Arthur Eloesser liest Hermann Hesse

Ein Versuch, Arthur Eloesser zum Hesse-Experten voll überraschender Einsichten zu stempeln, wäre zum Scheitern verurteilt. Eloesser war kein Hesse-Experte, wollte es vermutlich auch gar nicht sein. Es lässt sich nicht einmal glaubhaft behaupten, er habe sonderlich viel von Hesse gelesen. Zu „Peter Camenzind“ hat er sich geäußert, zu „Unterm Rad“ sogar ungewöhnlich ausführlich, später tauchen nur noch „Demian“ und „Der Steppenwolf“ als Titel bei ihm auf. Substanz, von der er zehrt noch im zweiten Band seiner Literaturgeschichte, bleiben vor allem die beiden frühen Romane, wobei er seine frühe Unkenntnis, dass es vor „Peter Camenzind“ schon Hesse-Bücher gab, bis 1931 nicht korrigierte. Hesses Lyrik findet bei Eloesser überhaupt keinerlei Erwähnung, somit bleiben folgerichtig „Romantische Lieder“ von 1898 außerhalb des Blickfeldes wie auch alle späteren Gedicht-Publikationen. Ähnlich ergeht es „Eine Stunde hinter Mitternacht“ von 1899, die immerhin die Aufmerksamkeit von Rainer Maria Rilke erregte. Dessen Äußerung hat allerdings auch Volker Michels, der ewige Hesse-Herausgeber und Anthologien-Kompilator, nicht an den Beginn seiner Sammlung „Über Hermann Hesse. Band 1“ gestellt. Den Ehrenplatz reservierte Michels Walther Rathenau und seiner Wortmeldung zu „Peter Camenzind“, Arthur Eloesser kam auf Platz 2 ein.

Zweimal finden sich Eloesser und Hesse als Autoren gemeinsam zwischen zwei Buchdeckeln. Beide Male liefert Eloesser die gewichtigeren Beiträge. Es handelt sich um die Almanache des S. Fischer Verlages, ausgegeben zum 25. und zum 40. Jubiläum des Hauses in den Jahren 1911 und 1926. Eloesser erwähnt in seinen Beiträgen, die jeweils den Band eröffnen, je einmal den Namen Hesse. Der ist 1911 mit dem Gedicht „Herbstbeginn“, 15 Jahre später mit „Abend in Cremona“ aus dem Jahr 1913 vertreten (erste Buch-Veröffentlichung im 1926 erschienenen „Bilderbuch“, das 1958 neu und verändert herausgegeben wurde, zwei daraus Texte entfernt, acht hinzugefügt, davon vier Erst-Veröffentlichungen). 1911 lesen wir: „Dann haben sich die Schwaben und Schweizer aufgemacht vom Neckar und Oberrhein, die Strauß, Hesse, Schaffner, ehrbare und gemütvolle, kluge und zierliche Jungmeister aus der guten Schule Gottfried Kellers. Sie behandelten uns nicht immer gut, weil wir so schnell reden und immer etwas anderes wollen. Weil ihr Land bestimmt schon Wein und Obst gegeben hat, als bei uns noch Heringe und Walfische wohnten. Sie sagten uns, dass wir vieles falsch und willkürlich gemacht hätten, dass es mit der kalten Objektivität der misstrauischen Beobachtung nichts gewesen sei und ebensowenig mit der eitlen Selbstverwöhnung, die sich in das unnahbare Kunstreich abschließt.“ Diese Ironie wird Hesse gefallen haben.

