Gustav Rudolf Sellner: Schiller und die heutige Bühne

Gustav Rudolf Sellners Schiller-Rede vom 9. Mai 1955 wäre mit ziemlicher Sicherheit nicht eine der ersten gewesen, die ich mir vornahm, als ich begann, mich mit den verschiedenen großen Jubiläen zu befassen, die Schillers Nachleben wie das kaum eines anderen deutschen Dichters bestimmen und charakterisieren. Aber ich besaß den im Reba-Verlag Darmstadt erschienenen Band „Kritiken. Ein Jahrzehnt Sellner-Theater in Darmstadt“ von Georg Hensel, der zu meinen bis heute immer wieder gern benutzten Kritiken-Sammlungen gehört. Sellner hatte von 1951 bis 1961 die Intendanz am Darmstädter Theater inne und prägte mit seinen Inszenierungen eine ganze eigene Art von Theater, eben das, was Georg Hensel das „Sellner-Theater“ nennt. Am 8. Mai 1990 starb Sellner. Götz Friedrich schrieb damals in der ZEIT: „Als ich wenige Stunden nach seinem Tod … mit seiner Frau Ilse telephonierte, berichtete sie mir von einem Wort Sellners, das ich bisher nicht kannte.“ Und dies Wort lautet: „Ich liebe die Kunst. Aber noch mehr liebe ich die Menschen, die Kunst machen.“ Das lässt sich natürlich auf Schiller beziehen, auch auf Schiller.

Sechzig Jahre nach jenem einhundertfünfzigsten Todestag, der viel Geschäftigkeit auslöste in beiden Teilen Deutschlands und darüber hinaus, es sei nur an die berühmteste aller Schiller-Reden des Jahres erinnert, die von Thomas Mann, also Reden, Inszenierungen, Buchveröffentlichungen in nur mühselig zu überschauender Zahl, hat Gustav Rudolf Sellners Ansprache im großen Sendesaal des Frankfurter Funkhauses immer noch ein nur scheinbar triviales Alleinstellungsmerkmal: es ist die Rede eines Theaterpraktikers. Im Register-Teil des Hensel-Buches sind allein für das behandelte Jahrzehnt Inszenierungen von „Don Carlos“, „Die Jungfrau von Orleans“, „Die Piccolomini“, „Wallensteins Tod“, „Maria Stuart“ und „Wilhelm Tell“ verzeichnet, hinzu kommt einmal „Don Carlos“ in Berlin. Das ist nicht wenig und auffallend lediglich, dass die drei frühesten Werke in diesem Jahrzehnt nicht Sellners Regie-Interesse fanden. Wie einer der einflussreichsten Theaterkritiker Sellners Schiller-Arbeiten sah und beurteilte, wäre ein eigenes Thema, soll hier aber nicht näher betrachtet werden.

Wohl aber gehört hierher, was Georg Hensel, später Verfasser des umfangreichen Schauspielführers „Spielplan“, summierend zum „Sellner-Theater“ schrieb: „Ein Regisseur ist nicht dazu da, einem Schauspieler zu zeigen, wie man mit einem Zahnstocher umgeht – in dieser beiläufigen Bemerkung Sellners liegt sein dramaturgisches Programm. Natürlich weiß Sellner, daß ein Regisseur auch dazu da ist, den Umgang seines Ensembles mit Zahnstochern zu kontrollieren, doch war er selbst nicht geneigt, dies zu tun, er spielte einfach keine „Zahnstocher“-Stücke. … Kein Naturalismus, kein Realismus, kein Boulevardstück und schon gar nicht das, was man zeitkritisches oder unterhaltendes Gebrauchstheater nennt.“ Dass da dennoch allerhand großes Repertoire blieb, zeigt das Register der Autoren bei Hensel, die Fehlstellen seien mit den Namen Ibsen, Tschechow, Gerhart Hauptmann, Gorki, Arthur Miller und Tennessee Williams angedeutet, auch Sartre fand lediglich mit „Die Fliegen“ Gnade, soweit man bereit ist, den Griff danach Gnade zu nennen in den Jahren eines fast ausufernden Sartre- und Existenzialismus-Hypes in Westdeutschland.

