Klaus Poche: Atemnot

Als am 7. Juni 1979 im Berliner Roten Rathaus neun Autoren aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurden, war Klaus Poche (18. November 1927 – 9. Januar 2007) sicher der unbekannteste unter ihnen. Der Zynismus, mit dem Hermann Kant kalkuliert treffsicher genau das in seiner Rede ansprach, spricht für das diabolische Talent des Verbandsvorsitzenden und der längere Debattenbeitrag von Poche während der Mitgliederversammlung verwahrt sich nicht zufällig gerade gegen die Behauptungen Kants, er und Erich Loest seien zwanzig Jahre verspätet im Westen entdeckt worden. Poches Argumente sind dünn, weil er tatsächlich kaum etwas vorbringen kann. Ein einziger Roman ist von ihm 1965 gedruckt worden: „Der Zug hält nicht im Wartesaal“, der Roman ist übersetzt worden, ich las von 70.000 Exemplaren Gesamtauflage. Genau diesen Roman aber sieht „Wer war wer in der DDR?“, das als sehr zuverlässig geltende zweibändige Lexikon ostdeutscher Biographien aus dem Ch. Links Verlag Berlin, als Buch, das „Kriegserlebnisse und die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit propagandistisch gegen die Bundesrepublik Deutschland aufbereitet“. Die Liste der Drehbücher, die Poche allein oder als Ko-Autor verfasst hat, beginnt mit „Jahrgang 1945“, Regie Jürgen Böttcher (als Maler: Strawalde), einem DEFA-Film, der 1966 das Schicksal eines ganzen Filmjahrgangs teilte: er wurde verboten.

Als 2015 die BERLINER ZEITUNG ein von Anke Westphal geführtes Interview mit Jürgen Böttcher (geboren 8. Juli 1931) zum Film führte, fiel der Name des Ko-Autors Klaus Poche kein einziges Mal, Poche hat das nicht mehr erleben müssen. Aber, und nur deshalb steht das alles hier, eigene Unbekanntheit bewältigen zu wollen, gehört für mich zu den konstitutiven Momenten des zweiten Romans, den er dreizehn Jahre nach dem ersten nicht mehr in der DDR, sondern, nicht ganz freiwillig, in der Schweiz veröffentlichte: „Atemnot“. Ich kann nicht sagen, wie mein Leseeindruck 1978 gewesen wäre, meine Lektüre im Vorfeld des heutigen zehnten Todestages von Poche war alles andere als ein Vergnügen. Es fängt schon mit der geradezu unfassbaren Schlamperei des doch so renommierten Verlags S. Fischer an, der für die Taschenbuch-Ausgabe im Januar 1981 sorgte. Woher, um alles in der Welt, hat das namhafte Frankfurter Verlagshaus die glatte Falschmeldung genommen, Poche habe in der DDR mehrere (!!) Romane publiziert? Warum druckt es, um das Ärgernis komplett zu machen, auf dem Rücktitel eine Stimme des Bayerischen Rundfunks, der zufolge die Arbeiten Poches in der Bundesrepublik mehr gelesen werden sollten, wo es doch gar keine Arbeiten gab, außer eben diesem Propaganda-Roman von 1965? Auch 1965 erschien ein Kriminalroman im Verlag Das neue Berlin, aber unter Pseudonym: Nikolaus Lennert.

