bedeuten will. René Radrizzani, Herausgeber der Ausgabe „Das Werk“ (Wiesbaden 1963) und des Ablegers „Dramen und Gedichte“ (Stuttgart 1979) hat Stramm sowohl eine Spitzenleistung unter den naturalistischen wie auch unter den expressionistischen Einaktern bescheinigt. Doch nicht einmal der Stuttgarter Reclam-Verlag selbst nahm diese Bewertungen so ernst, dass er die speziell gelobten Texte in seine verdienstvollen Einakter-Sammlungen aufnahm.

Es ist nicht ganz leicht, nach Wirkungsspuren des Bühnenautors Stramm zu suchen. Das führt dazu, dass sich manche spektakuläre Aussage nicht verifizieren lässt. So heißt es bei Rudolf Haller (14. Februar 1909 bis 1975) etwa: „In Lothar Schreyers Studio-Aufführung auf der Berliner Sturmbühne spielte die Darstellerin der Titelrolle nackt.“ In seiner vernichtenden Kritik dieser Aufführung von „Sancta Susanna“ hat Herbert Ihering am 16. Oktober 1918 kein Wort von einer nackten Hauptdarstellerin verlauten lassen, er hat sogar die Kostüme der Beteiligten beschrieben und lediglich eine Entkleidungsszene erwähnt, was im prüden Kaiserreich, das da noch herrschte, wenngleich in seinen letzten Tagen, durchaus mit dem Freilegen eines weiblichen Oberschenkels oder Schulterblattes bereits Sensation gemacht hätte. Schreyer (19. Oktober 1886 bis 18. Juni 1966) hat sich ganz in dem Stile, den ihm der Kritiker Ihering bereits 1918 ankreidete, noch 1948 seiner Inszenierung gerühmt als einer expressionistischen Musteraufführung. Er war bald nach seinem Sturmbühnen-Engagement Leiter der Bühnenklasse am Bauhaus Weimar (1921 – 1923) und gehörte zehn Jahre später zu jenen 88 Schriftstellern, die im Oktober 1933 das nachhaltig peinliche Treuegelöbnis für Adolf Hitler unterzeichneten.

Der Einakter „Rudimentär“ erschien als Nummer II in der Reihe der „Sturm-Bücher“ und es ist mehr als bemerkenswert, dass von den 16 römisch nummerierten Bändchen der Reihe sieben von August Stramm sind. „Sancta Susanna“ eröffnete die Reihe 1914 und erlebte 1917 sogar eine zweite Auflage. Nach „Rudimentär“ erschienen „Die Haidebraut“ (1914 = IV), „Erwachen“ (1915 = V), „Kräfte“ (1915 = VIII), „Geschehen“ (1916 = XI) sowie „Die Unfruchtbaren“ (1916 = XII). Auch Lothar Schreyer war zweifach vertreten, dreimal sogar ein Aage von Kohl (7. Dezember 1877 bis 5. August 1946). „Rudimentär“ kommt mit drei Personen aus, von denen nur eine im laufenden Text, nicht im Personenverzeichnis, einen Namen hat. Es sind ein Ehepaar und ein Hausfreund, der den Beruf eines Chauffeurs ausübt und nur Chauffeur genannt wird. Er verfügt als einziger der drei über Geld. Heute liest sich der Einakter, in dem ausschließlich Berliner Dialekt gesprochen wird, was ihn in der Tat dem Naturalismus annähert, wie eine frühe Vorwegnahme dessen, was man verwaschen gern Unterschichten-Fernsehen nennt. Die Pointe ist so makaber, dass sie kaum Eingang ins Nachmittags-Programm finden würde. Insgesamt bedient der Text das Klischee „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“ und erzeugt eines mit Sicherheit nicht: Mitleid. Damit steht es dem Naturalismus wiederum eher fern.

