René Schickele: Trimpopp und Manasse

Zwölf lange Jahre steckte ein Lesezeichen vor der Seite 85 in meinem Buch „Das gelbe Haus“ von René Schickele. Es ist der zweite Band der 1976 begonnenen Reihe von Neu-Editionen im Berliner Buchverlag Der Morgen. Der Verlag und die Herausgeberin Ruth Greuner hatten sich offenbar vorgenommen, den bis dahin für DDR-Leser kaum präsenten, einst doch so berühmten Dichter der Vergessenheit zu entreißen. Das Projekt startete zügig und versandete, wie es eben ein Profil zu zeigen begonnen hatte: Zuerst der Roman „Die Witwe Bosca“ (1976), ein spätes Werk Schickeles, dann „Das gelbe Haus. Erzählungen“ (1977), gefolgt von „Grand’maman und Der Preuße. Zwei Romanfragmente“ (1978) und schließlich „Benkal, der Frauentröster“ (1980). Vier Bücher, deren Verdienst unbestreitbar ist und doch ein bedauerliches Editions-Fragment. Ich erinnere mich an einen nicht mehr zu datierenden Tag im Berliner Studentenwohnheim „Victor Jara“ in Biesdorf, da mein Zimmer-Nachbar und Freund Peter Ludewig, leidenschaftlicher Sammler und autodidaktisch hoch gebildeter Expressionismus-Kenner schon in jungen Jahren, mit dem Roman „Die Witwe Bosca“ in der Hand vor dem Doppelstockbett stand, dessen obere Etage sein Leseort war. Die Anregung reichte immerhin, mich zum Käufer des zweiten und des vierten Buches zu machen.
 
Darin gelesen habe ich erst sehr viel später und zwar in „Das gelbe Haus“. Ich gestehe, dass mich weder „Das Glück“ noch „Die Mädchen über Athen“ noch gar „Aïssé“ sonderlich verlockten, rasch den Rest folgen zu lassen. Erst im Umfeld von Annette Kolb stieß ich wieder, und gleich sehr nachhaltig, auf Schickele und siehe, ausgerechnet dort, wo ich aufhörte, hätte das Weiterlesen mich  im Handstreich aus meiner Distanz geholt. In Hans Wageners Schickele-Biographie „Europäer in neun Monaten“ ist „Trimpopp und Manasse“ in einer Weise beschrieben, die den Schönheiten der Erzählung so wenig gerecht wird, dass es traurig macht. Ich zitiere das sehr knappe Resümee: „Im gleichen Jahr 1914 erschien auch die – wohl schon Ende Februar 1914 fertiggestellte – in Berlin handelnde Erzählung „Trimpopp und Manasse“ (Leipzig: Verlag der Weißen Bücher), in der der am Patentamt arbeitende, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Chemiker Dr. Trimpopp sich in die junge Amalie Kleinschuh verliebt, die ihm jedoch den aus reicher jüdischer Familie stammenden Manasse vorzieht. Während Manasse Opfer des Antisemitismus wird – er tötet den antisemitischen Bruder Amalies, einen Leutnant, im Duell -, wird Trimpopp dabei ertappt, als er sich durch Verrat von Amtsgeheimnissen Geld zu verschaffen sucht. Beide treffen sich schließlich in der französischen Fremdenlegion wieder und kommen kämpfend um.“ Will man das lesen??
 
Zumal Wagener fortsetzt, als wäre damit bereits alles gesagt: „Wieder weist der Stil eine Reihe von ausgesprochen expressionistischen Elementen auf. Die kritische Darstellung der wilhelminischen Berliner Atmosphäre erinnert geradezu an Georg Kaisers Drama „Von morgens bis mitternachts“ (1916). Dass Amalie Kleinschuh Medizin studiert, deutet darauf hin, dass ihre Gestalt von Minna Flake beeinflusst ist, und die gesellschaftliche Atmosphäre des reichen, emanzipierten Judentums dürfte auf das Vorbild ihrer Familie zurückzuführen sein.“ Es tut mir leid, aber vernünftigerweise kann etwas aus dem Jahr 1914 nicht an etwas aus dem Jahr 1916 erinnern, allenfalls umgekehrt. Und selbst wenn Amalie mit Blick auf Minna Flake gestaltet sein sollte bei Schickele, hilft das keinem Leser weiter, denn der müsste ja erst einmal wissen, wer denn diese Minna Flake überhaupt war. Er müsste sich in den Untiefen der unterwegs verstorbenen Freundschaft Schickeles mit Otto Flake auskennen, ihrer Arbeitsgemeinschaft, und es bliebe am Ende immer der Rest übrig, der Literatur ist. Dass Schickele seine Anna, die dennoch bis zu seinem Tod am 31. Januar 1940 zu ihm hielt, mit jener Minna, der Frau seines Freundes, betrog, ist Leben, nicht Literatur. Wenn Schickele uns nur wegen seines Seitenspringer-Lebens interessieren sollte, wäre das ein sehr dürftiger Grund.
 