Fünfzehn Jahre später liest die ganz ähnliche Aussage dann so: „Unser Verlag von ursprünglich norddeutschem und nordischem Ursprung zeigte sich elastisch genug, um die Verkünder eines neuen romantischen Lebensgefühls, um die südlicheren Naturen der Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann, Altenberg an sich zu ziehen, und er war nie so international, um nicht so verzweifelt deutschen Gemütern wie den Hermann Hesse und Emil Strauß aus der schwäbischen Garten- und Weinlandschaft noch ein Heim bieten zu können.“ Ob diese weniger ironische Aussage Hesse auch noch gefallen hat, darf bezweifelt werden, sein erfolgreicher Versuch, erneut die schweizerische Staatsbürgerschaft zu erlangen, zeugt gegen ein „verzweifelt deutsches Gemüt“, es sei, man bemühe tiefere Deutungen, für die es auch gute Argumente gibt. Es könnte Hesse aber noch eher gestört haben, seinen Namen fortgesetzt neben dem von Emil Strauß zu sehen, mit dem ihn in seinen knapp acht Bodensee-Jahren viel verband, nicht zuletzt auch das innere Band von „Freund Hein“ zu „Unterm Rad“, das folgerichtig auch Eloesser thematisiert. Später aber erging es Hesse mit Strauß nicht unähnlich wie mit Ludwig Finckh. Seine Beziehungen zu beiden sind ein durchaus ergiebiges Thema, das hier aus nahe liegenden Gründen dennoch keine Rolle spielen soll.

Am 24. April 1904, es war ein Samstag, konnten die Leser der Vossischen Zeitung in der Morgenausgabe dies lesen: „Höchst erfreulich dagegen wurde uns die Bekanntschaft mit einem neu aufgetauchten Schriftsteller Hermann Hesse, der auch in einer Art von autobiographischen Roman „Peter Camenzind“ (Berlin S. Fischer Verlag) die Geschichte einer Jugend oder seiner Jugend erzählt hat. Das Buch wäre wahrscheinlich noch besser geworden, wenn er es später geschrieben hätte, aber auch so trotz allem Sprunghaften und Fragmentarischen ist es ein ganz famoser Band mit seiner eigentümlichen, dem oberdeutschen Stamme häufig eigenen Mischung von Schwärmerei und Trockenheit, von Verzagtheit und Unverschämtheit, von Durchtriebenheit und Naivität. Auch Peter Camenzind ist einer von den vielen Grünen Heinrichen, die jetzt alljährlich ausschwärmen, aber er macht seiner Schule Ehre, und es schadet seinem Schöpfer auch nicht, dass er die Heimat seines Helden, das Schweizer Dörfchen Nimikon, ziemlich nahe an Kellers Seldwyla herangebaut hat, da es sich in der Architektur nach seinem berühmten Vorbilde richtet, ohne dass er die Bausteine aus diesem unsterblichen Städtchen der Narrheit stiehlt.“ Das stand unter der Überschrift „Einige neue Romane“, Eloesser behandelte vorher erst ausführlich „Das schlafende Heer“ von Clara Viebig.

Noch gegen Ende des Jahres 1904 bestätigte Arthur Eloesser sein eigenes Urteil, nun mit dem Überblick über fast ein Jahr an Neuerscheinungen: „Das literarische Ereignis dieses Jahres war im Gebiet der erzählenden Literatur Hermann Hesses geistreicher Bekenntnisroman „Peter Camenzind“, den ich in meinem letzten Bericht über neue Bücher den Lesern hier bereits vorgestellt habe.“ (Vossische Zeitung, 13. November 1904). Neben den Lesern der zweimal täglich erscheinenden Tageszeitung aus Berlin hatte inzwischen auch die deutlich kleine Leserschaft der Neuen Rundschau die Meinung des Kritikers zu Hesses erstem Roman zur Kenntnis nehmen können. Eloesser griff für seine Arbeit in der Juni-Ausgabe auf seine April-Publikation zurück, übernahm sehr viele Formulierungen wörtlich, korrigierte da und dort und setzte schließlich auch einige Akzente anders oder vielleicht aus seiner Sicht auch nur deutlicher. Zunächst aber zurück zur Vossischen Zeitung. Der Kritiker macht seine Leser mit Inhalt und Gliederung des schmalen Romans vertraut und setzt dabei immer auch ausdrücklich kritische Akzente: „Mit den Männern wird seine Bauernschlauheit noch fertig, aber was die Frauen betrifft, da kommt er über das dumme Stadium der Anbetung nicht hinaus“, was den Peter Camenzind betrifft wie auch Hesse selbst.

