Arthur Eloessers Dissertation

Knapp fünf Monate nach seinem 23. Geburtstag verteidigte Arthur Eloesser seine Doktorarbeit. Das wäre heute immer noch eine sehr reife Leistung. Ich zum Beispiel hätte im günstigsten Fall meine Doktorarbeit ein paar Monate nach meinem 31. Geburtstag verteidigen können. Denn erst hatte ich anderthalb Jahre Wehrdienst zu absolvieren, dann zweieinhalb Jahre auf einen Studienplatz warten; und als ich schließlich endlich soweit war, am dritten und letzten Abschnitt meiner Dissertation zu schreiben, rief mich ein mehrwöchiges Militärlager mitten aus der Arbeit, riss mich aus allen Zusammenhängen. Dergleichen verlangte nicht einmal Kaiser Wilhelm II. von seinen akademischen Untertanen. Arthur Eloessers „Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doctorwürde von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin“ trug den Titel „Die älteste deutsche Uebersetzung Molierescher Lustspiele“. Sie war erstaunlich schlank, Vita und Thesen eingeschlossen 81 Druckseiten. Meine Arbeit zum Beispiel umfasste 100 Seiten mehr, durfte aber im Text-Teil 120 Seiten nicht überschreiten, der Rest war Apparat. Die Begrenzung, so wurde mir seinerzeit erklärt, habe mit den ausufernden Längen vor allem philologischer und philosophischer Dissertationen zu tun, die nachvollziehbar nicht nur Betreuer und Gutachter extrem strapazierten.

Ob es für Arthur Eloesser Vorgaben seitens des Umfangs seiner Arbeit gab, kann ich nicht sagen, auf alle Fälle gab es keine Vorschrift, der gedruckten Fassung ein Inhaltsverzeichnis mit Seitenangaben voranzustellen. Wohl vor allem deshalb fehlt es im Druck. Die öffentliche Verteidigung fiel auf Sonnabend, den 12. August 1893. Das Titelblatt verzeichnet als Opponenten die Herren Ernst Altenkrüger und Gustavo Sacerdote, beide ausgewiesen als cand.phil., also noch nicht graduierte Studiosi, und Georg Finder, Dr. med., ein Mediziner also. Ernst Altenkrüger promovierte ein knappes Jahr nach Eloesser, am 18. Juli 1894, zum Thema „Friedrich Nicolais Jugendschriften“, unter seinen drei Opponenten findet sich Dr. Max Osborn, später langjähriger Freund und Kollege Eloessers bei der „Vossischen Zeitung“. Gustavo Sacerdote (1867 – 1948) war Italiener, studierte nach einem Diplom am Rabbiner-Kollegium in Rom in Berlin, wo er 1895 ein Diplom erhielt. Als Übersetzer übertrug er Werke von Marx, Engels, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Franz Mehring ins Italienische. Dr. Georg Finder dürfte der Mann gewesen sein, dem die Deutsche Medizinische Wochenschrift 41/1931 einen Nachruf widmete. Er war wie Sacerdote Jahrgang 1867, Spezialist für Hals-, Nasen- und Ohrenerkrankungen, ab 1910 Professor.

Finder war verheiratet mit Katharina Finder, geborene Schlesinger. Die wiederum war die einzige Schwester von Helene Herrmann, der Gattin von Max Herrmann, dem Begründer der Berliner Theaterwissenschaft. Den wiederum verdrängte Hans Knudsen aus seinem Lehramt. Knudsen gehörte zu den 88 Unterzeichnern einer Ergebenheitsadresse an Adolf Hitler, während Herrmann Jude war. Ein merkwürdiger Kreis schließt sich, wenn man weiß, dass Knudsen, der bekennende Nazi und Antisemit, nach 1945 unbeeindruckt Dissertationen betreute, die jene jüdischen Kritiker behandelten, die er vor 1945 aus dem deutschen Schrifttum verbannt wissen wollte. Helene und Max Herrmann fanden 1939 Unterschlupf bei Katharina Finder, 1942 wurden alle drei nach Theresienstadt deportiert. Max Herrmann starb dort, während die Schwestern Katharina und Helene am 16. Mai 1944 nach Auschwitz transportiert wurden, wo sie umgehend ins Gas gehen mussten. Vor der Eislebener Straße Nr. 9 in Charlottenburg-Wilmersdorf wurde am 17. November 2008 ein Stolperstein verlegt. Dass die erste akademische Arbeit über Arthur Eloesser (Doris Schaaf, 1962) von einem Alt-Nazi betreut wurde, bleibt für immer ein schändlicher Treppenwitz westdeutscher Nachkriegsgeschichte. Eloessers eigene erste akademische Arbeit leitet auf Umwegen genau darauf.