Für Wagener ist „Trimpopp und Manasse“ außerdem „deshalb interessant, weil hier, ähnlich wie bereits in dem 1907/08 entstandenen Theaterstück „Europa“, im Gegensatz zur Perspektive des späten, exilierten Schickele ein starkes philosemitisches Engagement des Autors zum Ausdruck kommt.“ Man stelle sich vor: Erzählungen wären deshalb interessant, weil sie diesen oder jenen Lehrstuhlinhaber an dies oder jenes erinnern, meistens an etwas, was niemandem anderen einfallen würde. Ich spitze zu: Ich habe in „Trimpopp und Manasse“ weder Kritik an wilhelminischer Atmosphäre in Berlin noch Philosemitismus gefunden. Ich räume ein, dass man in Darstellung allein schon Kritik sehen kann, könnte auch sagen, welche Denksysteme solche Logik bevorzugen. Dann aber müsste man zum Beispiel die Darstellung von Duell-Fällen in der deutschen Literatur nebeneinander stellen und etwa zwischen dem berühmten „Leutnant Gustl“ und diesem 1914er Schickele Übereinstimmungen und Unterschiede fixieren. Da wäre die Satisfaktionsfähigkeit des Juden zu bedenken. Niemals würde sich der fast besessene Antisemit im Range eines Leutnants mit einem Juden duellieren und, wer die Erzählung liest, wird erstaunt sehen, dass Manasse den Mann gar nicht erschießt, wie Hans Wagener aus unerfindlichen Gründen behauptet, es ist Manasses Freund Kreuzer, der den tödlichen Schuss abfeuert und dann mit Manasse außer Landes flieht.
 
Die Frage, wie viel Zutrauen man zu einer Biographie haben darf, die nicht einmal den Inhalt einer einzigen Erzählung halbwegs zutreffend zu referieren in der Lage ist, mag ich gar nicht stellen, es gibt etliche Bücher von Hans Wagener, mein erstes von ihm porträtierte Siegfried Lenz. Nun aber zu den Schönheiten von „Trimpopp und Manasse“. Die erste ist der erste Satz. Man erinnert sich: es gibt ganze Germanisten-Scharen, die den Mythos vom ersten Satz pflegen und unrecht haben sie nicht damit, obwohl „Ilsebill salzte nach.“ für mich nicht in eine Schubkarre geladen werden kann mit diesem Einstieg hier: „Diese Geschichte, die mit dem rebellischen Tod zweier deutscher Fremdenlegionäre am Fuße des Atlas ihr Ende fand, begann damit, dass den Dr. Karl August Trimpopp die Lebensfreude ergriffen hatte.“ Wenn Doktoren mit solchen Vornamen und solchem Familiennamen von Lebensfreude ergriffen werden, dann muss das eine verrückte Sache sein, könnte man denken, vorgeschädigt von literarischen Freunden sprechender Namen. Hier aber haben die Namen, wenn sie überhaupt sprechen, eine sehr leise Stimme. Die Lebensfreude ist es, um die es geht. Dr. Trimpopp erlebt mitten im Winter einen gefühlten Frühling, nein, nicht einen, mehrere sogar: Frühlinge, Plural. Wie sich das für ihn äußert, bitte, ist einfach nur wunderbar. Beschrieben.
 
„Es ist wie ein leises Singen, nein, wie ein fernes Kastagnettenrascheln von Blumen in allem Gewühl, die Kleider der Frauen rauschen heller!“ Und: „Die Menschen heben sich voneinander ab, es ist nicht mehr wie noch vor wenigen Tagen, als sie alle wie finstere Klumpen zusammenklebten und ein Einziges zu bilden schienen, … Die Mädchen streichen ihre Bluse glatt mit einer schmeichlerischen Sachlichkeit. Die jungen Männer blicken so männlich wie sonst nie.“ Es ergreift den promovierten Chemiker ein eigenartiges Bedürfnis: „Zumal den Führern der gewaltigen Lokomotiven hätte er gerne seine Verehrung mit einem kräftigen Handschlag ausgedrückt.“ Die Erklärung dafür: sein Vater war auch ein Lokführer, durfte aber nur Vorortzüge fahren. „Ja – das: wie bedeutsam jede junge Frau wurde, wenn der Frühling kam … Wie schön das war!“ Aber jede junge Frau ist es ja gar nicht für ihn, eigentlich nur eine: eben jene Amalie Kleinschuh mit ihren speziellen Vorlieben: „Sie liebte das Training, das körperliche wie das geistige; an allem, was Sport war, hing sie mit wahrhaft religiösem Gefühl, sie machte einen Sport aus ihren täglichen Beschäftigungen.“ Es sei daran erinnert: die Erzählung entstand Anfang 1914, da war das mit den Frauen und dem Sport und dem Trainieren noch etwas, das sehr literaturwürdig aus der Reihe fiel.
 