„Wenn das Theater über einen Dramatiker spricht, unternimmt es eigentlich schon einen Ausflug ins Unzuverlässige, vielleicht sogar Unerlaubte. Denn es sollte ihn zeigen, als sein Instrument sich ausdrücken ihn in seinen Werken zeigen – und diejenigen, für die sie gezeigt sind, mögen allenfalls über ihn sprechen.“ In der Druckfassung sind zwei Wörter kursiv gesetzt, das „zeigen“ und die „Werke“. Man würde das ohne diese Hervorhebung wohl kaum missverstehen, dagegen ist eine andere starke These gar nicht genug zu unterstreichen, liest man sie heute: Das Theater sei Instrument des Dramatikers – wer mag das unterschreiben in Textflächen-Zeiten, da sich der Dramatiker selbst als Instrument versteht, dabei eine Art Subjekt der instrumentellen Unvernunft vorstellend? Im Werk finde man den Dichter immer total, meint Sellner, er spreche von der Bühne herab: „... er ist es selbst, der hier lebendig wird, denn zu uns spricht sein im Augenblick des Entstehens im Munde des Schauspielers lebendig gewordenes Wort.“ Der Anlass eines Jubiläums, dass weiß Sellner natürlich, macht immer misstrauisch, es könnte Bequemlichkeit sein in der Spielplankonzeption, es könnte als Regung schlechten dramaturgischen Gewissen gedeutet werden, das räumt der Redner ein und trägt seine Rede dennoch vor. „Dieser Tag ist vielmehr ein Aufruf, an dem Phänomen Schiller den eigenen Standort des Theaters zu suchen und zu bestimmen.“

Gustav Rudolf Sellner hat einen zum Kern des Themas 1955 wie 2015 führenden Ausgangspunkt seiner Suche formuliert: „Aber es ist ein Unterschied, ob gefragt wird: Inwieweit sind die Schillerschen Texte für das Theater unserer Zeit verwertbar? - oder: Wie und wie weit ist das Theater heute noch in der Lage, Schiller auf der Bühne zu verwirklichen?“ Man muss keine Beispiele anführen, um zu belegen, dass die erste Frage deutlich häufiger und deutlich öfter mit sehr vorhersehbaren Antworten verbunden bald danach in die Räume gestellt wird. Sellners Diagnose 1955 ist mehr als eindeutig: kein einziger Klassiker sei auf den Bühnen der Zeit wirklich beheimatet. Diese Diagnose forderte wenig Hellsicht, überraschte niemanden, der sich mit der Materie befasste. Was aber wohl damals und auf alle Fälle heute sehr überrascht, ist der Umstand, dass der Redner in diesem Zustand einen „außergewöhnlichen Substanzverlust“ für die Bühnen sieht und diese Wertung in keiner Hinsicht einschränkt. Eine Schuldzuweisung unternimmt Sellner nicht, hält aber für die Theatermacher seiner Zeit fest: „Es gelingt ihnen nur selten, die Tradition vom Staub des Konventionellen zu reinigen, und vor allem gelingt es ihnen nicht mehr, ein Theater der Größe aufzurichten...“.

Eine Tradition vom Staub des Konventionellen zu reinigen, würde voraussetzen, die Tradition nicht selbst schon als Staub anzusehen, dann hinterließe die Reinigung nur Leere. Sellner zählt Stücke und Namen über Schiller hinaus auf, die ihm gefährdet scheinen: „Müssen wir nicht fürchten, dass uns auch Kleist unter den formenden Händen schwindet?“ Die Geschichte habe demonstriert, „dass Dichtung durch Gewohnheit und achtlose Zuordnung zum Besitzstand der Nation aufgebraucht werden kann.“ Speziell zu Schiller: „Der unablässige Konsum von Zitaten aus seinen Dramen hat alle inneren und äußeren Wege verdunkelt, die einmal zur Entstehung der zitierten Stellen als Aussage geführt haben. Der angewandte Schiller hat Schillers Wesen entstellt, sein Wirken unfruchtbar gemacht.“ Es ist wohltuend, aus dem Munde des Intendanten und Regisseurs Sellner ein pauschales Lob des Iffland-Dalbergschen Theaters in Mannheim zu vernehmen, denn fast ein Gemeinplatz der Schiller-Literatur ist ja der abwertende Akzent, der beide Herren trifft, gerade wenn es um ihr Interagieren mit Friedrich Schiller geht, ihre Sicht der Dinge und Verhältnisse hat selten eine Chance neben der vermeintlichen Ideallinie, von der Schiller vorgeblich abweichen musste unter ihrem Druck, ihrem Einfluss. Dabei war Schiller nicht nur lernfähig, er war auch in einem geradezu außerordentlichen Maße lernwillig, lernbegierig gar.

