Carl von Ossietzky verteidigt Arthur Eloesser

Und Harry Kahn. Müsste es korrekterweise heißen. Denn Carl von Ossietzky verteidigte Anfang März 1928 in der von ihm geleiteten „Weltbühne“ nicht nur seinen Theaterkritiker Arthur Eloesser, sondern eben auch Harry Kahn. Der war schon sehr viel länger Mitarbeiter des Blattes gewesen, das Siegfried Jacobsohn 1905 als „Die Schaubühne“ aus der Taufe gehoben hatte. Er debütierte am 13. Juni 1907 dort mit einem Gedicht. Rückblickend schrieb der jüngere Kurt Tucholsky Jahre später über ihn: „Sein Temperament fegte denn auch dem Wüstenwind gleich durchs Blättchen; es gibt da herzerfrischende Polemiken gegen den seligen Kasimir Edschmid, eine prachtvolle Leistung.“ Das Gedicht hieß übrigens „Dämmerung“ und war eine Küstenstimmung, die man von einem geborenen Mainzer nicht unbedingt erwarten musste. Kahn (11. August 1883 – 18. Juli 1970) hat nach seiner Rückkehr aus dem Exil vor allem als Übersetzer gearbeitet. Henry James, John Steinbeck, William Faulkner, Sinclair Lewis, Anthony Trollope bekamen deutschsprachige Ausgaben von seiner Hand. Als er in Massagno in der Schweiz starb, war sein Kollege Eloesser schon mehr als 30 Jahre tot. 1928 aber standen sie gemeinsam als Kritiker am Pranger: Erwin Piscator griff beide massiv an.

Und zwar in einem Brief an die „Weltbühne“. Die sich wie alle Redaktionen das Recht vorbehielt, zu antworten oder zu schweigen. In diesem Falle nutzte sie ihre regelmäßige Rubrik „Antworten“, die ebenso regelmäßig am Ende der jeweiligen Ausgabe platziert war. Manchmal beantworteten die gemeinten oder gar angegriffenen Autoren selbst, von Eloesser sind zwei „Antworten“ bekannt, manchmal nahm sich auch der Chef der Sache an, in diesem Falle Carl von Ossietzky. Es gilt zwar als auszeichnendes Merkmal eines guten Chefredakteurs, wenn er sich vor seine Leute stellt, selbst wenn er sie später hausintern an- oder abzumahnen hätte, es ist aber auch eine der sich gefühlt mehrenden Verfallssignale, dass Chefs lieber den eigenen Allerwertesten retten als den Kopf hinzuhalten, falls dessen Rollen sich gefährlich anbahnt. Bei Ossietzky muss über persönlichen Mut und eigene Courage keine Indizienkette gebastelt werden: er war Mut und Courage in Person. Und im Fall seiner beiden Kritiker bewies er zudem auch noch eine frappante Schlagfertigkeit. Denn der Regisseur Piscator, eine linke Ikone im Kunstbetrieb der zwanziger Jahre, holte, wie man heute sagen würde, die ganz großen Keulen aus dem Sack: Totschlagargumente, die gar keine waren.

Das las sich dann etwa so: „Ich habe bisher geglaubt, mit der „Weltbühne“ in einer gemeinsamen Kampflinie gegen einen gemeinsamen Feind zu marschieren. Ich habe die „Weltbühne“ für eines der wenigen Blätter gehalten, denen der Kampf gegen alles Gestrige nicht nur eine literarische Haltung bedeutete … und nun erheben sich aus eben diesem Blatt gegen mich und unser Theater wieder dieselben bösartigen Phrasen, die gleichen nichtssagenden Schlagworte, dieselben platten ästhetischen Einwände, die noch von einer Zeit her, wo ich mit Hilfe der „Weltbühne“ einen Kampf gegen die Verständnislosigkeit eine reaktionären Kunstclique führte, in peinlicher Erinnerung sind.“ Viel Phantasie muss man nicht aufbringen, um hier schon Ansatzpunkte für eine Replik zu erkennen, ist es doch eine ausgesprochen alberne Unterstellung, die „Weltbühne“ mit dem Kampf gegen alles Gestrige in Verbindung zu bringen: Wer alles Gestrige bekämpft, müsste sich, wollte er konsequent sein, selbst bekämpfen. Arthur Eloessers Name fällt in Piscators Schreiben dreimal, Ossietzky nennt ihn nur einmal noch. Laut Piscator sieht Eloesser die Arbeit des Theatermannes als „von der technischen Seite her … interessant, im Grunde genommen aber als belanglos“ an.