Von Amalie heißt es außerdem, sie trage eine aggressive Geringschätzung des Militärs zur Schau, was damit zusammen hängen könnte, dass ihr Bruder Fritz ein Leutnant ist, doch Schickele erklärt es nicht weiter. Dafür schreibt er: „Sie bevorzugte diese dramatischen Abgänge, die sie der Pflicht enthoben, über ihre Unternehmungen Rechenschaft abzulegen.“ Hier verrät einer, dass er sehen kann: Grundvoraussetzung allen Schreibens: Sehen, was andere nur wahrnehmen. Sehen, was andere übersehen. Sehen und im Sehen durchschauen. Danach muss nur noch aufgeschrieben werden, viel komplizierter sind die Geheimnisse des Schreibens gar nicht, sie werden nur gern verklärt. Zeitgeschichte ist natürlich im Text und liest sich etwa so: „Bei ihrem Vater hatte sie gegen das Versprechen, innerhalb der nächsten zwei Jahre zu heiraten, den Schwur eingetauscht, dass sie nie gegen ihren Willen heiraten müsste.“ Man fragte damals bestenfalls den Vater, alle weniger guten Fälle besagten: Der Vater bestimmte, Väter verabredeten. Und dies zum Bedauern aller Klassentheoretiker klassenübergreifend. Nicht nur der Hofmarschall wollte keine bürgerliche Schwiegertochter, auch der Großbauer keine Magd. Und im real existierenden Sozialismus kam es vor, dass der SED-Vater der Braut erst nach der Parteizugehörigkeit des Schwiegervaters schaute.
 
Alles aber kein Fall für strukturalistische Literaturtheorie, eher etwas für die Schublade Kreislauf der Kulturen. Und so findet sich bei René Schickele eben nicht nur der brachial antisemitische Bruder Fritz, sondern auch die Tante des Wunschbräutigams Manasse, die eine Verbindung von jungem Juden mit junger Christin am liebsten verhindern würde. Allerdings hegt die Tante keinerlei Ausrottungsphantasien. Hier wäre dann der Hinweis auf eine Außerordentlichkeit der Erzählung fällig. Schickele lässt diesen Leutnant mit der Faust auf den Tisch hauen: „Amalie bekäme keine Kinder von ihm, eher knalle er sie und sich nieder, eher rottete er alle Manasse der Welt aus“. Und dem Juden Manasse legt er diese Überlegung in den Kopf: „Welchen Begriff sich der Hanswurst vom Mut machte. Und der Gedanke kam ihm: Wie feig sie doch sein mussten, da sie es nicht wagten, einfach über die so unmenschlich Verhassten herzufallen und sie alle niederzumachen“. Zur Erinnerung, wir befinden uns vor dem Ersten Weltkrieg. Gleich zweimal kommt ein Gedanke ans Ausrotten von Juden ins Spiel, ohne dass der Autor sinnbildlich gesteigerte Aufmerksamkeit zu erzeugen sucht vorher, den Zeigefinger gewissermaßen langsam höher reckt. Genau das tut er nicht. Stattdessen lässt Schickele ausgerechnet Juden im Berliner Westen den Berliner Fortschritt lieben.
 