Das aber, das Taschen-Lexikon „Schriftsteller der DDR“ wird wohl informiert gewesen sein, war ein Roman nach einem Fernsehspiel von Jurek Becker. Mit dem wiederum teilte er sich später ein zweites Pseudonym: Georg Nikolaus, drei Filme schrieben sie gemeinsam unter diesem Label. Davor, für 1961, nennt das Nachschlagewerk noch den Titel „Das OKW gibt nichts mehr bekannt“, zusammen mit Hans Oliva (14. Februar 1922 – 1992). Hans Oliva hieß eigentlich Hagen, war sechs Jahre der Ehemann von Eva-Maria Hagen und Vater von Nina Hagen. Das war es dann auch schon. Und damit ist etwas offenbar, was den Kritikern der Jahre 1978 und 1979 naturgemäß gar nicht auffallen konnte: „Atemnot“ war der zweite und letzte Roman, den Klaus Poche je veröffentlichte, auch das letzte Buch überhaupt, das je von ihm gedruckt wurde. Und das ist mehr als verblüffend, denn manche Stelle im Roman, der natürlich strenger genommen keineswegs ein Roman ist, gewinnt aus dem Rückblick auf das Gesamtwerk plötzlich einen anderen oder überhaupt erst einen Sinn. Nach der Ausreise aus der DDR hat Poche noch neun Drehbücher geschrieben und sicher feststellen können, dass auch im Westen und später im vereinten Deutschland nach dem Muster des Westens die Drehbuch-Autoren selten bis nie zu irgendeinem Ruhm gelangen. Der bleibt allenfalls den Regisseuren, vor allem aber den Darstellern, falls die Filme eine gewisse Qualität besitzen.

Die Darstellungen, die in der DDR zu deren Fernsehdramatik erschienen, haben den auf alle Fälle im Gedächtnis vieler Zuschauer gebliebenen Mehrteiler „Rottenknechte“ schnöde oder gar nicht behandelt. Die einzige Erfolgsstrecke über fast anderthalb Jahrzehnte, die Klaus Poche für sich verbuchen konnte, war die als Illustrator. Schaut man sich jedoch die ellenlange Liste der von ihm illustrierten Bücher näher an, Wikipedia hat sie aus unerfindlichen Gründen nicht in der Chronologie ihres Entstehens, sondern alphabetisch nach den Namen der Autoren, um deren Bücher es sich handelt, sortiert, dann fällt als erstes unabweisbar in die Augen: Man kennt diese Verfassernamen nicht. Die größte Ausnahme: Wolfgang Schreyer, von dem Poche fünf Titel illustriert hat. Harry Thürk ist einmal vertreten, ihm ist nach 1990 das widerliche Etikett „der Konsalik des Ostens“ von den üblichen Uninformierten aufgepeppt worden. Man kann, wenn man sich mit der DDR etwas besser auskennt, auch Namen wie Alfred Kurella, Eberhard Panitz, Peter Kast, Günter Prodöhl oder Otto Bonhoff kennen, Rolf Guddat sagt mir etwas, Herbert Friedrich auch, weil ich Kinderbücher von ihm las. Titelstichproben aber ergeben, dass ein sehr hoher Anteil der Bücher gar keine Bücher sind, sondern Hefte der verschiedenen Unterhaltungsreihen vor allem des Militärverlags der DDR und seiner Vorläufer im Umfang von 32 oder 48 Seiten.

Da stammen dann die Titelseite und manchmal sechs Illustrationen pro 32 Seiten von Poche. Wenn er damit Insidern im Gedächtnis blieb, war das viel, war das mehr als zu erwarten. Ich erkenne noch heute Illustrationen aus meinem DDR-Buch-Bestand sofort, muss aber bei den Namen ihrer Schöpfer stets nachschauen. Wenn also der wie stark oder wie direkt auch immer autobiographisch angelegte Held in „Atemnot“ sich von seinem Schöpfer an einer Stelle heftig unterscheidet, dann an der des zu Buche stehenden Werkes. Der Romanheld hat weitaus mehr Filme geschrieben, der Romanheld hat auch deutlich mehr Bücher veröffentlicht. Von deren Inhalten der Leser allerdings nie etwas erfährt und das ist für mich alles andere als zufällig. Auch von dem Werk, an dem dieser Romanheld am Ende seiner Krise, nennen wir sie wohlwollend Schreibblockade, schreibt, gibt es nicht die Andeutung eines Inhaltes. Er bringt seine Gedanken zu Papier, heißt es weiter hinten, was jeder beliebige Tagebuchschreiber freilich auch tut und es gilt als keineswegs ausgemacht, dass der eine dem anderen mit seinen Gedanken von Hause überlegen ist. Die böseste Formel, die mir während der Lektüre von „Atemnot“ in den Kopf kam war: Klaus Poche hat den Jammer-Ossi zu einer Zeit für sich entdeckt und beschrieben, als die Götter des westdeutschen Groß-Feuilletons ihre Blicke noch huldvoll in alle anderen Richtungen schwenken ließen und wenig sahen.