„... alles ist wie ein Ausbruch aus der Gesellschaft inmitten der Gesellschaft selbst. … Entscheidend für die Wirkung des Schillerschen Theaters war die Offenheit für das Absolute der Sprache.“ Das Theater hat mit und durch Schiller, so sieht es Sellner, einen Sprung gemacht, eine Belebung empfangen, „die es nur bei Shakespeare gefunden hatte.“ Von 1799 bis 1805 manifestiert sich das „durch sieben dramatische Werke, von denen nicht eines nach der Schablone des vorangehenden gebaut, sondern jedes einzelne als Muster einer besonderen Konzeption entworfen ist … das ist das Hinreißende und Fortwirkende an der Erscheinung des Schillerschen Genies im Theater.“ Und dann kommt die beunruhigende These: „Diese geistige Stoßkraft zu vergessen, vor diesem Blitz die Augen zu verschließen … das wäre, so glaube ich, der Selbstmord des Theaters.“ Wer sich dieser Sicht nicht radikal verschließt, kann die Folgegeschichte des deutschen Theaters auch als eine seltsame Kette von Selbstmordversuchen deuten, ohne dabei vollkommen die Realität zu verfehlen. „Gerade an Schiller erweist sich,wie gefährlich es ist, das Werk der Epoche, die wir die klassische nennen, als Bildungsgut zu thesaurieren und Stück für Stück davon zu verbrauchen, als schnitten wir Coupons.

Es ist noch nicht lange her, da hat sich Claus Peymann in seiner unnachahmlichen Art in einem SPIEGEL-Interview dagegen verwahrt, durch Vergleiche verschiedener Inszenierungsweisen den Begriff des Musealen abzuwerten und womöglich irreparabel zu beschädigen. Als wolle Gustav Rudolf Sellner anknüpfenden Missverständnissen vorausschauend vorbeugen, hat er in seiner Ansprache in Frankfurt gesagt: „Dramen hängen nicht wie Bilder an der Wand. Sie sind veränderliche Werte und Größen, veränderlich jeweils im Augenblick ihrer Verwirklichung auf der Bühne, veränderliches Leben in jedem Atemzug dessen, der seine Worte nachschaffend spricht, veränderlich in jeder Geste des Darstellers.“ Es ist das Eigentümliche des Dramas, in dieser Veränderlichkeit zum Leben zu kommen: „Sogar erschreckenden Eingriffen, gegen die sich das Gefühl des Bewahrens auflehnen möchte, hält die Substanz einer großen dramatischen Dichtung nicht nur stand, sondern gewinnt oft erst jetzt ihre lebendige Kraft, um in eine veränderte Gegenwart hineinzuwirken. Dass an dieser Stelle nun erstmals ein Begriff auftaucht, der heute nur mit gewissermaßen spitzen Fingern benutzt wird, überrascht wenig: Werktreue.

„Die Frage nach der Werktreue kann keine Frage der Erhaltung der Form sein, sondern ausschließlich eine Frage nach der Substanz. Die Frage nach der Substanz aber ist ein Zurückfragen auf den Ursprung des Dramas, auf den Augenblick seiner Hervorbringung, auf den Dichter selbst. Die Menschen verschiedener Zeiten hören und blicken verschieden in die Dichtung hinein. Wonach sie fragen, beantwortet die Dichtung, aber sie fragen in den Zeiten verschieden.“ Sellner demonstriert seine These am Beginn des zweiten Aktes von „Don Carlos“, indem er an eine Inszenierung von Leopold Jessner erinnert, die er selbst erlebte. Sein zweites Beispiel ist Erwin Piscators „Die Räuber“, die Theatergeschichte schrieb, obwohl und auch weil sie mit ihren brutalen Textänderungen eben nicht nur Selbstherrlichkeit eines Regisseurs verkörperte. Sellner überlässt dem Kritiker Herbert Ihering das Wort: „... sie war insofern wichtig für das alte Drama, als sie es weiterleitete in die moderne Dichtung, in das aktuelle Zeitstück und Schiller wieder fruchtbar machte für die Gegenwart.“

Sellner beendet seine Rede nüchtern optimistisch: „Insoweit wir diesen Ursprung der Schillerschen Dichtung für die Bühne neu entdecken, nämlich den Geist seiner Sprache, und soweit wir ihn realisieren werden, soweit wird seine Dramatik und damit wohl ein großer Teil unserer klassischen Dramatik überhaupt in unserem Theater wieder beheimatet werden.“ Jede heutige Schiller-Regie, das steht nicht mehr bei Sellner, lässt sich aber sehr zwanglos aus ihm ableiten, die dem Zitaten-Schiller auszuweichen als höchste Inszenierungsidee ansieht und nicht jenen Wegen folgt, die, siehe oben, „einmal zur Entstehung der zitierten Stellen als Aussage geführt haben“, wird über mäßige Ergebnisse kaum hinauskommen können. Die Substanz der Dichtung muss aufleuchten, fordert Sellner. Dann ist fast alles erlaubt, weiß er aus der Geschichte des Schillerschen Fortlebens.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround