Inge Jens porträtiert Max Kommerell

Das Beste, was von Literatur ausgehen kann, ist eine Berührung. Wobei es gleichgültig ist, welcher Art diese Literatur ist: Roman, Essay, Erinnerung, Brief, Drama, was auch immer. Die kann von einer einzigen Stelle ausgehen, im Ganzen des sie enthaltenden Werks von peripherster Bedeutung womöglich. Ein Satz auf einer Seite 46, bis zu dem man sich gequält hat, eine überraschende Wendung, eine Beschreibung, die den Blick vom Buch in Fernen ruft, die gar nicht örtlich fixierbar sein müssen. Fernen der Erinnerung zum Beispiel, die, aufgerufen, sich nicht melden würden. So lese ich in einem Brief von Max Kommerell über dessen Pläne für das Studium in Tübingen: „... die Hauptarbeit soll zunächst Philosophie bilden, und ich glaube, da geht man besser, die Werke ausgezeichneter Autoritäten durchzuarbeiten, als Vorlesungen mittelmäßiger Professoren“. So hätte ich es vor meinem Philosophie-Studium nie formuliert, mein Weg dahin war viel zu absonderlich. So aber war mein Erleben: Da las einer über die Antike, wir hingen buchstäblich offenen Mundes an seinen Lippen. Da las einer über die klassische deutsche Philosophie und referierte eigentlich nur Lenins Exzerpte, jedes zweite Wort hieß: Länninn. So sprach er es. Wir praktizierten bereits im ersten Studienjahr selektiven Vorlesungsbesuch: Was es als oder im Lehrbuch gab, hörten wir nicht.

Als ich viele Jahre später, von der Philosophie in den Journalismus getrudelt, meine erste Vorlesung im Großen Hörsaal der TU Ilmenau hörte, eben erst war sie Universität geworden, ich kannte sie noch mit ihrem Mädchennamen Hochschule, da stand vorn einer, hantierte schweigend an einer Technik, die dann Folien an die Wand projizierte. Und las jede einzelne Folie Wort für Wort vor. Nie, nie hätte ich als Student auch nur den Besuch einer zweiten Vorlesung dieses Mannes erwogen und wenn ich jetzt das Wort Kommerells noch einmal lese, denke ich: damals lasen mittelmäßige Professoren ja womöglich noch wie die meiner Humboldt-Jahre. Jetzt scheinen untermaßige Professoren ihre Studenten für hirntot zu halten. Inge Jens aber, die zwei handliche Bände aus Max Kommerells Nachlass herausgab, liefert mir in Umrissen das Porträt eines Mannes, von dem ich zwar las, was er über Schiller, über Heinrich von Kleist geschrieben, dessen dickes Jean-Paul-Buch ich vor meiner eigenen kleinen Jean-Paul-Rede nur noch blätternd herangezogen hatte, aber sonst nichts wusste. Ich gestehe gern, dass mir der George-Kreise nie Neugier einpflanzte und das ist nicht besser geworden, nachdem ich nun mehr weiß: vor allem, was für ein Prozess es war, sich von dem Guru und seiner männlichen Gemeinde zu lösen. Inge Jens konnte noch diskreter kaum sein.

Ein einziges Lexikon reicht aus, Leben und Lebenskreis von Max Kommerell zu erschließen. Es heißt „Mann für Mann. Ein biographisches Lexikon“, erschienen als umfangreiches Suhrkamp-Taschenbuch, Autor Bernd-Ulrich Hergemöller. Tausend Porträts, so der Verlag, zeigen, „wie Männer seit dem frühen Mittelalter mit „mannmännlicher“ Liebe und Sexualität umgegangen sind, es schließt lexigraphische Lücken, lüftet Tabus und macht deutlich, dass Männerfreundschaft und Homosexualität zu keinem Zeitpunkt ein „Privileg“ nur von Künstlern und Schriftstellern war“. Ich gestehe, das ich auf diesen absurden Gedanken auch nie gekommen wäre, allein schon wegen der Frisöre und Ernst Röhm. Mir scheint aber in meinem vollkommen laienhaften Wissen, dass Sexualität ein Gesamtleben viel heftiger, viel nachhaltiger und vor allem auch dramatischer prägt, wenn sie Homosexualität ist und das wiederum wohl signifikant eher bei Männern als bei Frauen. Das soll hier auf keinen Fall Gegenstand werden, Fakt aber ist: schon die ersten Fixsterne in Max Kommerells Leben, Hans Blüher (1888 - 1955) und Gustav Wyneken (1875 - 1964), waren Männer, die ihre Neigungen nicht nur nicht geheim hielten, sondern zum Teil sogar zum erklärten Fundament ihrer männerbündlichen, ihrer reformpädagogischen Theoriebildungen nahmen.

Es scheint, als würden in diesem Milieu Brüche radikaler vollzogen. Als sei der Bruch mit der Theorie auch immer zwingend Bruch mit dem Mann und umgekehrt. Max Kommerell gehörte etwa acht Jahre zum engsten Stefan-George-Kreis und als er mit dem Meister brach, bedeutete das zugleich und ohne Ausnahme auch den Bruch mit dem gesamten Kreis. Kommerells intimster Freund aus dem Kreis, Hans Anton (1900 – 1930) nahm sich das Leben, als der Bruch irreversibel geworden war, kurz nach dem Tod von Friedrich Wolters (1876 – 1930) ein zweiter Schlag, und wie zu lesen, bewusst auf den Geburtstag Kommerells gelegt: das machte den Vorwurf größer. In einer Tagebuchnotiz, begonnen am 3. Oktober 1930, überschrieben mit „Ein Wendepunkt in meinen freundschaftlichen Beziehungen“ gibt Kommerell sich Rechenschaft und Inge Jens ist seinen Argumenten in ihrer Vorworten zu den beiden Nachlass-Bänden auch eng gefolgt. Dort heißt es: „Das ganze Umeinanderleben wie es sich herausgebildet hatte, beruhte auf einer so vollständigen Aufgabe des persönlichen Selbstgefühles, wie ich sie höchstens für einen Jüngling, niemals für einen Mann angemessen und erträglich nennen kann.“ Auf Hans Anton aber bezogen: „Er war so zart, die Not in die ich ihn versetzte, kaum zu erwähnen. … Der Abschied war für mich furchtbar“.

Es ist interessant zu wissen, dass Hans Mayer, im Hergemöller-Lexikon aus unerfindlichen Gründen nicht präsent, ausgerechnet dieses Tagebuch-Stück als einen von drei Texten hervorhob, die den Griff zum Buch „Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919 – 1944)“ allein schon lohnten. Mit der Sprache des Bekenntnisses kann das nicht zu tun haben, denn die ist derart umständlich und gedreht, dass sie eher abschreckt. Und die beiden anderen Dokumente im Buch sind gar nicht von Kommerell selbst, sondern Briefe anderer an ihn: einer, den Rudolf Alexander Schröder am 19. Oktober 1940 schrieb, einer, den Heinrich Zimmer im Februar 1934 an ihn richtete. Schröder (1878 – 1962, ich kenne ihn nur von seinen Schiller-Reden 1955 und 1959 her ein wenig), kritisierte den Roman „Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern“ heftig. Zimmer, der Indologe (1890 – 1943), war Hugo Hofmannsthals Schwiegersohn, Hofmannsthal wiederum auch einer, der mit Stefan George gebrochen hatte. Zimmer warf Kommerell vor, allzu kurzschlüssig von der Figur des Claudio in Hofmannsthals Versdrama „Der Tor und der Tod“ (1894 zuerst veröffentlicht) auf dessen Schöpfer geschlossen zu haben, „ein religionsgeschichtlicher Rückfall über die Jahrtausende“.

Immerhin, Hans Mayer beendete seine Buchkritik für den SPIEGEL vom 27. November 1967 mit dem Vorschlag, falls es einmal wieder einen Biographen wie den Griechen Plutarch (ca. 45 – 125) geben sollte, möge dieser doch auch eine Parallelbiographie von Max Kommerell und Walter Benjamin sich vornehmen: „Dem Rang nach waren diese beiden einander gleich.“ Auch das hat für Inge Jens in ihren beiden Vorworten, zusammen etwas mehr als 60 Druckseiten, eine wichtige Rolle gespielt. Denn natürlich kannte sie die berühmte Benjamin-Kritik zu Kommerells Buch „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“, 1928 zuerst erschienen, noch ganz im Banne Stefan Georges entstanden und auch sprachlich spürbar unter seinem Einfluss. Benjamins Kritik trug den vielsagenden Titel „Wider ein Meisterwerk“, zuerst veröffentlicht am 15. August 1930 in „Die literarische Welt“, 1925 von Willy Haas begründet. Inge Jens folgt Benjamin und dessen Aussagen sehr weitgehend, zieht die zweite große Benjamin-Kritik an Kommerell aber nicht im gleichen Maße heran. Es handelt sich um „Der eingetunkte Zauberstab“, zuerst gedruckt in der „Frankfurter Zeitung“ vom 29. März 1934, gezeichnet mit dem Pseudonym K. A. Stempflinger. Gewidmet war diese Kritik dem Jean-Paul-Buch, 1933 bei Klostermann zuerst erschienen, 1977 dort neu aufgelegt.