Eloesser verkörpert für Piscator, so der zweite Anklagepunkt „die Sehnsucht nach der gedankenlosen Unverbindlichkeit des ästhetischen Vorkriegsbetriebes“. Dies wäre, müsste man abermals Ossietzkys Entgegnung vorgreifen, purer Unfug, ein selbstgefertigter Popanz. Denn selbstverständlich war der ästhetische Vorkriegsbetrieb keineswegs gedankenlos, der dämlichste Unterhaltungsfirlefanz ist es nicht, sondern eben nur von völlig anderen Gedanken ausgehend als den Wunschgedanken selbst ernannter Kunstbetriebsrevolutionäre. „Wir können begreifen“, schreibt Piscator weiter, „dass eine im Niedergang begriffene Klasse, der das von ihr angestiftete Unheil langsam über den Kopf wächst, sich gern von dem „Allzu-Wirklichen“ in ein „phantastisch Unwirkliches“ (Eloesser) entführen lassen möchte.“ Was Piscator wirklich meint, kommt in ganz anderen Sätzen zum Ausdruck: „Wir wollen nicht Theater, sondern Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist noch immer das größere Theater.“ Warum aber macht er Theater, wenn er gar keins will? „Das muss ich schon von meinen Kritikern verlangen, wenn ich sie ernst nehmen soll: dass sie mir ein Beispiel geben in meinem Kampf, dass aus ihrer Kritik die Forderung an sich selbst erwächst.“

Andernfalls wäre jede Kritik für den Regisseur Piscator unweigerlich „nicht nur sachlich unernst, eine Salonplauderei, die mich einen Dreck angeht, sondern selbst ein Stück dieser untergehenden, hassenswerten Welt. … Die soziale Revolution mag sich ruhig des laufenden Bandes bedienen, wenn sie damit rascher zum Ziel kommt.“ Wir Nachgeborenen wissen, welcher Entertainer des untergehenden, hassenswerten Fernsehens sich eines laufenden Bandes bediente und damit die Weltrevolution wirksam weiter aufschieben half. Wir Nachgeborenen wissen, dass Piscators Verwandlung von Schillers Räuber Spiegelberg in einen Trotzki-Imitator weder Schiller noch Trotzki geholfen hat. Immerhin hat beispielsweise die „Vossische Zeitung“ in den Wochen und Monaten höchster Erregungspegel auf dem Friedensschauplatz Theaterkritik fast täglich Meldungen von und über Trotzki veröffentlicht, dessen Exil mit seiner Ermordung endete, während Erwin Piscator aus dem Exil heimkehrte und sogar noch die Volksbühne leiteten durfte: die Freie Volksbühne freilich, nicht die am Rosa-Luxemburg-Platz. Dort hatte die Weltrevolution ein dann offenbar doch nicht ganz salonkommunistisches Gesicht gezeigt, war selbst ins Gestrige gerutscht.

Nun endlich zu Carl von Ossietzky, der dem Leserbriefautor Piscator enorm viel Platz einräumte, um sofort einen Wirkungstreffer zu setzen: „Ich habe viel Respekt vor dem hellen Temperament Ihres Briefes, aber etwas nimmt ihm die Wirkung. Sie argumentieren nicht, Sie dekretieren.“ „Ich persönlich mache kein Hehl daraus, dass ich nicht an ein in Permanenz politisches Theater glaube.“ Ossietzky versteckt sich nicht und argumentiert, statt zu dekretieren: „Aber ein Theater, das Abend für Abend ohne eigne Phantasiezugabe paukt, was in Zeitungen und Meetings auch gepaukt wird, das ist ein Theater ohne Fluidum, ohne Schwingung und Strahlung, ein Theater nicht zum Mitgerissenwerden, sondern zum Abgewöhnen.“ Das könnte man heute noch oder wieder in jedes zweite Theater-Foyer hängen, vielleicht sogar in jedes, vorbeugend. Ossietzky sieht es als besonders problematisch an, dass sich Piscator an die KPD hängt, die für ihn „Partei der Revolutionsphrase“ ist und hält ihm außerdem vor: „… keiner der bedeutenden Theatermänner der letzten Jahrzehnte ist so mühelos durchgedrungen wie Sie, um keinen waren von vornan so stark die Sympathien meinungmachender Kritiker“. Und er verweist auf Briefe junger Linksradikaler an die Redaktion.

„Ich habe in diesen Monaten ganz andre Kritiken in Händen gehabt als die von Arthur Eloesser und Harry Kahn. Ich habe in diesen Monaten gut zwei Dutzend Zuschriften junger Linksradikaler in Händen gehabt – erregte Verwahrungen, wehe Klagen, dass an Stelle des erhofften Revolutionstheaters ein Bourgeoistheater entstanden sei, ein Kurfürstendamm-Ereignis ohne Band mit der besten rebellischen Jugend.“ Und noch einmal setzt Ossietzky einen Wirkungstreffer: „Ich glaube, Sie leiden nicht unter zu viel Anfeindung, sondern unter zu viel Lob. Befreien Sie sich von Ihren Korybanten. Die haben ein ganz entzückendes Rezept gefunden: bezweifelt man den politischen Sinn einer Aufführung, so wird tiefsinnig die ästhetische Bedeutsamkeit ausgespielt. Rührt man aber an diese, so heißt es nicht minder tiefsinnig: aber die Politik ist doch gut!“ „Sie haben uns revolutionäre Taten versprochen und herausgekommen ist eine berliner Sehenswürdigkeit.“ Womit aber hat sich Arthur Eloesser denn diesen Ein-Mann-Shitstorm aus dem Jahr 1928 verdient? Ossietzky selbst ist auf Details natürlich nicht eingegangen, man konnte frühere Ausgaben der „Weltbühne“ ja ohne viel Aufwand noch in die Hand bekommen, lesen und prüfen.

