Franz Werfel: Blasphemie eines Irren

So liest es sich bei Norbert Abels: „Am Sonntag, den 26. August 1945, arbeitet er nach der Nachmittagsruhe an der geplanten Auswahl seiner liebsten Gedichte, um hie und da etwas zu korrigieren. „Mit Fäusten hält er fest den Schlussakkord“, lautet ein Vers aus dem Sonett „Der Dirigent“, dem letzten Gedicht, an dem er feilt. Die Tinte ist noch feucht, als ihn seine Frau um sechs Uhr nachmittags mit ruhig lächelndem Gesicht tot auf dem Boden seines Arbeitsraumes findet. Am 29. August wird er so, wie er es sich gewünscht hat, begraben. In der Hand hält er den Rosenkranz, den er stets bei sich trug. Um den Hals hat er eine Lourdes-Medaille. Wie F. W. im „Stern der Ungeborenen“ trägt er seinen alten, abgeschabten Frack und in der Brusttasche die große Nickelbrille.“ Bei Peter Stephan Jungk liest es sich so: „Am frühen Abend saß Werfel noch an seinem Schreibtisch, korrigierte, während Alma Besuch von Freunden empfing, jene Lyrikauswahl der ihm liebsten Gedichte aus nahezu vierzig Jahren. Er bearbeitete gerade das Poem „Der Dirigent“, entstanden im Jahre 1938, als kurz vor 18 Uhr, an diesem 26. August 1945, sein Herz zu schlagen aufhörte. Von seinem Drehsessel sank Franz Werfel auf den Boden hinab.“

Schwer zu sagen, was den in Kalifornien geborenen Österreicher Jungk auf die Idee brachte, „Der Dirigent“ aus dem Entstehungsjahr 1938 kommen zu lassen, das Gedicht gehörte schon zum Bestand von Werfels viertem Band mit Lyrik, „Der Gerichtstag“, und der erschien 1919 bei Kurt Wolff zuerst, 1923 gab es eine Nachauflage, 1974 einen Nachdruck in der Reihe der Kraus-Reprints. Die letzten drei Zeilen, DDR-Leser konnten sie in der Aufbau-Auswahl „Menschenblick“, Auswahl und Nachwort Richard Christ, 1967 kennenlernen, lauten: „Zuletzt, dass er den Beifall, dankend, rüge / Zeigt er belästigte Erlöserzüge / Und zwingt uns ihm noch Größres zuzutraun.“ Auf einen wie Werfel, der nicht einmal seinen 55. Geburtstag am 10. September 1945 mehr erlebte, wären auch diese Verse durchaus beziehbar. Übrigens: Richard Christ (30. Dezember 1931 – 15. März 2013) hat DDR-Lesern nicht nur diese Gedichte, sondern auch eine Auswahl von fünf wichtigen Dramen Werfels (1973), den Roman „Die Geschwister von Neapel“ (1971) und „Cella oder Die Überwinder“ (1970), den „Versuch eines Romans“ nahezubringen unternommen. Es wäre durchaus eine eigene Betrachtung wert, welches Werfel-Bild er vermittelte und warum er abbrach.

Stephan Peter Jungk erzählt am Ende seines Werfel-Buches (S. Fischer 1987, 1988 die dritte Auflage, 2000 Exemplare umfassend) noch die etwas seltsame Geschichte der Überführung der sterblichen Überreste des Dichters dreißig Jahre nach seiner Beerdigung auf dem Hollywood Rosedale Mortuary & Cemetary nach Wien, ich zitiere: „Der Leiter der österreichischen Gesellschaft für Literatur konnte nur im letzten Moment noch verhindern, dass die für ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof bestimmte Holzkiste aus Hollywood in den roten Plüschräumen seines Büros abgegeben wurde: er eilte zum Flughafen. In seinem Beisein öffneten die Herren der Zollabfertigung den Deckel der Kiste. Sekundenlang und zutiefst erschrocken sah der Herbeigerufene auf weißliche Knochenreste, sie waren dicht gebündelt und lagen fest in eine dicke Plastikplane verpackt.“ Die Umbettung folgte dem testamentarischen Willen von Alma Mahler, sie stand im Gegensatz zum letzten Willen Werfels selbst. Leider können sich Tote schlecht wehren gegen das, was mit ihnen veranstaltet wird. Man findet das Ehrengrab unter Nummer 39, Gruppe 32 C, auf dem Wiener Zentralfriedhof. Im Juni 2012 erwies ich ihm fotografische Referenz.