Natürlich muss man vor allem im Rückblick anerkennen, dass die DDR bestimmte längst abgelatschte Neuheiten des bürgerlichen Westens zu adaptieren hatte, den sterbenslangweiligen Autorenfilm mit wackliger Handkamera etwa, in dem unbewegten Gesichtes später berühmte und sehr berühmte Mimen bocksteife Dialoge aufsagten, geradeaus an der Kamera vorbei blickend. Jene dort schon verkopft genannten „Beziehungskisten“ in Interieurs, die der DDR-Zuschauer für hoch privilegierte Wohnsitze hielt, obwohl es einfach nur keine Sozialwohnungen waren. Denn Sozialwohnungen und Kunst, das ging nicht in eins, dafür hatte der Westen eher die Parallelkultur „Literatur der Arbeitswelt“ erfunden, die bürgerliche Knospung des „Bitterfelder Weges“ der DDR. In „Atemnot“ erfahren wir von einer kleinen Erbschaft, die den Kauf eines Hauses ermöglichte, in dem die unruhevolle Wohn- und Lebe-Laufbahn des schreibenden Alkoholikers beginnt. Keine Kritik wagte den Alkoholismus als solchen zu benennen, obwohl doch eines seiner sichersten Anzeichen, die heimliche Lagerstätte von Reserveflaschen, gleich mehrfach Erwähnung findet. Auch hoher Alkoholkonsum ist noch nicht zwingend Alkoholismus, wenngleich nahebei, wissen wir. Die Kritik beschönigte also. Und sie führte bewusst irre. Indem sie etwa behauptete, „Atemnot“ sei ein Roman über die Zensurpraktiken in der DDR. Nein, das ist er nicht.

Die Zensurpraktiken kommen, wenn man nicht allzu großzügig liest, eigentlich gar nicht vor, wohl aber die Schriftstellern und Künstlern allgegenwärtigen Pressionen der Kulturbürokratie. Dass man im Westen so begeistert war von dieser Kompilation nahezu aller Mängel einer notorischen Mangelgesellschaft, ohne an den Leser zu denken, für den das Buch eigentlich geschrieben war, verwundert noch heute. Die Leistung des Buches wäre für DDR-Leser ja nie und nimmer eine Entdecker-Leistung gewesen, immer bestenfalls eine Benenner-Leistung. Wer hinreichend alt ist, noch DDR-Kabarett und DDR-Fernsehsatire zu kennen, weiß, welch harmlose Dinge das Publikum begeisterten und trotz ihrer Harmlosigkeit die Zensoren viel zu oft auf den Plan riefen. Mancher Kabarettist wäre, böse These, heute vielleicht froh, wenn er mal ein wenig verfolgt würde, heute aber bleibt noch die bösartigste Politsatire vollkommen und total folgenlos. Das angebliche Kabinettstück des Buches, die Erzählung des Außenpolitik-Journalisten von seiner Missgeschick-Sammlung eines einzigen Tages, ist ein Fremdkörper im Buch, weil eine ganz andere Textsorte. Auch ehemalige DDR-Bürger wissen inzwischen, dass in den alles andere als realsozialistischen USA das „Sie werden platziert!“ ebenfalls hohe Gesetzeskraft hat. Danach folgt freilich Service pur. Vor allem aber ist der Alkoholiker des Buches ein fremdgesteuerter Mann, ein Phobiker.