Dem Doktoranden des Jahres 1986 fällt neben und nach dem fehlenden Inhaltsverzeichnis von 1893 eine weitere Formalie auf: die „Vita“ des Kandidaten ist in Latein verfasst. Ich zitiere den Anfang in der Originalsprache, um einen Eindruck zu vermitteln: „Natus sum, Arthurus Eloesser, Berolini, anno h. s. septuagesimo a. d. XIII. Kal. Apr. patre Theodoro, matre Johanna e gente Levin, quibus adhuc superstitibus quam maxime laetor Fidei addictus sum mosaicae.“ Die Eltern sind hier verzeichnet und der mosaische Glauben auch. Aufgezählt sind die Namen akademischer Lehrer in Genf und Berlin. Sie seien hier vollständig erwähnt, weil nicht alle in den bisher öffentlich gewordenen Lebensabrissen Eloessers genannt sind. Für Genf: Humbert, Jaquemont und E. Rod; für Berlin ist die Liste deutlich länger: Curtius, Delbrück, Eck, Geiger, Herrmann, Hirschfeld, Jastrow. Koser, R. M. Meyer, Paulsen, Rödiger, E. Schmidt, Simmel, Tobler, Treitschke, Wätzoldt, Wagner, Weinhold, Zeller, Zeumer. Erich Schmidt war unter diesen Lehrern zweifellos der mit dem größten Einfluss auf Eloesser. Mit Herrmann ist tatsächlich der seit 1891 als Privatdozent lehrende Max Herrmann gemeint, für den sich vor der Augsburger Straße 42 ein Stolperstein findet. Der Stein für seine Schwägerin Katharina Finder liegt in der Parallelstraße, der genannten Eislebener.

Eine dritte (und letzte) Auffälligkeit unter den Formalien betrifft die Thesen. Römisch nummeriert sind es nur vier an der Zahl. Drei von diesen vier Thesen haben, wenn ich nichts überlas, keinerlei Bezug zum Text der Dissertation. Gleich die erste lautet: „Goethes Singspiel „Lila“ ist Molières „L'Amour médecin“ nachgeahmt.“ Das Stück wird zwar als erstes in der Reihe von fünfen im Abschnitt II, „Bildung des Uebersetzers“ von Eloesser behandelt, doch findet sich auf den Seiten 27 bis 32 keinerlei Bezug zu Goethe und seinem am 30. Januar 1777 im Weimarer Liebhabertheater aufgeführten Singspiel „Lila“. Lediglich die Fußnote 24 zur „Einleitung“ enthält diesen allgemeinen Satz: „Molières Einfluss auf Goethe kann trotz der mehrfach ausgesprochenen Vorliebe mit dem Shakespeares an Bedeutung und Fruchtbarkeit nicht verglichen werden.“ Die zuletzt am 21. Juli 2021 überarbeitete WIKIPEDIA-Seite zu „Lila“, an der immerhin 22 Autoren beteiligt waren bis dahin, kennt keinen Bezug des Singspiels zu Molière. Man könnte folgern, dass die These des Doktoranden Eloesser, die er am 12. August 1893 gegen drei Opponenten verteidigte, niemanden fand, der sie aufgriff. Dass „L'Amour médecin“ in der Dünndruck-Ausgabe des Insel-Verlages nicht wie die anderen vier betrachteten Lustspiele vertreten ist, erschwert zusätzlich die Prüfung am Text.