Am 20. September 1945 hielt Johann Frerking (19. August 1884 – 13. Juli 1971) in der Stadthalle Hannover eine Gedenkrede für Werfel aus doppeltem Anlass: Todestag und Geburtstag. Man muss Frerking nicht kennen, wer sich aber für Theater und Theaterkritik interessiert, kennt womöglich seine von Henning Rischbieter 1963 herausgegebene Kritikensammlung „Augenblicke des Theaters. Vier Jahrzehnte Hannoversche Bühnengeschichte“. Ich nutze sie seit Jahren bei passender Gelegenheit gern. Frerking also, sechs Jahre älter als Franz Werfel und somit ausgestattet mit eigenen Zeiterfahrungen und Erinnerungen, immerhin war er 30 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach, konnte seinen Hörern glaubhaft die Jahre vor Augen führen, da die ersten drei Bände mit Gedichten Werfels erschienen, die ihn berühmt machten. „Der Weltfreund“, „Wir sind“ und „Einander“ waren die Titel. In der von Werfel selbst initiierten Buch-Reihe „Der jüngste Tag“, die zeitweise hohe Preise in Antiquariaten erzielte, kam als Doppelband 29/30 1917 noch eine Auswahl aus allen dreien heraus, ergänzt um elf neue Gedichte. 1919 erschien dann, bereits erwähnt, „Der Gerichtstag“, den Frerking ebenfalls in Erinnerung rief und auch gleich einzuordnen versuchte.

„Wir spürten deutlich den vehementen Anbruch und Einbruch von etwas Neuem“, neben die anerkannten Zeitgrößen George, Hofmannsthal und Rilke „trat hier ein ganz neues Weltgefühl, mit dem ein junges Geschlecht jauchzend auf den Plan rückte“. Allenfalls mit Walt Whitman, mit Emile Verhaeren und ansatzweise mit Richard Dehmel sei zu vergleichen gewesen, was da in Werfels Dichtungen regelrecht einschlug. „Als wir aber dann aus dem Kriege wieder nach Hause kamen, hart durchgeschüttelt und von Grund aus gelockert für neue Erkenntnisse“, traten Werfel und der rasch modisch werdende Expressionismus aus dem Kreis der „Dichter für Dichter“ heraus und wurden vorbildlich. Frerking ließ sich hinreißen zu langer Satzperiode am Rednerpult, ehe er zu dem kam, was er als Gabelung des Wegs für Werfel beschrieb: des Wegs zum Drama und des Wegs zur Erzählung. Drei Bühnenwerke hebt der Redner heraus: „Die Troerinnen“ (nach Euripides), „Juarez und Maximilian“ und schließlich „Paulus unter den Juden“. Das Ende seiner Rede verrät, dass am 20. September 1945 noch kaum Kenntnisse über jene Werke in Deutschland angekommen waren, die Franz Werfel nach 1933 geschrieben hatte mit ihrem teilweise überwältigendem Erfolg.