So etwa die vom 31. Januar 1928. Dort schrieb Eloesser unter der Überschrift „Schwejk“ voller ätzender Ironie: „Kurz nach dem Kriege, den wir vergessen haben, kurz nach der Revolution, die wir uns immer noch einbilden, erlebt zu haben, wurde in Berlin das dekorationslose Theater als zeitgemäß vorgeschrieben. Die Darstellung der Umwelt wurde als Erbschaft des Naturalismus verdammt, einer passiven, trägen, bourgeoisen Weltanschauung, die den Menschen des ewigen Gestern in alle seine Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt hielt. … Wer die beiden revolutionären Dogmen der leeren Bühne und der vollen Lunge nicht anerkannte, wurde aus dem Arbeiterrat der Kunst hinausgeworfen. … Die arme Illusion! Gestern war sie bürgerlich, heute ist sie proletarisch. … Die ist so voll vom Spuk der Prinzipien. Was werden die Leute erst jubeln, wenn die Räder des Zuges sich wirklich drehen!“. Vom Schwejk-Darsteller Max Pallenberg (18. Dezember 1877 – 26. Juni 1934) vermeldet der Kritiker: „Pallenberg hat uns weniger als sonst überrascht, weniger als sonst verführt und entführt in ein phantastisch Unwirkliches, das immer hinter dem allzu Wirklichen anfängt. Wer die Bühne kennt, versteht das; es ist eines von ihren wichtigsten Geheimnissen.“

Jetzt erst wird klar, woran Piscator wirklich Anstoß nahm, der sich hinter den Stichworten vom Wirklichen und vom Unwirklichen nur versteckte: Arthur Eloesser hatte ihm indirekt attestiert, er kenne die Geheimnisse der Bühne nicht. Stattdessen ihn immer wieder mit technischen Neuerungen in ausschließliche Verbindungen gebracht. Da ernennt man einen Kritiker schon einmal rasch zum Reaktionär und Bestandteil der hassenswerten alten Welt. An Kurt Tucholsky wagte sich Piscator ein reichliches Jahr später nicht mehr in ähnlicher Weise. Auch der verteidigte, ohne dass er die Namen von Eloesser und Kahn noch einmal erwähnte, beide erneut und mit gleichen Bezügen. Und zwar sehr ausdrücklich gegen Piscator. „Die Kollektiven“ hieß sein mit seinem Pseudonym Peter Panter gezeichneter Beitrag in der „Weltbühne“ vom 8. Oktober 1929. Darin referierte er unter anderem einen Gag aus dem Berliner Cabaret: „Wissen Sie, was Piscator nächstens machen wird? – ein neues Stück; gar keine Schauspieler mehr – nur Regie!“ Ein paar Zeilen weiter noch: „Was besonders Piscator angeht, so macht er sich die Sache etwas leicht. Hier gilt jede Kritik als „Verrat“ an einer heiligen und guten Sache – und seine Nachbeter stempeln jeden, der darauf hinweist, dass sich sein Betrieb von dem der bürgerlichen Theater nicht sehr stark unterscheidet, als Bourgeois.“

Dass Arthur Eloesser sehr bald nach Erwin Piscators Attacke gegen ihn und Harry Kahn seine Mitarbeit an der „Weltbühne“ auslaufen ließ, hat weder mit dem Regisseur noch mit Ossietzky oder Tucholsky zu tun. Monty Jacobs (5. Januar 1875 – 29. Dezember 1945) rief den Kollegen zurück zur „Vossischen Zeitung“, eine Anstellung dort war sicher auch finanziell lukrativer als jede freie Mitarbeit an noch so namhaften Blättern. „Goethe“ hieß sein letzter umfangreicherer Beitrag für die Wochenschrift. Es war ein Vorabdruck aus seiner zweibändigen Literaturgeschichte. Davor finden wir quasi als Anhang zum vorletzten längeren Artikel, er galt Henrik Ibsen, Eloessers vielleicht subtilste Antwort an seinen Kritiker Piscator. Es handelt sich um ein Gedicht mit dem Titel „An meinen Freund, den revolutionären Redner“, von Christian Morgenstern übersetzt. Ibsen reagiert auf einen, der ihn konservativ nennt, mit dem Satz „Ich bin, was ich war, seit ich denken kann.“ Auf Eloesser folgt im Heft auch gleich noch Harry Kahn mit „Galsworthy und kein Ende“. Selbst in dieser Textfolge darf man mit nur wenig Phantasie ein Signal der Redaktion sehen. „Ich nehme nur eine Revolution wahr, / Die keines Pfuschers Exekution war.“ „Weltbühne“ war eben „Weltbühne“.


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