Die Zeitung, für die Arthur Eloesser schon wenige Jahre später arbeitete, meldete am Tag seiner Verteidigung übrigens so wichtige Ereignisse wie die Verleihung von „Rothen Adler-Orden“ oder die Abreise des Herzogs von Edinburgh mit Sohn aus Coburg (damals noch Koburg geschrieben) nach Oberhof bei Gotha. In der von Schlagzeilen noch völlig freien Zeitung findet sich auch die Besprechung eines Buches von Ferdinand August Louvier, Titel: „Goethe als Kabbalist in der Fausttragödie“ in jener Rubrik „Zeitschriften- und Bücherschau“, die Eloesser später auch immer wieder einmal bediente. In seiner Dissertation zitiert er schon jenen Mann, der ihm später zu dem Posten als Nachtkritiker der „Vossischen Zeitung“ verhalf: Paul Schlenther. Es ist also durchaus denkbar, dass der Kritiker, der nach Wien ging, nicht erst durch Eloessers zweite akademische Arbeit, die Studie „Das Bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“, auf ihn aufmerksam wurde und ihn für einen würdigen Nachfolger zu halten begann. Den umfänglichsten Dank an Schlenther hat Eloesser bekanntlich dadurch abgestattet, dass er dessen Gerhart-Hauptmann-Biographie ergänzte und erweiterte. Es sind rund 70 Druckseiten, die er hinzufügte. Dass auch die Thesen III und IV im Text keine Entsprechungen finden, sei hier lediglich erwähnt.

Unbedingt erwähnenswert ist die Sprache der Dissertation. Sie verzichtet nahezu komplett auf alles Philologen-Chinesisch, mit dem bis in die jüngste Zeit Doktorarbeiten völlig ungenießbar gemacht werden. Das gruseligste Beispiel dafür, das mir auf Anhieb einfällt, ist die Arbeit des Journalisten Adam Sobozynski über Heinrich von Kleist. Dieser künstlich akademische Kauderwelsch senkt die Lesbarkeit des Buches, zu dem es leider auch wurde, fast auf Null. Anders Eloesser: der schreibt, als schriebe er fürs Feuilleton, flüssig, verständlich, durchaus auch pointiert bisweilen. Eine solche Doktorarbeit liest man, auch wenn das dick aufgetragen klingt, durchaus mit Genuss. Und man wird von den damals aktuellen Modephilosophien verschont, die heute allenthalben wie Feldzeichen vorangetragen werden und sich, wie Mode eben, durch ihre forcierte Vergänglichkeit auszeichnen. Eloesser leistete sich eine, am Gesamtumfang der Arbeit gemessen, fast überproportionale Einleitung, mit der er jedoch etwas tut, was auf eine moderne Geschichtsauffassung schließen lässt. Er bettet seinen höchst begrenzten eigentlichen Untersuchungsgegenstand in ein geschichtliches Umfeld, ohne das ihm vor allem die differenzierte Bewertung der Leistungen des anonymen Übersetzers unmöglich geworden wäre. Isolierende Sichtweisen wären ihm hinderlich geworden.

„Anarchisch, wie die politischen, waren die Zustände des deutschen Theaters. Die dramatischen Dichter suchten den Zusammenhang mit der lebendigen Bühne nicht.“ Ihre Stücke „waren ihrer ganzen Anlage nach berechnet, nicht gespielt, sondern gelesen zu werden.“ So setzt bereits die erste Seite Akzente: das Theaterleben ist im Bezug auf das allgemeine Leben zu setzen, es zeigt dessen Charakteristika. Die dramatischen Dichter hatten bereits damals kein Verhältnis zum lebendigen Theater, sie produzierten Lesedramen. Diese Tendenz hat sich nie ganz verloren in der deutschen Dramatik. Fälle wie die Molières, Shakespeares, wo Schauspieler Stücke schrieben, in denen sie selbst auftraten und damit Klassiker wurden, hat die deutsche Sprache allenfalls in Nestroy und dann auch bei eher trivialen Figuren wie Birch-Pfeiffer. Noch Goethe schrieb einerseits als Intendant des Weimarer Theaters, vorher Leiter des Liebhabertheaters, Werke, die nur auf die Spielbarkeit und den Anlass gerichtet waren, wie eben „Lila“, andererseits aber den „Goetz“ oder den „Faust II“, die so, wie sie im Buche stehen, nicht spielbar sind. Eloesser gräbt einen Schlesier namens Johann Christian Hallmann aus (zirka 1640 – 1716), der sich als gelehrter Barockdichter ausdrücklich dagegen verwahrte, von „ehrlosen Komödianten“ auf eine Bühne gebracht zu werden.