Inge Jens ist auch den schwierigen Themen im Leben von Kommerell nicht ausgewichen. Sie hat sich mit rund 6000 Blättern Nachlass herumgeschlagen, hat auf die Herausgabe der beiden Bände „Essays, Notizen, poetische Fragmente“ und, schon genannt, „Briefe und Aufzeichnungen 1919 – 1944“ das Verfahren angewendet, das sie schon bei der Edition des Briefwechsels zwischen Thomas Mann und Ernst Bertram anwandte, Hans Mayer wies eigens darauf hin: „... durch Abdruck von Gegendokumenten und parallelen Äußerungen der Beteiligten“. Das ergibt eine gediegene Vorlage zu Lektüre und/oder Studium mit einer kleinen Einschränkung, die ich dennoch ungern verschweigen würde, weil es mich beim Lesen sehr störte: das Druckbild scheidet in den „Briefen und Aufzeichnungen“ überhaupt nicht zwischen dem nummerierten und hinten auch sauber registrierten Brief, den „Gegendokumenten“ und Parallelstellen, die eben auch die Chronologie aufweichen. Sucht man Reihenfolge, muss man, leider, mehr als gut suchen und findet manche zitierten Briefe schließlich gar nicht, weil sie zwar im Vorwort erwähnt werden, im Buchtext selbst aber fehlen. Das finde ich ärgerlich. Das hätte der Walter-Verlag Olten und Freiburg im Breisgau besser lösen können. Die Leistung von Inge Jens am und mit dem Material schmälert das nicht.

Das heikelste der heiklen Themen in Max Kommerells Leben war natürlich sein Verhältnis zum Nationalsozialismus, zu Hitler als Person und Autor von „Mein Kampf“. Die betreffende Aussage wird unterschiedlich lang zitiert. Bei Inge Jens liest man aus einem Brief an Hedwig Kommerell: „Den ersten Band Hitler „Mein Kampf“ las ich. Borniert, bäurisch ungeschlacht, aber in den Instinkten vielfach gesund und richtig. Die Leistung nötigt zum Respekt und in unserm breiigen Zeitalter ist so eine Faust immerhin eine Wohltat. Hoffentlich bekomme ich auch den 2. Band mit dem eigentlichen Programm. Da, fürcht' ich, wird’s hapern.“ Man muss wissen, dass Kommerell der Gegenwart, auch und vor allem ihrer Literatur, kein oder fast kein Interesse entgegen brachte. Alles, was groß und wichtig war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Europa und der Welt, übersah er oder hielt er einer Erwähnung für nicht wert. Anfängliche Sympathien hielten sich aber nicht lange, zumal sich Kommerell eben auch von ausgemachten Antifaschisten wie etwa dem Romanisten Werner Krauss nicht distanzieren wollte. Sein gewissermaßen antisowjetisch gedachtes Drama „Die Gefangenen“ las die hellhörige NS-Zensur sogar als Kritik am eigenen deutschen System. Schließlich verabschiedete sich Kommerell auch noch von Hölderlin, sah ihn missbraucht.

1939 schließlich, so WIKIPEDIA, trat Kommerell der NSDAP bei. Bei Inge Jens kein Wort davon. Vielleicht wusste sie ja damals schon von der NSDAP-Mitgliedschaft ihres Mannes Walter Jens, die erst viel später öffentlich wurde und in der Deutung des gemeinsamen Sohnes Tilman Jens die rasch einsetzende Demenz des Vaters auslöste. Im biographischen Lexikon „Literatur in Nazi-Deutschland“ liest es es sich etwas anders. Demnach hat Martin Vialon, zuletzt Professor an der Universität Oldenburg, bei Forschungen in den Akten der Universität Marburg herausgefunden, dass Kommerell die Mitgliedschaft beantragte. Was etwas anderes ist. Ich kannte einen Professor, der zu DDR-Zeiten mehrfach die Mitgliedschaft in der SED beantragte, nie genommen wurde, weil die Arbeiterquote bei Neuaufnahmen zu gering war und schließlich mit dem Etikett, nie in der SED gewesen zu sein, sogar eine Nachwende-Karriere machen durfte, während andere einfach nur abgewickelt wurden. Das Lexikon schreibt: „Mit den Nationalsozialisten teilte Kommerell eine antibürgerliche und antidemokratische Einstellung, seinem Kulturidealismus musste der faschistische Populismus allerdings fremd bleiben.“ Und immer fremder werden, wäre zu ergänzen. Das Lexikon zitiert auch aus dem Gutachten der Abteilung Theater der Reichskulturkammer.