Es wäre eine Praktikanten-Übung, die Sätze im Roman zu sammeln und zu zählen, in der die Hauptfigur von sich selbst und der Erzähler über die Hauptfigur auf der anderen Ebene Phobien, Abneigungen, Vorurteile, Allergien und Ähnliches benennt und beschreibt. Sie steuern sein Verhalten, regeln sein Tun und Lassen, führen ihn durch sein substanzarmes Leben, genauer am Leben vorbei. Wie dieser Typus Mensch immer, weiß dieser schreibgehemmte Hypochonder, der jedes Stechen im Knie als nahenden Hirntumor an sich selbst diagnostiziert, sehr genau und im überquellenden Detail ausführlich, was er nicht will. Was er will, weiß er nicht. Das berühmte Diktum zu Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ von Marcel Reich-Ranicki aufgreifend könnte man wohlwollend sagen, dieser Schriftsteller leidet an der DDR. Doch ist diese spezielle Leidensausformung eben und das wohl unfreiwillig, eine Bestätigung des offiziellen DDR-Menschenbildes, das im Menschen ein „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ sehen wollte, kein Individuum, keine Persönlichkeit, auch wenn diese Termini seit Mitte der siebziger Jahre spätestens dauerhaft die Theorie-Debatten auch in der DDR befeuerten und befassten. Poches Schriftsteller aber deutet mehr als nur an, wie er geformt ist, dass es mindestens einen Eigenanteil gibt. Wer an Verfettung stirbt, hat selbst zu viel gefressen. Da hilft nichts und nochmal nichts.

Heute müssen wir natürlich rückblickend anerkennen, dass es im Weltbild der DDR-Kulturoberen weder Generationskonflikte noch Midlife-Crisis gab und zu geben hatte, ihr Import in die DDR-Literatur war kaum vermeidlich, weil die Realität sich dummerweise nie nach den Wünschen jener Oberen richtete. Irgendwann aber und das war spätestens mit Beginn der siebziger Jahre, wimmelte es nicht nur von Schriftstellern in den Romanen der Schriftsteller der DDR, es wimmelte auch von Geschichten, in denen äußerlich erfolgreiche Männer (seltener Frauen, man darf darüber nachdenken) ausbrechen wollen, sie leiden ein wenig an allem herum, landen aber am Ende nur bei einer anderen Frau. Oder die nahe verwandte Story: Männer lernen eine neue, meist jüngere Frau kennen und sehen plötzlich die Welt mit anderen Augen. Nach der sechshundertvierunddreißigsten Wiederholung in Roman-Form wird das knarzlangweilig und dennoch erscheinen bis heute Saison für Saison just solche Romane, die fast immer Pseudo-Romane sind. Es gibt einfach zu viele der Brotarbeit abholde Menschen plus Publikationsfreiheit, um die Flut zu dämmen. Einen Mann von fünfzig Jahren, was fallen einem da für tolle Vorleistungen aus der Literaturgeschichte ein, ständig mit seinem Alter kokettieren und zugleich leugnen zu sehen, dass er kokettiert, wie eben hier in dieser „Atemnot“, das nervt. Der Mann leidet, sagt man heute inflationär, auf hohem Niveau.