Umgekehrt galt: „Die Komödianten fühlten sich durchaus nicht als die Interpreten des Dichterwortes, das uns als gegebene Größe feststeht.“ Dass die ersten Komödianten auf deutschem Boden Engländer waren, betont Eloesser ausdrücklich. „Der persönliche Stil des Dichters ging völlig verloren.“ Gespielte Shakespeare-Stücke in deren Repertoire „erheben sich sprachlich kaum über die anderen Bandenstücke“. Das Fazit: „So standen sich Dichtung und Bühne fremd, ja feindlich gegenüber, als die Meisterwerke des französischen Klassicismus in Deutschland Eingang fanden.“ Kleinere Fürsten, Eloesser nennt namentlich die von Braunschweig, Celle und Hannover, „unterhielten gemeinsam ein stehendes französisches Theater, auf dem im Jahr 1669 der erst im vorhergehenden Jahre gedichtete Amphitrion Molières aufgeführt wurde. Solche Aufführungen blieben faktisch wirkungslos. „Die deutschen Komödianten hatten unter der Konkurrenz der überlegenen Fremden schwer zu leiden.“ Eine Fußnote verrät dem heutigen Leser, dass Doktorand Eloesser natürlich nicht voraussetzungslos arbeitete. Mit den Molière-Übersetzungen des 17. Jahrhunderts hatte sich vor ihm schon Johannes Bolte befasst (11. Februar 1858 – 25. Juli 1937), der mehr als vierzig Jahre lang in Berlin als Gymnasiallehrer wirkte, über Homer promoviert hatte.

„Das deutsche Publikum war noch nicht geeignet, die Meisterwerke der französischen Tragiker auf sich wirken zu lassen.“ Denn: „Das handlungsarme Drama des Franzosen, der die Katastrophen nur berichtet, konnte ein Publikum nicht fesseln, dass krasse Vorgänge in breitester Ausführung zu sehen begierig war.“ Folgerichtig waren die Versuche, diese Werke dennoch auf die Bühne zu bringen, damit verbunden, dass die nur berichteten Vorgänge (in der Theatersprache: Mauerschau) direkt auf die Bühne gezogen und damit die Tragödien von Corneille oder Racine zerstört wurden. Nach Schilderung dieser Ausgangslage kommt Arthur Eloesser zu seiner eigentlichen Hauptquelle, einer Publikation mit dem Titel „Schaubühne Englischer und Frantzösischer Comödianten“. Dort findet er im ersten Band drei der dann fünf Übertragungen von der Hand eines anonymen Übersetzers und eines womöglich zweiten, mit denen er sich in den Abschnitten II und III seiner Dissertation im Detail befasst. Es handelt sich um „Amor der Arzt“ (L'amour médicin), „Die köstliche Lächerlichkeit“ (Les précieuses ridicules), „Der Hanrey in der Einbildung“ (Sganarelle ou le cocu imaginaire) aus dem ersten, um „Der Geitzige“ (L'Avare) und „Georg Danin oder der verwirrte Ehemann“ (Georges Dandin ou le mari confondou) aus dem dritten Band der Schaubühne.

„Dies sind die ältesten deutschen Moliere-Übersetzungen. - Den Dolmetsch kennen wir nicht.“ Was Eloesser also auf den folgenden Seiten im Detail zu den Qualitäten wie den Fehlleistungen dieser Übersetzungen sagt, trifft einen Anonymus. Und dem billigt er zuallererst unsterbliche Verdienste zu: „Das Verdienst, die Bedeutung Molières für die deutsche Bühne erkannt zu haben, gebührt den Komödianten. Der größte Dramatiker Frankreichs, der sich durch geniale Hebung vorhandener populärer Motive aufgeschwungen hatte, fiel nicht in die Hände eines bühnenfeindlichen gelehrten Interpreten“. Die fünf Stücke, die jener Anonymus auswählte aus dem vorhandenen Corpus, bilden laut Eloesser eine glückliche Auswahl. „Es sind nicht die höchsten Leistungen Molières, aber die für ein ungebildetes Publikum wirksamsten.“ Es gibt ein gemeinsames Merkmal: „In unseren Farcen sind die Diener die eigentlichen Träger der Handlung, die wissenden, die den Knoten der Intrigue schürzen und lösen.“ Und eine wichtige Wirkung: „Diese Dramen waren die Brücke, welche zur Aufnahme und zum Verständnis der größeren Schöpfungen des Dichters, des Tartuffe und des Misanthrope führen mussten.“ Die gebührende Wertschätzung hat die Übertragung nicht gefunden, die ihr nach Arthur Eloesser aber unbedingt zukäme. Das ist eine klare Botschaft.