Weder Frerking noch Peter Stephan Jungk, der sehr viel mehr Platz hatte und auch das alles wusste, was der Theatermann noch gar nicht wissen konnte, erwähnen eine kleine Erzählung, von der ich noch nicht einmal weiß, wann genau sie geschrieben wurde: „Blasphemie eines Irren“. Sie versteckt sich ein wenig in einer Stuttgarter Reclam-Anthologie, die mir immer sehr hilfreich war: „Prager deutsche Erzählungen“. Werfel findet sich dort nach Rudolf Fuchs (5. März 1890 – 17. Februar 1942) und vor Hans Janowitz (2. Dezember 1890 – 25. Mai 1954), beide nicht entfernt so bekannt, aber eben in den Prager Zusammenhang gehörend, alle drei ein Jahrgang, alle drei aus dem Exil nicht zurückgekehrt, sondern dort gestorben, keiner in hohem Alter. „Blasphemie eines Irren“ ist eine irre Geschichte mit einem (für mich) gravierenden Makel: ihr Titel verrät und bewertet auch zugleich schon, was der Leser erst lesen will (und soll). „Blasphemie bezeichnet das Verhöhnen oder Verfluchen bestimmter Glaubensinhalte einer Religion oder eines weltanschaulichen Bekenntnisses.“ So antwortet die hier nicht zu nennende Suchmaschine auf freundliche Anfrage. Stimmt das, dann ist das, was Franz Werfel seinen „Irren“ vortragen lässt, gar keine Blasphemie.

Denn weder verhöhnt der Bewohner einer Zwei-Zimmerwohnung in der Sidoniengasse 68 einen Gott, noch verflucht er ihn gar. Das geht schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil er Gott ist oder aber, die zweite Verräterei des dummen Titels, es zu sein glaubt. Werfel begibt sich nicht auf die flache Ebene des Irren-Humors, auch wenn sein Gott gegen Ende auf einen Nachbarn hinweist, der einen hohen Orden trägt, von dem wir natürlich nicht erfahren, ob er ihn wirklich trägt oder sich das auch nur einbildet. Kein Napoleon kommandiert imaginäre Heere, kein Einstein schreibt in unleserlicher Schrift seine Weltformeln auf die Tapete seines Bewahrraumes. Bei Werfel empfängt einer, der ohne alle Titel einfach Herr Gott genannt werden möchte, eine Delegation schwarz gekleideter Herren in seinem Schlafzimmer, sie finden längst nicht alle Platz oder gar Stühle, deshalb sollen sie sich möglichst aufs Bett setzen. Ins Nebenzimmer könnte man nicht, verrät er, dort sei nicht aufgeräumt, vielleicht stünde dort sogar noch das Geschirr mit den Resten seines täglichen Kalbskoteletts, das ihm die Wirtin immer bringe. Und außerdem finde sich dort seine Sammlung, eine sehr empfindliche Sammlung: Gott ist, verrät Gott, leidenschaftlicher Sammler.

Das klingt heftig nach groteskem Humor, dennoch möchte man das Spurenelement nicht verleugnen, das im Bedarfsfalle dann doch Blasphemie genannt würde. Wobei sofort die Frage sich stellt: wäre ein blasphemischer Irrer denn des Vergehens überhaupt anklagbar? Im Mittelalter sollen Tiere auf dem Scheiterhaufen gelandet sein, weil sie des Teufels waren und ihre Geständnisse nicht unterschreiben konnten. Dieser Gott aus der Sidoniengasse hat aber, wenn der Kalauer erlaubt ist, verteufelt gute und ausgedehnte Kenntnisse seines eigenen Daseins, der Schriften, die als heilig gelten, er verfügt über eine messerscharfe Logik und bezeichnet sich am Ende sogar als Sünder. Gott ein Sünder? Heißt Gott eine Frage stellen, Gott infrage zu stellen? Was, wenn Gott, sich seine Fragen selbst stellt und sie dann auch gleich noch vor Zuhörern beantwortet? Genau das aber führt Franz Werfel, der katholische Jude, wenn man ihn so nennen darf, vor und er macht es bestechend. Alles ist ein einziger Monolog, niemand kommt außer Herrn Gott zu Wort auf diesen acht Seiten. Vielleicht ist der Irre gar nicht irre, sondern einzig Normaler unter Irren? Herr Gott kennt gut diese Gedankengänge: „Die Welt ein Irrenhaus zu nennen, ist eine alte, schon recht triviale Sentenz.“