Hier angekommen, kann ich auch einen Teil meiner Grundsympathie mit gerade dieser Erzählung offenbaren: Mein Vertrautsein mit Schauplätzen, die eine Rolle spielen und zwar ein doppeltes Vertrautsein, in Leben und Literatur. Bahnhof Charlottenburg, Friedrichstraße, Mommsenstraße, Unter den Linden, Wannsee, Kaiserallee und Wilmersdorf. Tiergartenviertel, Charlottenburg, Bahnhof Zoologischer Garten, Tiergarten, Brandenburger Tor, Leipziger Straße, Alexanderplatz, Friedrichshain – all diese Örtlichkeiten sind benannt und so habe ich vor Augen, was der Vater von Arthur Manasse mit seiner Schwester, der schon benannten Tante, schwärmend beschreibt: „Bei Tisch erzählten die beiden Alten um die Wette, wovon die Bewohner des Tiergartenviertel am liebsten sprechen, von der Entwicklung Berlins und von ihren Glaubensgenossen, deren Tüchtigkeit sogar der Kaiser entdeckt habe.“ Oder: „Und plötzlich hatte Berlin angefangen zu wandern. Über Nacht war Leben in die grauen Stadtviertel gekommen, sie hatten sich aufgemacht und waren nach Westen marschiert.“ Und: „Und jetzt war es schon lange her, dass er das Wilmersdorfer Besitztum verkauft hatte und dass aus seinen Kohlbeeten Vierstöcker aufgeschossen waren.“ Der alte Manasse sagt: „Wiesen, Lauben, dahinter zwei, drei graue Gasometer, noch weiter rauchende Schlote und im Dunst ein Haufen Häuser und darüber ein weiter flacher Himmel: die schönste Landschaft, die ich kenne.“ Wenn Großstadt-Bejahung expressionistisch ist, dann ist das hier purer Expressionismus.
 
Im Übrigen ist das, war hier vorgeführt wird, genau die Lebenswelt des Theodor Fontane. Wo er lebte, lebten jene Juden, an denen er sich immer wieder rieb, die ihn zu dem anregten, was im abgelaufenen Fontane-Jahr nicht ganz so häufig thematisiert wurde: seinem Antisemitismus. Man darf davon ausgehen, dass Fontane, wenn er aus dem Fenster sah, den alten Manasse, wenn es ihn denn wirklich gegeben hätte, sehen konnte. Beide wären sich vielleicht im Tiergarten begegnet, wo Fontane seine täglichen Gänge abhielt in seinen fortgeschrittenen Jahren. So kann sich der Leser bei „Trimpopp und Manasse“ Korrespondenzen vorstellen, die der Schickele-Forscher natürlich von sich zu weisen hätte. Die Tante Ida, um auch ihr noch einmal selbst das Wort zu gehen, sagt auch Nettes: „An der Riviera wird mir schlecht vor Langeweile, und in Kairo, in Kairo zehre ich vom Anblick der Berliner, die aus den Hotelwagen herauskrabbeln.“ Bliebe noch der Figur des Freundes Kreuzer die Ehre zu erweisen. Er ist es, der den Juden Manasse aufstachelt: „Da setzt man uns in den Schulen die alten Griechen und Römer vor, was sind denn die, verglichen mit den Juden!“ Ist das der von Hans Wagener behauptete Philosemitismus? „Kreuzer bekam Festungshaft. Anfangs gefiel es ihm recht gut, weil er zum ersten Male die Muße fand, Bücher zu lesen und lange Briefe zu schreiben“. Lange bevor ein gewisser Hitler wie ein Ernst Toller ihre Festungshaft nutzten, um Bücher zu schreiben. Zu was für seltsamen Überlegungen führt uns da dieser René Schickele?
 
Kreuzer ist auch einer, der von sich sagt: „Ja, der Krieg erschien mir als eine blitzblanke Freude. Da fühlte man sich doch wenigstens leben! Der Krieg, dachte ich: das einzige im Leben, was zugleich todernst und unbändig heiter ist“. Schon ein Jahr später wäre René Schickele solch ein Denken eines seiner Helden undenkbar gewesen. Er, der als Elsässer, vor allem aber als Mensch, die Feinde Deutschland und Frankreich versöhnt und als Freunde sehen wollte, dabei in den ersten Tagen und Wochen des Krieges nur sehr wenige Freunde hatte, hätte fassungslos neben solchem Reden gestanden. Seine Sache war es doch eher, so etwas zu sehen und zu Papier zu bringen, es geht um das Wiedersehen von Dr. Trimpopp und Amalie Kleinschuh: „… sie entdeckte einen strengen, einsamen Leidenszug an ihm: Wenn es Beamte des Schmerzes gäbe, dachte sie, dann trügen sie einen solchen Bart“. Vom Tod der beiden erfolglosen Bewerber um Amalie Kleinschuh erfahren wird nur indirekt: Kreuzer berichtet davon, nachdem er in einem marokkanischen Hafen auf ein deutsches Schiff flüchtete. Es muss ein Tod gewesen sein, wie ihn später Hollywood nicht viel melodramatischer hätte verfilmen können. Ich zitiere abschließend aus „Die Mädchen über Athen“:
„Den Dichtern muss man glauben, Lo. Dichtern zu glauben schmeichelt.“ Nur wem, fragt sich.


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