In dem es unter anderen hieß: „Dem Verfasser darf in seiner Absicht, eine Anklage gegen den Bolschewismus zu erheben, nicht getraut werden. Sein Stück richtet sich, durch eine eigenwillig schöne Sprache und wirksame Bühnenform getarnt, im Grund gegen jede Art von Macht.“ Dem Stück wie auch Max Kommerell generell hat das nach 1945 nicht geholfen. Die Fachwelt kennt ihn, wenngleich mehr als wissenschaftsgeschichtliches Phänomen ihrer Disziplin. Wenn Hans Mayer noch 1967 meinte, „die Gedanken dieses Germanisten über den inneren Aufbau von Faust II und über Goethes große Gedichtkreise (Elegien und Divan) sind bis heute bedenkenswert geblieben“, dann ehrt ihn das und ist auch fünfzig Jahre später, wie ich glaube, noch zutreffend, es ist aber eben 50 Jahre später jetzt und allein für die genannten Goethe-Werke so viel neu hinzugeschrieben worden, dass die Philologen-Akribie der Gegenwart gar nicht anders kann, als einige Regalreihen der Goetheliteratur für veraltet zu erklären. Es kann sich jeder ohne sehr viel Aufwand ein eigenes Bild machen: „Geist und Buchstabe der Dichtung“ ist keineswegs unauffindbar, auch die für ein breiteres Publikum gedachte dtv-Auswahl „Dame Dichterin und anderes Essay“ ist greifbar. Und selbst ein erzählerisches Werkchen wie „Hieronyma“ kann als Inselbuch 591 gelesen werden.

„Der Stil der Briefe, der während der Jahre mit George etwas Feierlich-Gestelztes und Pompös-Beschwörendes angenommen hatte, gewinnt ab 1930 wieder an persönlichem Charme und an Anschaulichkeit.“ Dieses Urteil von Inge Jens lässt sich an ihrer Briefausgabe überprüfen, es versteht sich, dass es zutrifft. Ob die Essays der Jahre ab 1930, wie sie schreibt, „primär als originell-künstlerische Leistungen und erst in zweiter Linie als literaturwissenschaftliche Darlegungen“ angesehen werden sollte, sei dahingestellt. Denn es gilt vor allem, wenn man davon ausgeht, dass eine literaturwissenschaftliche Leistung sich dadurch auszuzeichnen hat, dass sie vor lauter Fußnoten und Apparat unlesbar ist. Im Fall der Fälle hat sich noch immer ein wie hingeworfen wirkendes Wort eins großen Literaten über andere Literaten als substanzhaltiger und ohnehin besser formuliert erwiesen als die üblichen Interpretationen vom Fach. Max Kommerells Buch „Lessing und Aristoteles“ soll bewusst als eigentlich überflüssiger Befähigungsnachweis geschrieben sein, es auch so zu können. Folgerichtig ist es das unbekannteste seiner Werke, wie gediegen seine Aussagen zur Theorie der Tragödie darin auch sein mögen. Die Rede am Grab des am 25. Juli 1944 Verstorbenen hielt übrigens der Theologe Rudolf Bultmann (1884 – 1976).

Walter Benjamin begann 1930 seine Kritik „Wider ein Meisterwerk“ mit dem Satz: „Gäbe es einen deutschen Konservatismus, der auf sich hält, in diesem Buche müsste er seine magna charta erblicken.“ Das ist natürlich der Knalleffekt des ersten Satzes, den Benjamin selbstverständlich auch kannte. In der Geschichte hat es leider nie funktioniert, dass sich Rechte von Linken oder Linke von Rechten sagen ließen, was sie eigentlich denken müssten, glauben oder lesen, gar als ihre „magna charta“ ansehen. Es ist freilich ein hübscher intellektueller Wunschtraum, unausrottbar zudem, ein dickes Buch über Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul und Hölderlin wie eben „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“ möge zur weltlichen Bibel eines politischen Weltanschauungsgebildes werden, aus dem stets zuerst zitiert wird, auf das stets zurückgekommen wird, das in aller Munde bleibt und in jeder Tasche steckt. Und sei es in Dünndruck oder Readers-Digest-Format. Walter Benjamin wusste: „Gibt es zeitlose Bilder, so gibt es zeitlose Theorien gewiss nicht. … Das echte Bild man alt sein, aber der echte Gedanke ist neu.“ Ich schließe mit Max Kommerell über Heinrich von Kleist: „Je höher die Macht ist, gegen die sich in der entscheidenden Wertprobe die Selbstgewissheit eines Menschen behauptet, um so höher steht er als Natur.“ Das ist wie stets in solchen Fällen auch pro domo gesagt.


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