René Radrizzani hat dem Einakter bescheinigt: „... rudimentär ist das trostlos verkommene, parasitäre Dasein dieser Leute … ist das Bild einer moralisch haltlosen, vertierten Menschheit, für die nur Geld und Vergnügen zählt.“ Hier greift das Wort Menschheit natürlich entschieden zu weit, wie auch mit Geld und Vergnügen kaum das Wesen dessen getroffen wird, das diese Leute weiter vegetieren lässt. Denn Geld meint hier schon kleinste Münzen, Vergnügen ist ein Rest Schnaps in einer fast leeren Flasche und die Aussicht auf etwas mehr Schnaps, zwei Mark in der Tasche lösen schon Hochstimmungen aus. Für Radrizzani ist im Stück „eine heruntergekommene Sprache Ausdruck eines heruntergekommenen Menschentums“. Herunterkommen setzt freilich ein vorgängiges Obengewesensein voraus, von dem aber ist im Text nicht die Spur zu erkennen. Ob das Ehepaar je arbeitete und wenn ja, was, ob es Berufe erlernt hatte und wenn ja, welche, ist komplett ausgeklammert. Sichtbar dagegen wird, hörbar, genauer gesagt, das funktionelle Analphabetentum des Ehemannes, der äußerste Mühe hat, allein das Wort „rudimentär“ auf einem Zeitungsfetzen unter der Tapete zu entziffern. Selbstverständlich hat er nicht die geringste Ahnung, was es bedeutet, dennoch fesselt es ihn auf sonderbare Weise, er kommt immer wieder darauf zurück.

Humorlos ist der Einakter nicht, denn der Chauffeur erklärt seinem Saufkumpan, dessen Frau er dreist anbaggert und antatscht, rudimentär heiße Blinddarm. Gleichzeitig hat er eine gute Nase aufgrund seiner wahrscheinlich doch leicht höheren Rudimentär-Intelligenz. Als er nämlich gehört hat, das Paar habe sich wegen seiner Not mit Gas vergiften wollen, gestorben aber sei lediglich das Kind, das zu Füßen der Eltern quer und eingewickelt im Bett lag, während der Hund unterm Bett überlebte, wird er stutzig. Er erklärt das nicht, aber der gebildete Leser kommt von selbst auf die Idee, dass dieser Chauffeur in seinem Leben einmal etwas von schwereren und leichteren Gasen gehört haben muss und deshalb mit seiner Vermutung richtig liegt, der Hund müsse sogar vor dem Kind gestorben sein. Wenn der Hund aber flüchtete, dann kann die Todesursache des Kindes eben nicht das ausströmende Gas gewesen sein. Die Eltern müssen also keine Anklage wegen Kindstötung fürchten, was sie mit Erleichterung aufnehmen. Vollkommen aus dem Häuschen aber geraten sie, als sich erweist, dass gar kein Gas ausgeströmt ist. Just am Vortag wurde es nämlich wegen unbezahlter Rechnungen gesperrt.

Womit die makabere Pointe verraten ist. Nun liegt die Leiche des Kindes nur noch als minderer Problemfall auf dem Bett. Die Mutter schluchzt ein wenig, der Vater aber ist vor allem damit befasst, Essen in sich hineinzustopfen, das er selbst mit einer Flasche Schnaps vom Geld des Chauffeurs rasch einkaufte. Dem ist es als einzigen irgendwie unbehaglich zumute, er drängt auf Abgang aus der Dachstube. Voll tiefen Sinnes ist, was er dazu sagt: „bloß aus de Bude hier raus! ich halt eich frei! alle frei! Hier is man je keen Mensch mehr!“ Begeistert davon, diese Symbolik erkannt zu haben, schreibt René Radrizzani in seinem Nachwort: „... und am Schluss eilt die ganze Gesellschaft bezeichnenderweise in den Tierpark.“ Genau das tut sie nicht. Die ganze Gesellschaft begibt sich in den Tiergarten, was in Berlin eigentlich nicht zu verwechseln ist. Auch im Stramm-Text selbst ist das völlig eindeutig nachzulesen: der Chauffeur will erst seinen Wagen im Tiergarten abstellen, was er im Tierpark gar nicht gekonnt hätte, den es zudem damals noch gar nicht gab, wohl aber den Zoologischen Garten, von dem wiederum gar keine Rede ist, nirgends.