Die sicher durchaus im Wissen formuliert wurde, dass selbst von gedruckten Dissertationen keine messbare Wirkung auf eine literarische Öffentlichkeit ausgeht. Im Fall seiner Dissertation kommt erschwerend hinzu, das sie als selbstständiger Druck nur den ersten Teil der eingereichten Arbeit brachte, die vollständige Fassung ist lediglich in den „Berliner Beiträgen zur germanischen und romanischen Philologie“ nachzulesen, die wie der Druck auch in C. Vogts Verlag erschien. Arthur Eloesser findet sich in diesen „Beiträgen“ in durchaus illustrer Nachbarschaft. In Band 1 Otto Flake mit seiner Arbeit „Geschichte des Knittelverses vom 17. Jahrhundert bis zur Jugend Goethes“, in Band 2 Felix Poppenberg mit „Zacharias Werner, Mystik und Romantik in den „Söhnen des Thals““, in Band 7 Eloessers späterer Feuilleton-Chef Monty Jacobs mit „Gerstenbergs Ugolino ein Vorläufer des Geniedramas“. Zur Einschätzung der Übersetzer-Leistung schreibt Eloesser wie vorbeugend: „Der stilistische Wert der Uebersetzung kann nicht einseitig an dem Original gemessen werden. … Die stilistischen Leistungen der bühnenfremden dramatischen Litteratur können für eine Beurteilung nicht in Betracht kommen“. Weil die Sprache des Theaters „gänzlich verwildert“ war, die Komödianten keinen Dialog kannten, nur Monologe, muss anderes Maß gelten.

„Denn wir haben es zum ersten Male in der Geschichte der Schaubühne mit einer wirklichen wörtlichen Übersetzung zu tun. … Unser Übersetzer konnte sich an Drucke halten. Er hatte einen sicheren Text und auch den nötigen Respekt vor dem Worte des Dichters. Er hat nichts Wesentliches geändert oder gestrichen, er hat sich zu entstellenden Zusätzen nicht verleiten lassen.“ Damit sind indirekt die Kernmängel anderer Übersetzungen benannt. Der II. Abschnitt der Dissertation ist mit „Bildung des Uebersetzers“ überschrieben, zieht deshalb zunächst allgemeine Rückschlüsse auf den Anonymus, ehe er sich den fünf bereits genannten Werken einzeln zuwendet. Aus dem sicheren Umgang mit der antiken Mythologie folgert Eloesser eine Herkunft aus akademischen Kreisen, gibt aber zu bedenken und verhält sich damit innerhalb seines eigenen Textes wie ein Opponent während der Verteidigung, dass die Kenntnis der Mythologie auch „in den rohesten Bandenstücken“ erkennbar war. Auf Details ist hier nicht näher einzugehen, sie zeigen durchweg die Vertrautheit des Doktoranden auch mit Feinheiten der französischen Sprache, was ihn in die Lage bringt, überzeugende Thesen zum Arbeitsverfahren des Übersetzers zu formulieren (Nutzung von Nachschlagewerken etwa). Grobe Fehler oder gar Missverständnisse seien selten.