„Dem reizend erzählten Buch der Kindheit folgt ein ebenbürtiges Buch der Freundschaft, ein etwas blasseres Buch der Liebe, ein Buch des Schenkens, in dem der Verfasser noch die Tugend des Weinens zu loben wagt, und schließlich ein Buch der Weisheit, die allerdings, in dem sie die Runzeln des Alters etwas zu früh annimmt, mehr nach Altklugheit aussieht. … Hermann Hesse ist geschmackvoll genug, um sich des Pathos zu enthalten, mit dem sonst in modernen Romanen die ersten vom Baum der Erkenntnis abgerissenen Früchte gepriesen werden.“ Dass Eloesser hier einen prinzipiellen Einwand formuliert gegen eine bestimmte, sehr verbreitete Art von Romanen, erhellt erst aus seiner Darstellung in der zweibändigen Literaturgeschichte endgültig. Im April 1904 war die Basis aber gesichert. „Nach dieser Züricher Episode beginnt das Buch zu springen und mit langen Gedankenstrichen zu arbeiten. So wird ein Aufenthalt in Paris als Höhepunkt der journalistischen Karriere mit einer einzigen Seite abgetan, als ob der Beruf nicht auch den Menschen formte.“ Das findet sich zwei Monate später in der Neuen Rundschau, als Aussage geweitet, nicht nur beschränkt auf die Pariser Episode, sondern auf alles, was den journalistischen
Lebensabschnitt des Peter Camenzind betrifft, bezogen. Wir vernehmen den Journalisten Eloesser.

Zum Vergleich die spätere Formulierung: „Nach dieser Züricher Episode beginnt das Buch zu springen und mit langen Gedankenstrichen zu arbeiten. So wird der ganze Journalismus Peters mit wenigen Seiten abgetan, als ob der Beruf gar keine umformende Kraft auch über den inneren Menschen hätte.“ Im April ging es so weiter: „Wenn die Erzählung aus dem Fluss kommt und mit schnellen Übergängen nur noch Blätter aus der Erinnerung zu sammeln scheint, so stammt diese Verlegenheit nicht aus einem technischen Mangel, sondern sie findet einen tieferen Grund in der Differenz, die sich durch die Ichform des Romans zwischen dem Erzähler und seinem Helden ergibt. Hermann Hesse gibt seinem Peter Camenzind die eigenen inneren Erlebnisse, aber er hat dieses Geschöpf seiner Phantasie nicht genügend von sich losgelöst, um es rein als Objekt behandeln zu können“. Da Hesse selbst seine frühen Bücher später distanzierter sah, darf, ohne zu viel Spekulation in Anschlag zu bringen, vermutet werden, dass er seine frühen Kritiker ernster nahm als Autoren es gemeinhin gern behaupten. „Wie fein auch die letzten Kapitel überlegt sind, wie überzeugend die Phasen der inneren Entwicklung sich darstellen, so fehlt es doch an einer glaubhaften Parallele des äußeren Geschehens“. Der Kritiker pocht also auf Glaubhaftigkeit!

Und er mag nicht, wenn statt des Lebens die Literatur, statt einer inneren Logik die konstruktive Absicht erkennbar und durchschaubar wird: „Peter Camenzind wird etwas literarisch, indem er in die Schule des Franz von Assisi geht … Was der Heilige ihm nicht geben kann, das empfängt er schließlich von einem armen Buckligen, die lebende Lehre der Demut … Mehr hat Peter nicht zu lernen, und mit dieser letzten Erkenntnis, die ihm das mit größter Zartheit geschilderte Freundschaftsverhältnis mit dem Ärmsten der Armen gebracht hat, kehrt er wieder in Nimikon ein … Dieser Schluss, der zum Anfang zurückkehrt, ist reizend gemacht, aber doch wohl kaum mehr als eine feine Konstruktion“. Das ist ein Vorwurf, den Hesse wie auch manch anderer Autor zu tragen hat. Es darf vermutet werden, dass ein Kritiker, der hauptsächlich als Theaterkritiker agiert, eher und schärfer hinschaut, wenn es um Bauprinzipien, um Dramaturgie auch eines Romans geht. Wobei man kein gewiefter Kenner sein muss zu wissen, dass Sichtbarkeit wie Spürbarkeit von Konstruktion fast so alt ist wie Literatur überhaupt. Es reicht, der Rolle des Zufalls zu gedenken, der Rolle des „deus ex machina“ seit der griechisch-römischen Antike. „Jetzt hat er nur noch die Pflicht, etwas älter zu werden, und wenn ihm das gelingt, werden wir mit seinem Talent als einem Besitz rechnen dürfen.“

Die Leser der Neuen Rundschau, die Arthur Eloesser an den Vorabdruck in drei Heften des vorangegangenen Jahres 1903 erinnern konnte (von September bis November 1903 erschien eine um etwa ein Fünftel gekürzte Fassung dort), lasen das im Juni so: „Jetzt hat er nur noch die Pflicht, etwas älter zu werden, und wenn es ihm in dem Maße gelingt, dass er einer schon allzu fertigen Behutsamkeit und Reife nicht mehr vorgreift, bis sie so mit den Jahren ganz ungerufen kommen, werden wir von seinem Talent noch stärkere und zwingendere Töne erwarten dürfen.“ Die Buchausgabe erschien am 15. Februar 1904 und zwar mit der Widmung „Meinem Freund Ludwig Finckh“, die 1942 durch „Fritz und Alice Leuthold gewidmet“ ersetzt wurde, ich entnehme diese Informationen Martin Pfeifers „Hesse-Kommentar zu sämtlichen Werken“ (suhrkamp taschenbuch st 1740). Ein Fazit zum Buch des Jahres lautet für die Leser der Neuen Rundschau: „Hermann Hesse hat den Peter Camenzind von den eigenen inneren Erlebnissen genährt, aber da es nicht lange her ist, dass er selbst noch Peter war, so hat er dieses Geschöpf seiner Phantasie noch nicht genügend von sich abgelöst, um es rein als Objekt behandeln zu können.“ 1904 waren in dieser Richtung tatsächlich noch Hoffnungen zu hegen, doch Hesse blieb beim eigenen inneren Erleben.

In zeitlicher Folge schließt sich Eloessers Beitrag „Neue Romane“ an, zu finden in Heft 12 von 1905, wiederum Neue Rundschau. Hesses „Unterm Rad“ ist dort beinahe versteckt zwischen Betrachtungen zu Georg Freiherr von Ompteda, Peter Baum, Paul Leppin, Erich Lilienthal und Ludwig Thoma, der zweite Roman steht erst an vierter, an vorletzter Stelle. Was heute noch mehr auffällt, als allenfalls Ludwig Thoma als halbwegs bekannt vorausgesetzt werden darf, von Peter Baum oder Erich Lilienthal nicht zu reden: sie sind Objekte des Nachschlagens. Vielleicht ist die Deutung nicht völlig abwegig, die die spätere, sehr viel ausführlichere Darstellung zu „Unterm Rad“, die Eloesser in der Vossischen Zeitung drucken ließ (Nummer 128, 17. März 1906), als eine Art Wiedergutmachung deutet. „Unterm Rad“ hätte ebenfalls einen Vorabdruck in der Neuen Rundschau erleben sollen, doch stellte Verleger S. Fischer das erst für 1905 in Aussicht. So wurde daraus ein Fortsetzungsroman für die Neue Zürcher Zeitung, sie druckte vom 5. April bis 17. Mai 1904 insgesamt 35 Folgen. Im Oktober 1905 folgte die Buch-Fassung bei S. Fischer mit der Jahresangabe 1906. 1909 führte „Unterm Rad“ dann die zweite Jahresreihe von „S. Fischers Bibliothek der zeitgenössischen Romane“ an und wird bis heute immer wieder neu aufgelegt.

Den Bezog zu Emil Strauß stellt Eloesser sofort her: „Hermann Hesse plaudert sogar auf einigen Blättern, mit denen er erstens als Sohn des alten poetischen Schwabenwinkels die superklugen Preußen von heute und gestern etwas kitzeln, mit denen er zweitens freimütig zeigen will, dass sich das alte poetische Schwaben um die von oben vorgeschriebene Disziplin des Naturalismus oder der unpersönlichen Objektivität nicht die geringsten Sorgen macht. Gleich seinem Landsmann Emil Strauß erzählt er von einer zarten Jugend, die an der Schule, also an der ehrgeizigen Dummheit der Eltern und dem dummen Ehrgeiz der Lehrer zugrunde geht, aber er macht es beispielsmäßiger, beweisender als „Freund Hein“, nämlich mit Prämissen und Konklusion. Er macht es mit sehr viel Geschmack, mit seinen farbigen Bildchen aus einem Kinderleben, dem man allmählich alles nimmt, was eben zum Leben gehört, aber er macht es immerhin.“ Und erinnert an „Peter Camenzind“: „Als er zuerst auftrat, fand ich ihn etwas mager, mehr Geist als Fleisch, und er hat auch jetzt noch nicht den richtigen epischen Bauch bekommen, die Umfänglichkeit, die sich auch vom Überflüssigen nährt. Diese Schwaben sind sehr gesund aber hauptsächlich aus Vorsicht, die sich keiner Erkältung oder Ansteckung aussetzen möchte, sie sind auch sehr poetisch, aber sie bleiben es unter dem Schutze der stillen Winkel. Darüber hinaus werden sie leicht didaktisch.“

Zum epischen Bauch wird es Hesse nie bringen, das Schwäbische nie verlieren, das Pietistische von dorther wird ihn sogar belasten. Und doch ist der Kritiker aus Berlin mit seiner Beschreibung des Romans, der später auch Erzählung genannt wird, sehr nah an dessen Substanz. Und wird darüber auch ein wenig ungeduldig: „Man muss ihre Andacht zum Kleinen rühmen, aber etwas Andacht zum Großen brächte sehr erwünschte Abwechslung. … Es ist ja richtig, dass man in der Jugend am tiefsten erlebt, aber schließlich wird man doch Mann, und dann pflegt doch noch einiges Erhebliches nachzukommen.“ Das bliebe festzuhalten, bis Eloesser im zweiten Band seiner Literaturgeschichte aus größerer Übersicht und erweiterter Werkkenntnis auf eben diese Gedanken noch einmal zurückkommt. Vorher aber druckt die Vossische Zeitung seinen zweiten Anlauf zu „Unterm Rad“. Es ist nach jetzigem Kenntnisstand die einzige Arbeit von Eloesser, die sich ausschließlich mit Hesse beschäftigt und noch dazu vergleichsweise umfangreich. Die Einordnung ins thematische und literarische Umfeld erhält jetzt deutlich mehr Raum. „Auf einer Seite seines neuen Romans, die ein berechtigter Schwabenstolz diktiert hat, führt Hermann Hesse einen freundlichen Zank mit den Berlinern“, was der Kritiker in Berlin mild grollend registriert.

„Damit tut er den Berlinern gewaltiges Unrecht, die doch seinem liebenswürdigen „Peter Camenzind“ ungeachtet einiger körperlichen Gebrechen oder vielmehr ungeachtet eines Mangels an Körperlichkeit so vorurteilslos auf die Beine geholfen haben, dass er nun als flinker Eroberer mit seinem schnell gewordenen Ruf durch das deutsche Land rennt.“ Auch Walther Rathenaus Kritik war in Berlin erschienen wie eben die Eloessers. Und dennoch zeigt ein Blick in die Kritiken der Zeitgenossen, dass deutlich mehr aus Österreich und der Schweiz kam als aus Berlin, am wenigsten auffälligerweise aus der engeren Heimat Hesses, eben aus Schwaben. Sollte sich Arthur Eloesser gar persönlich ein wenig angegriffen gefühlt haben? „Gerade das Schwäbische an ihm hatte uns gewonnen, die feine oberdeutsche Mischung von Trockenheit und Schwärmerei, von Verschämtheit und Unverschämtheit, von Naivetät und Durchtriebenheit. Und was ihm fehlte, nämlich die Ruhe des Erzählers, die epische Festigkeit und Rundheit, das war der subjektiven Eigenart, dem Bekenntnisdrang dieses liebenswürdigen Erstlingsbüchleins gern nachgesehen worden.“ Es war, wie Hesse-Kenner natürlich wissen, das fünfte Büchlein, „Franz von Assisi“ und „Boccaccio“ folgten als sechstes und siebentes, „Unterm Rad“ schließlich als achtes, eine sehr dichte Folge.

„Hesse ist also polemischer oder, wenn man so will, tendenziöser als Strauß, und er hat sich durch keine Bedenken künstlerischer Objektivität zurückhalten lassen, die Beweisführung der Tatsachen durch mehrere Seiten einer persönlichen und direkten Anklage der lebensgefährlichen Einrichtung der Schule zu unterbrechen. Sein Roman enthält ungefähr eine Anleitung für Eltern, Vormünder, Lehrer, wie man einen gesunden begabten jungen Menschen am zweckmäßigsten zu Grund richtet, welche Wurzeln man abzuschneiden hat, damit das junge Stämmchen am schnellsten verdorrt und stirbt.“ Der Kritiker kennt natürlich andere Klosterschüler, namentlich die berühmtesten und hat damit seine Sorgen: „Die scharfe Gehässigkeit, mit der Hesse den Ungeist der alten Klosterschule richtet, wird durch nichts gemildert, nicht durch die alte Schönheit ihres berühmten Refektoriums, nicht durch den schützenden Waldfrieden ringsumher“. Das findet sich eher in Kleintexten Hesses, die der Kritiker offenbar nicht kennt wie eben die Namen wie David Friedrich Strauß, Hölderlin, Mörike, Schelling und Hegel, die irgendwie durchkamen, ohne dauerhaften Schaden an Leib und Seele zu nehmen. Seinen Verdruss darüber hat Eloesser mit sich getragen, noch im August 1907, als er in zwei Fortsetzungen über „Schwäbisches“ schrieb, kam er unversehens darauf zurück.

„Noch jüngst hat ein schwäbischer Dichter Hermann Hesse eine poetische Anklageschrift gegen das schönste Kloster Deutschlands verfasst, in dem die Jungen nach alten vorzüglich bewährten Methoden seelisch und zuweilen auch leiblich umgebracht werden.“ (Vossische Zeitung, 27. August 1907) Im März 1906 aber benannte er seine Bedenken ausführlich: „Wenn Hesse diese Liebe nicht hätte, würde sein unversehrter Hass gegen die Schule recht kleinlich und unmännlich scheinen … Uns alle haben ja die Schulbänke einmal hart gedrückt, aber wenn man so einigermaßen Mann geworden ist, beginnt man doch zu begreifen, dass es keine Institution ohne Regel und Zwang geben kann, … Unsere ganze Literatur, auch die dramatische, erfüllt neuerdings der Widerhall dieser Miniaturtragik der Schule; sie beweist im allgemeinen nur, dass unsere Schriftsteller selten imstande sind, über die Kindheit hinaus seelisch fruchtbare Erlebnisse aus sich zu fördern“. Der Kritiker hat eine ganze Richtung in Epik und Dramatik im Visier mit seiner Polemik, Hesse verwandelt sich in dieser Perspektive in ein Beispiel, der Roman selbst wird mehr Anlass als eigentlicher Gegenstand. Und der Kritiker stellt sich wie selbstverständlich eher in preußische als in schwäbisch-alemannische Zusammenhänge. Was niemanden verwundern sollte.

Eloesser verteidigt Hesse gegen namentlich nicht genannte Kritiker, die mehr Entwicklung von ihm erwartet hatten nach dem „Peter Camenzind“ und kommt, natürlich ohne es ahnen zu können, auf eine Fähigkeit zu sprechen, die nicht nur im Medium Wort und Sprache das Werk charakterisiert: „Mit den leichten Tupfen feiner, weicher Pastelltechnik setzt Hesse eine Waldstimmung hin“. Hesse war immer auch Zeichner, Maler, was ihm in schlechten Zeiten sogar seinen Unterhalt sicherte. Vorerst aber meint Eloesser es für die Beschreibungen im Roman: „Man muss mit Hesse angeln gehen an einem warmen Sommermittag … Oder man muss sich von ihm zur Apfelmost laden lassen … Solche Bilder sind recht eigentlich seine Sache, der eben selbst geangelt und Äpfel gepresst hat … Hesse sieht nicht nur namenlose Farbflecke in der Natur, er weiß auch alles zu benennen, was da ineinander wächst und webt“. Das erkennt der Großstädter vielleicht mit größerer Bewunderung als ein Leser oder Kritiker, der selbst dem Land und seinem Leben nahe, mindestens näher steht. Das Fehlende ist ihm „die Umfänglichkeit des fruchtbaren Fabulierens, die Dichtheit der Visionen, die Notwendigkeit des Überflusses“. Der „epische Bauch“ eben, siehe schon oben.

„Schon in seinem „Peter Camenzind“ habe ich mehr Plauderei als Darstellung, mehr Geist als Fleisch, mehr eine flink zugreifende als bedächtig ausformende Hand gefunden … es fehlt doch noch an der geduldigen Treue des Arbeiters gegen sein Werk, … Freilich, Zyklopenbauten wird dieser schlanke, graziöse Poet nicht aufrichten, und es soll ihm auch von Berlin keine Architektur empfohlen werden … Aber vielleicht steigt er später einmal auf einen Berg, um die Welt weiter um sich zu schauen, die er in seinem Erstlingswerk doch nur mit junger Altklugheit vorweggenommen hat. Von Schule und Kindheit haben wir nun genug gehört“. Das ist eine mehr als deutliche Aufforderung an Hesse, seinen Horizont zu weiten, doch wissen wir, dass selbst Italien-Reisen, der Weg nach Indien, der nach Indonesien führte, letztlich immer zu Reisen nach innen wurden. Für Zyklopenarbeiten war er tatsächlich nicht geschaffen, das war seinem Berliner Kritiker sehr klar. „Es ist sehr schön Schwabe zu sein, und Heimatkunst ein wohlklingendes Wort, angenehm beruhigend aber nicht erschöpfend in einer Zeit, da es der größeren deutschen Heimat und unserem alten Erdteil in seinen Grenzen zu enge wird. Und so wäre unserer wieder so beschaulichen, im Kleinen und Engen bildernden Literatur etwas wie eine Nachfolge Nietzsches zu wünschen, etwas wie ein poetischer Imperialismus über allen diesen Beschaulichkeiten und Eingeschränktheiten.“

Dem Wunsch, sich an Nietzsche zu halten, ist Hesse schließlich tatsächlich gefolgt, wenngleich in gänzlich anderer Art, als Eloesser es vermutlich meinte und wünschte, dafür steht „Zarathustras Wiederkehr“ von 1919 mit dem Untertitel „Ein Wort an die deutsche Jugend. Von einem Deutschen“. Als 1931 der zweite Band der Literaturgeschichte bei Paul Cassirer in Berlin erschien, hat gleich die erste Erwähnung des Namens Hesse wieder die speziellen Einwände gegen „Unterm Rad“ parat, es geht im Marie von Ebner-Eschenbach: „Ihr „Vorzugsschüler“ ist an Wahrheit, Gerechtigkeit, vor allem an Enthaltsamkeit gegen die Träne, von keiner der vielen Kindertragödien übertroffen worden, die dann um 1900, unter der Führung von Emil Strauß und Hermann Hesse, den Seelendruck der Schule oder den despotischen Ehrgeiz der Eltern verwünscht haben.“ Ein äußerst kurioser Fehler, der weder dem Verlag und seinem Korrektorat noch dem Autor auffiel, sei nicht verschwiegen: „Neben Straußens Freund Hein setzte er, der noch Tübinger Stiftler gewesen war, seine Kindertragödie „Unterm Rad“, die noch in vielen Erzählungen als das Unüberwindliche auftauchen wird. Dieser Hans Liebenrath wird durch Lehrer und Eltern umgebracht.“ Er heißt natürlich Hans Giebenrath; es ist nur ein Buchstabe im Alphabet und im Bleisatz der Druckerei.