In seinem Redebeitrag während der Mitgliederversammlung am 7. Juni 1979 sagte Klaus Poche: „Ich bezweifle, ob eine Gesellschaft deren natürlich wachsende Probleme konspirativ, das heißt unter Ausschluss der Öffentlichkeit, auf die Dauer zu lösen vermag. Flüsterpropaganda, die gesprochene Zeitung, die helfen nicht, die schaden ...“. Und dann adaptiert er eine mehr als zwanzig Jahre alte Brecht-Idee, ohne den Urheber zu nennen: „Manchmal, finde ich, stünde uns Ratlosigkeit besser zu Gesicht als dieses schnelle Alles-ist-klar nach draußen, denn eingestandene Ratlosigkeit ist in Anbetracht der vehement wachsenden Probleme unseres Jahrhunderts nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Menschlichkeit.“ Zwar ist zu ahnen, was Poche meinte, dennoch bleibt das unabweisbare Gefühl, ihm sind die Konsequenzen seiner Sätze nicht annähernd bewusst. Es beginnt mit der Illusion von dauerhaften Lösungen für eben keineswegs automatisch wachsende Probleme. Ratlosigkeit mag menschlich sein, wer aber auf die im praktischen Leben, dem selbst Schriftsteller nicht konsequent ausweichen können, ständig wiederkehrende Frage: Was machen wir denn jetzt, in schön entfalteter Menschlichkeit immer antwortet: Keine Ahnung, dessen Fanclub wird sich bald auf ihn/sie selbst beschränken. Gerade Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle sind auf der andere Seite die größten Freunde dessen, was sie „ein Zeichen setzen“ nennen.

Kunst, deren letzte Weisheit: „Keine Ahnung“ lautet, wird neben Pseudokunst, die Ahnung suggeriert, immer in gewisser Hinsicht alt aussehen. Deshalb lebt das Zeichensetzen trotz aller Züge von Lächerlichkeit, denn es ist zwar immer noch Ratlosigkeit, aber Ratlosigkeit im Mantel der Aktion. So lässt Klaus Poche seinen Nicht-Helden am Ende auf einen DDR-Berg steigen, 300 Kilometer von Berlin, dort steht er stumm und symbolisch, man möchte sagen: Lass uns nach Las Vegas reiten und die Sonne putzen. Der Roman ist, von hinten gesehen, das Gegenteil einer Bergpredigt. Nun spätestens muss auch die Sprache des Romanes erwähnt werden. Sie ist uneinheitlich. Man merkt ihr den Szenaristen, den Drehbuchautor an: syntaktisch unvollständige Sätze, die Panoramen beschreiben, kommen häufig, mir viel zu häufig vor. Und das keineswegs nur, weil sie einfach nicht originell sind. Es gibt kleine Portionen von wirklicher Poesie im Text, die aber von Portionen von Pseudopoesie konterkariert werden. Es gibt den gesamten Komplex männlicher Sexualität im Buch, der dem Elend der deutschen Sprache an diesem Gegenstand nichts entgegensetzt, sondern im Gegenteil in Landserjargon und Bahnhofsklo-Metaphorik schwelgt, obwohl die Details durch die Bank einfach nur uninteressant sind. Wollte Poche die Eckdaten seiner frühen Sexualität gedruckt sehen, wenn ja, für welche Nachwelt? Wenn nein, was geben sie dem Bild des Schriftstellers in seiner DDR-Krise außer nackter Eitelkeit?

Es gibt im Buch einige wenige pauschale Rundschläge gegen die DDR-Literatur als solche, dazu passt die nachwendliche, 1992 publizierte unerquickliche Polemik ausgerechnet gegen Günter de Bruyn überraschend gut. Die keine Literatur der Welt von einem hätte hören wollen, der selbst zu ihr kaum beitrug. Es lebte in den wilden Polemiken nach 1990, befeuert durch den so genannten deutsch-deutschen Literaturstreit, etwas wie die Wiederholung der Nachkriegsdebatte um innere und äußere Emigration neu auf. Vom Groß-Feuilleton des Westens haben wir gelernt, dass es der Krieg um Deutungshoheit ist und stets bleibt. Wir haben auch gelernt, dass der Jammer-Ossi, das magere Kerlchen, erst vom Besser-Wessi fett gefüttert wurde, um besser greinen zu können. Manche nannten das Aufbau Ost. Der literarische Gegenstand DDR aber wird wohl noch dann nicht aussterben, wenn der letzte, der sie selbst bewusst erlebte, ausgestorben ist. Vorerst hat also ein Buch wie „Atemnot“ von Klaus Poche keinen verspäteten Legitimierungsdruck auszuhalten. Und der SPIEGEL, an dem bekanntlich ähnlich wie an der DDR nicht alles schlecht war, beendete schon zu Weihnachten 1978 einen Beitrag über die seltsame Geschichte des Fernsehfilms „Geschlossene Gesellschaft“ (Regie Frank Beyer, Szenarium Klaus Poche) mit dem Hinweis: „Apropos, im deutschen Fernsehen (West) wird mit unbequemen Filmen auch gern so verfahren.“