„Während der Uebersetzer die französische Umgangssprache mit genügender Sicherheit beherrscht, gebricht es ihm völlig an Verständnis für den Molièreschen Witz.“ Dieser Vorwurf bleibt für alle fünf Stücke bestehen. Für die Auswahl der Stücke macht Eloesser wie schon in der Einleitung die Erwartung des deutschen Publikums der Zeit verantwortlich, das eher Verkleidungsspäße und Prügelszenen auf der Bühne sah als gelehrte Dialoge zu Verhältnissen, die es selbst nicht kannte und folglich auch nicht verstand. Feststellbar sei die Scheu vor allen Stellen, an denen bei Molière Kritik an König und Königtum zu erkennen oder zu vermuten war. Da strich der Übersetzer rigoros. Selbst harmlose Passagen, die er nur in Verdacht hatte, eventuell anstößig zu sein. Eloesser moniert den teilweise häufigen Gebrauch von Fremdwörtern, auch die Übertragung der französischen Alexandriner in deutsche Prosa kann ihn nicht zufriedenzustellen. Wortwitze und Wortspiele gehen verloren, für derbe volkstümliche Ausdrücke sind dem Übersetzer entsprechende deutsche Wendungen viel eher präsent. Für „Georges Dandin“ lautet das Fazit: „Die Aufgabe des Übersetzers war es, die tragische Grundstimmung, durch die sich Molière so hoch über seine Vorgänger erhebt, fühlbar wiederzugeben. Das ist ihm auch gelungen.“ Den Witzen sei er regelrecht ausgewichen.

Die Übertragung von „Der Geitzige“ erweckt in Eloesser den Eindruck, hier müsse ein anderer, ein zweiter Übersetzer am Werk gewesen sein. „Diese Uebersetzung ist gänzlich prinzipienlos.“ Er stehe „an Bildung, Gewandtheit und Zuverlässigkeit tief unter seinem Vorgänger; seine Sprache erhebt sich nicht weit über die der Bandenstücke“. Ein „Syntaktisches“ überschriebener dritter Abschnitt befasst sich mit den Eigenheiten des Satzbaues. Der zuerst besprochene Übersetzer „versucht mit deutlichem Bemühen auch den Satzbau dem deutschen Sprachgefühl gemäß zu gestalten.“ Damit „erhebt er sich weit über die Mehrzahl seiner Nachfolger“. Auch hier können die Details weitestgehend übergangen werden. Ein wohl großzügig übersehener Passus sei dennoch herausgegriffen, wobei es nicht um Satzbau geht. Der Übersetzer hat „confitures“ mit „marcipan“ übersetzt. Doch hat „confiture“ mit Marzipan nichts zu tun, das französische Wort „massepain“ wäre die Entsprechung gewesen. „Die Vorzüge der Sprache, die syntaktische Gewandtheit, der deutsche, frische Ausdruck gehören dem Uebersetzer, die entstellenden Plumpheiten und Steifheiten gehören seiner Zeit an. Bei der ersten flüchtigen Betrachtung sind es die Schimpfwörter, welche die Rede plump, und die Fremdwörter, welche sie steif erscheinen lassen.“ Auch dazu folgen Beispiele.

„Eine Reihe anderer Vergröberungen begeht der Uebersetzer dadurch, dass er ausspricht, was bei Molière mit einem feineren Ausdruck oder mit einer zarteren Nüance desselben Gedankens angedeutet ist.“ Doch lassen sich, wie Eloesser im IV. Abschnitt ausführt, direkte Wirkungen der von analysierten Übersetzungen auf die ersten deutschen Nachahmer Molières, auf Christian Reuter (9. Oktober 1665 – nach 1712) und Christian Felix Weiße (28. Januar 1726 – 16. Dezember 1804) nicht feststellen. Indirekte Wirkungen liegen dagegen auf der Hand, weshalb er zusammenfasst: „Wir sehen, wie Molière, nachdem er einmal von den Komödianten in nicht makelloser, aber gewandter und natürlicher Verdeutschung der deutschen Bühne geschenkt war, auf zwei Dichter befruchtend gewirkt hat, die in gleicher Weise von der Realistischen Beobachtung des Lebens ausgehen“. „Mit diesen beiden begann Molières dauernder Einfluss auf die sächsische Komödie“, zu der der Autor noch die Jugenddramen Lessings zählt. In einem Anhang werden abschließend noch Proben der Verskunst des Uebersetzers gegeben, von denen keines eine überzeugende Leistung darstellt. Für Arthur Eloesser war mit dieser Arbeit das Thema Molière nicht abgehakt, wie schon sein nächstes Buch mehrfach  zeigt, vor allem aber seine Kritiken zu Molière-Inszenierungen.


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