Liest man, was andere über Stramm geschrieben haben, dann ist neben Herwarth Walden, für den Stramm so etwas wie sein Vorzeige-Projekt war, auch der Einfluss Marinettis immer wieder genannt. Filippo Tommaso Marinetti (22. Dezember 1876 bis 2. Dezember 1944) war, man kann es gleich in der ersten Zeile des WIKIPEDIA-Artikels über ihn nachlesen, ein italienischer Schriftsteller, ein faschistischer Politiker und der Begründer des Futurismus. Es ist faszinierend, wie selbstverständlich ein Professor wie Rudolf Haller, der einst an der Universität Bonn lehrte, die politische Seite Marinettis einfach ausblendet, um ausschließlich seine futuristische Programmatik zu erörtern. „... solche Forderungen haben Stramm ebenso beeindruckt wie Marinettis Ruf nach Dynamik und Ersetzen des Sprachschönheit durch den brutalen Ausdruck, der die Spießbürger verstört.“ Woher diese Art Programmatiker die krude Überzeugung nehmen, dass ausgerechnet ihr Feindbild-Popanz Spießbürger nichts Besseres zu tun hat, als Avantgarde zu konsumieren, um sich verstören zu lassen, bleibt rätselhaft, das Phänomen solcher Illusion lebt bis heute bei fast jedem Verstörungsfabrikanten in Kunst und Literatur. Haller erkennt aber, dass Stramms Verfahren (in der Lyrik) „bis an die Grenze der Vergewaltigung des Wortes“ reicht. Das wusste fünfzig Jahre vor ihm auch Herbert Ihering schon.

Es bleibt aus heutige Sicht interessant, sich mit dem Phänomen August Stramm zu befassen. Herausgeber Radrizzani schreibt: „... nur bei ganz wenigen Künstlern klaffen äußeres Leben und innere, künstlerische Bestimmung so seltsam auseinander“. Stramm erfüllt in der wandelbaren Terminologie der Zeitgeist-Publizistik der Jetztzeit den schon längst wieder vermoderten Begriff des „Exactive Dropouts“, dessen Typus beschrieben wurde mit dem braven Schlipsträger, der nach Feierabend, am Wochenende und im Urlaub vollkommen ausflippt. Man könnte das auch praktizierte Entfremdung nennen, falls das noch jemand versteht. August Stramm war nicht nur Reserveoffizier, vor allem war er als Sohn eines Postbeamten Postbeamter, zuletzt sogar im Reichspostministerium, seine später Promotion galt ebenfalls einem Postthema. Post und Avantgarde, Post und Sprachzertrümmerung, geht das in ein Bild oder muss der Interpret wegen seiner eigenen Unfähigkeit, das in ein Bild zu bringen, von Seltsamkeiten reden? August Stramm hatte offenbar kein Problem damit, Jüngere als Autoritäten anzuerkennen (Walden, Marinetti), er hatte kein Problem damit, an der Seite einer erfolgreichen Trivialautorin zu leben. Vielleicht hat es nie einen Autoren gegeben, der wie er versuchte, nach Rezept zu schreiben?

Walter Muschg schrieb in seinem Buch „Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus“, erschienen 1961 in der Sammlung Piper, dies: „Im Februar 1912 hielt Marinetti in der großen Berliner Futuristen-Ausstellung einen Vortrag, und das muss der zweite Geburtstag des Lyrikers August Stramm gewesen sein. Er stürzte sich mit deutscher Gründlichkeit auf Marinettis Thesen, und Walden begrüßte ihn als den Lyriker des Jahrhunderts. … Seither figuriert er unter den Großen des Expressionismus und wurde wie Holz eine Verlegenheit der Literaturgeschichten, die nicht wissen, ob sie ihn für ein Genie oder einen Stümper halten sollen. … Originell an ihm ist nur, dass er nicht mehr mit der Sprache dichtet wie Rilke oder George, sondern gegen sie. Er foltert sie, um sie und sich zum Reden zu bringen. … Stramm will um jeden Preis vorwärts zu einer entrümpelten Lyrik, aber auch er hat nichts mitzuteilen als die Freude an seiner Erfindung. … Dieser wildgewordene Spießer mit harmlos schizophrener Physiognomie ist in Wahrheit ein biederer Gemütsmensch … vor dem einem plötzlich klar wird, dass hier ein höherer Postbeamter seine Morsezeichen skandiert.“ Das ist böse und gut formuliert. Weshalb es nützlich ist.


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