Acht Seiten sind schnell gelesen, man könnte sich also weitere Zitate sparen. Es sei, man ist wie ich der eitlen Meinung, bisweilen müssten auch verständige Leser mit Hinweisen versorgt werden, denn nicht jeder sieht alles. Übergehen könnte man sicher: „Ich für meinen Teil kann nichts schwerer ertragen als den fehlenden Glauben an mich.“ Schöner ist schon, wenn auch vielleicht nur für Leser im Ilm-Kreis, die die vergangenen 30 Jahre bewusst miterlebten: „Je weniger wir von unserem Dasein überzeugt sind, um so mehr wollen wir unser Dasein durch eine sonore Stimme beweisen.“ Ein Mensch, der 2020 77 Jahre alt wird, geistert durch meine beiden Kolumnen-Bände „Aus Ecken und Kanten ein Kreis“ und „Ein Kreis mit Ecken und Kanten“ und hätte wohl Humor genug, sich angesprochen zu fühlen. Und schon wird es gewichtig: „Ich habe nämlich mein Offenbarungswerk, die zehn Gebote, mit dem Wort ich begonnen. In der Tat, ein böses Beispiel, und ich kann viele Nächte darum nicht schlafen. Ich zu sagen ist immer ein Versprechen, das man nicht halten kann. Wer sich verspricht, hat sich schon versprochen.“ Dies kenne ich gut: „Wenn man sehr lange einsam war, so hört man seine Stimme gerne, das ist verzeihlich.“ Spricht ein Irrer so?

Herr Gott aus der Sidoniengasse weiß auch, warum es mit der Erlösung schief gegangen ist: „Ach, ich dachte eine ganz geringe Spanne lang, eine ganz kleine Weile lang – an die Tränen, die meinem Tode fließen werden, an die Verehrung, an den Beifall … und als mir diese Empfindung bewusst wurde, war es mit der Erlösung vorbei“. Ich übergehe die bemerkenswerte Tatsache, dass dieser Gott eine schlechte Welt daran erkennt, dass Kinder in der Fabrik arbeiten müssen, greife stattdessen seinen Hass auf die Gerechten heraus, von denen wir bibelfest immerhin wissen, dass Gott ein bekehrter Sünder lieber sei als 99 Gerechte. Herr Gott hasst Gerechte: „Aber wahrlich, ich sage euch, die Gerechten tun gute Werke und walten pflichttreu ihres Amtes täglich; doch am Abend gehen sie hin und bepissen den Abortsitz, nur um des Genusses ihrer Bosheit willen.“ Das der Gott eines Dichters sich mit Dichtern auskennt, sollte wirklich niemanden überraschen: „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass die Dichter dann gewöhnlich in Exegi monumentum dichten, wenn sie eine abfällige Rezension über sich gelesen haben, und ihr im Grund Recht geben.“ Werfels Gott ist nicht nur ein Sammler, sondern zu allem auch noch ein Kenner des römischen Horaz.

Dem ist das unvollständige Zitat von „Exegi monumentum aere perennis“ entnommen, das gern übersetzt wird mit: Ich habe mir ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz. Eine abweichend-korrigierende Stimme findet sich natürlich sofort im weltweiten Netz: richtiger sei die Übersetzung ohne das mich. Was freilich einen gewaltigen Unterschied machen würde. Und nun sei, acht Seiten sind eben wirklich nur acht Seiten, auch noch das Geheimnis von Herrn Gottes Sammlung gelüftet: Es soll sich um eine Sammlung aller Musikinstrumente handeln, die es gegeben hat. Damit ist augenblicklich klar: hier spricht dann doch ein Irrer, denn die würden nie und nimmer in eine Zwei-Zimmer-Wohnung passen. Im Rahmen der zweiwertigen menschlichen Logik freilich nur. „Und ich kann sagen, meine Sammlung ist bis auf einige fehlende Stücke vollkommen.“ Ein wirklicher Sammler im Besitz der wirklichen Sammlung hätte keineswegs „vollkommen“ gesagt, sondern „vollständig“. Sammeln geht immer auf Vollständigkeit, Vollkommenheit wäre ein viel zu brutales Ausschluss-Kriterium und Franz Werfel hätte uns abermals an der Nase herumgeführt. Lassen wir es dabei bewenden an seinem 75. Todestag, liege er ruhig in seinem Ehrengrab weit von Prag.


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