„Aber Hesse, der selbst aus beiden Gefängnissen rechtzeitig geflüchtet war, hat sich in zwei junge Menschen gespalten, in einen des Leidens und Unterliegens, in einen der frühmännlichen Entschlusskraft und Überlegenheit, und die beide homoerotisch aufeinander angewiesen sind. Dieses Problem erhält sich in seinen Dichtungen bis zu dem späteren Bekenntnis des „Demian“, der sich wieder an einem Sinclair spiegelt.“ Arthur Eloesser bringt nun auch sein Wissen über Werke Hesses aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein, bleibt aber in der Hauptsache bei den Titeln, mit denen er sich ein Vierteljahrhundert früher intensiv befasste. „Es ist ein langer Befreiungsakt, eine fortgesetzte Selbstanalyse, Traumerneuerung und Traumdeuterei, Ausgrabung von Hemmungen, Auslegung von Verdrängungen, Widerstand gegen das Vaterprinzip und melancholische Suche nach der vom Leben nicht gewährten Mutterzärtlichkeit. Im „Demian“ treten auch alle möglichen Sektierer auf, Tolstoianer, Vegetarier, Buddhisten; die zivilisationsmüde Welt wittert Tod und Untergang und will sich erneuern. Das ist auch das Thema des „Steppenwolf“, der alle durch die Zivilisation eingesperrten Urinstinkte bedeutet. Was ist das Böse? Mit diesem Unbehagen an der Zivilisation findet man Hesse zwischen Freuds Analyse und Nietzsches Genealogie der Moral.“

1931 fehlt dem Literaturhistoriker immer noch, was dem Kritiker schon ein Vierteljahrhundert früher fehlte: „Man hat Hesse bedeutend gefunden, weil er sich immer mit den letzten Problemen beschäftigt, weil er nie weniger tief als bis zu den Müttern hinuntersteigt; das Resultat war jedenfalls, dass er mit seiner lyrisch sentimentalischen Philosophie oder Theosophie, mit seinem wiederholten Aufheben und Umwenden der kleinsten Kindheitseindrücke, des Pubertätserlebnisses, sich von einer epischen Selbstdarstellung der Dinge entfernt hat.“ Die epische Selbstdarstellung der Dinge, darein hatte sich Arthur Eloesser zu finden, war und blieb nicht die Sache des Erzählers Hermann Hesse. „... und wenn sein Demian von dem inneren Steppenwolf zur Betäubung in eine Schenke geschickt wird, so hat sie vorher kaum dagestanden. Seine empfindsame Prosa schwärmt und träumt vielmehr oder spaltet analytisch, als dass sie ganz macht und aufbaut. So hat sein Talent auch keine in sich ruhende Frauengestalt geschaffen.“ Eloesser kann gar nicht anders, als sich einen offenen Schluss zu gestattet. Hesse hatte noch 30 Jahre Leben und Werk vor sich, ehe er heute vor 60 Jahren in Montagnola im Tessin starb. Eloesser blieben knapp sieben Jahre bis 1938. Dass Hesse seinerseits von ihm nur die beiden Bände Literaturgeschichte besprach und ihn erwähnte mit seiner Otto-Ludwig-Ausgabe, wird ihm zu Ohren gekommen sein. Die Kritik zum zweiten Band las er nie.

Das aber war, und damit sind wir am Ende dieser Geschichte angelangt, weder Hermann Hesses Schuld, noch Arthur Eloessers Versäumnis. Denn die Münchner Zeitung, die am 21. Oktober 1932 unter der Überschrift „Bücher der Kultur und Kunst VI“ eine sehr lange Besprechung Hesses zu etlichen einschlägigen Büchern druckte, strich ausgerechnet den Anfang seines Beitrags, der sich mit Band II von Eloessers Literaturgeschichte befasste, komplett, warum auch immer. Das Folgende also las Eloesser nie: „Ein vornehmes und geistvolles Werk sind diese zwei gealtigen Bände (ohne Bilder). Selten nur wagt sich einer vom Fach an diese Art der Geschichtsschreibung: die meisten deutschen Literaturgeschichten sind entweder dilettantisch oder schulmeisterlich. Eloesser ist weder das eine noch das andere. Ohne mit dem Apparat zu prunken, erweist er große gründliche Kenntnisse und gute Schule, er urteilt urban und kommt mancher Unverdaulichkeit mit zarter Ironie bei. Die gute Haltung und Sprache des Ganzen, die ideengeschichtliche Struktur, die Ordnung der Gruppen ist bewundernswert.“ Auch nicht, womit Hesse nicht ganz zufrieden war: der Darstellung von Jeremias Gotthelf und vor allem von Jean Paul. Der war immer einer von Hesses literarischen Hausgöttern, worauf selbstverständlich Arthur Eloesser keinerlei Rücksicht nehmen konnte.


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