Der Terminus „geschlossene Gesellschaft“ kommt im Roman mindestens zweimal vor, auch sonst herrscht merkliche Verwandtschaft zwischen ihm und dem am 29. November 1978 zu später Stunde quasi unangekündigt ausgestrahlten Film mit Jutta Hoffmann und Armin Mueller-Stahl. Ich sah den Film nicht ganz zufällig an diesem Abend in der Berliner Wilhelm-Pieckstraße. Wir wussten: Hier sollten Bergmans „Szenen einer Ehe“ nachgespielt werden, wir glauben das heute noch. Unter dem Datum des 17. August steht im ich-erzählten Teil des Romans dies, meine Lieblingspassage, ein längeres, entwaffnend hellsichtiges Gesamtporträt des/der Literaturverfasser: „... die lächerliche Bereitschaft des jeweils Gefeierten, die verlogensten Komplimente mit kindlichem Strahlen zu schlucken. Dabei wussten sie es alle genau: gleiche Berufe verbergen nur mit äußerster Mühe Konkurrenzneid, Schreiber vor allem. Die meisten Geschichten, die ihnen gedruckt zwischen die Finger geraten, wollen sie irgendwann selber schon einmal erwogen, dann aber als nicht trächtig genug fallengelassen haben. Ihre ständig gespitzten Ohren wie ausgefahrene Antennen, etwas aufschnappen, das Aufgeschnappte zurechtbiegen, bis es widerlegt werden kann. Eine Truppe voll heimlicher Neider, unerträglich ihre Eifersüchteleien und ihre Besserwisserei. Das letzte Stadium schließlich, in dem sie nur noch schreiben, um sich untereinander Genialität zu beweisen.“

Hier liegt die über die ärmliche DDR hinausweisende Substanz des Buches, ich sehe Gesichter vor mir, auf die dies alles als Porträt gemünzt scheint. Dass „Atemnot“ keine große Literatur sei, wussten zeitgenössischen Rezensenten sofort, ich nenne stellvertretend nur Rolf Michaelis in der ZEIT und Jörg Bernhard Bilke in der WELT. Was beide und ihre Kollegen alle damals nicht wissen konnten: „Atemnot“ ist, so seltsam und überraschend es klingen mag, eines der konsequentesten Bücher, das je ein DDR-Autor schrieb, denn er hörte anschließend auf, weiter Bücher zu schreiben. Das schaffte nicht einmal Wolfgang Hildesheimer, der sein Verstummen einst medienwirksam ankündigte und dann eben dennoch nicht verstummte. Klaus Poche aber leerte nicht im Angesicht der vermeintlichen Freiheit seine Schubladen, konfrontierte keine unvorbereitete Leserschaft mit DDR-Fragmenten, ließ keinen Lektor ein „Best of“ aus frühen Texten kompilieren. Es erschien nicht einmal ein einzelnes seiner Szenarien, nicht zu reden von einer Sammlung der besten, solche Bücher gab es und gibt es bis heute. Denn „Atemnot“ mit allen ihren Schwächen hatte eine Schwäche eben gerade nicht: mangelnde Distanz zur Hauptfigur. Klaus Poche hat gnadenlose Sätze eingebaut, die als Sätze über sich selbst gelesen genau dahin führen: zum Verstummen als Autor gedruckter Bücher, zum stillen Abgang aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte.


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