Arthur Eloesser und Efraim Frisch

Bis in die jüngste Zeit noch hörte man so genannte alte Hasen des Zeitungsgeschäfts davon reden, dass Leser am Wochenende mehr Zeit und größere Ruhe hätten, sich mit dem zu befassen, was ihnen ihr Blatt biete. Entsprechende Ausgaben waren deutlich umfangreicher als die von Montag bis Freitag, allein die Anzeigenteile mit für heutige Maße unfassbar vielen Seiten. „Dienstag, den 2. April, beginnen wir mit der Veröffentlichung der Erzählung „Das Verlöbnis“ von Efraim Frisch, welcher der Roman „Narren“ von M. zur Megede folgen wird.“ Diese Ankündigung fanden die Leser der „Vossischen Zeitung“ am 31. März 1901 in der Morgenausgabe Nr. 153. Es war nicht exponiert gedruckt, doch war in jenen Zeiten gar nichts exponiert gedruckt, Schlagzeilen gab es keine, nichts, was man Titel oder Überschrift nennen könnte, es gab weder Zeichnungen noch gar Fotos, später nannte man solche Zeitungsseiten Bleiwüsten. Eine Gefahr, übersehen zu werden, bestand für die Vorschau dennoch kaum. Noch weniger für die Werbung: Für 4,95 Mark, so warb das Waarenhaus Hermann Tietz (tatsächlich so geschrieben), konnte eine Blouse „Sarah Bernhardt“ in dieser Woche erworben werden, es handelte sich um eine „originelle, verschönerte Facon unserer reinseidenen gefütterten Japon-Blouse“. Auf in die Leipziger Straße also, in die Krausen-Straße.

Die Sonntagsbeilage der „Vossischen Zeitung“ vom 31. März 1901, fortlaufend als Nummer 13 ausgewiesen, besprach den zweiten Teil der Aufzeichnungen des Generals und Napoleon-Vertrauten Gourgaud, Rezensent war Eduard Schulte. Samuel Lublinski porträtierte Gottsched anhand eines neuen Buches, erschienen im Gottsched-Verlag Berlin 1900, mit dem Titel „Ein Gottsched-Denkmal. Den Manen Gottscheds errichtet von Eugen Reichel.“ Der „Vorwärts“ des 1848 erschossenen Robert Blum wurde vorgestellt mit dem Ziel, den Lesern auch den Schriftsteller Blum näher zu bringen. Efraim Frisch dagegen erschien einfach, keinerlei Porträt voraus. Auch den Namen M. zur Megede hatten die Freunde des Fortsetzungsromans hinzunehmen. Die Rede ist von Marie zur Megede, geboren 17. September 1855, gestorben im September 1930, selbst Wikipedia kennt das genaue Datum nicht. Sie veröffentlichte vor allem im Verlag von Theodor Fontanes Sohn, der Roman „Narren“ kam jedoch erst 1904 als Buch heraus, war demnach sehr früh im Vorabdruck. Efraim Frischs Erzählung erschien dagegen noch 1901 in Buchform, also deutlich rascher. Erst die Besprechung, die Arthur Eloesser ihr widmete im Dezember 1901, offenbart einen Bezug beider Namen, den obiger Titel bereits suggeriert. Heft 12 präsentiert unter der Rubrik-Überschrift „Neue Bücher“ immerhin eine knappe halbe Spalte zu Frisch, die neuen Buchvorstellungen abschließend.

Die zuvor besprochenen Titel waren „Der Weg des Thomas Truck“ von Felix Holländer; „Offenbarungen eines Wacholderbaums“ von Bruno Wille; „Die Vollendung“ von Kurt Martens; „Die Suchenden“ von Johannes Schlaf; „Der Samariter“ von Ernst Heilborn; „Buddenbrooks“ von Thomas Mann; „Abendkinder“ von Frida Freiin von Bülow, Debütant Frisch beschließt also die Sammelbesprechung in durchaus illustrer Gesellschaft. Den Roman der Freiin von Bülow hat Eloesser übrigens auch für die Vossische Zeitung besprochen, gedruckt am 21. August in der Morgenausgabe, man könnte beide Texte vergleichen, was hier natürlich nicht Aufgabe sein kann. Frühzeitig war der zunächst nur für die Theaterkritik bestellte Erich-Schmidt-Schüler Eloesser auch zuständig für den Fortsetzungsroman. Wie er dieser Aufgabe gerecht wurde, wissen wir nicht, es gibt keinerlei Zeugnis für seine diesbezügliche Arbeit, auch gelegentliche Überlieferungen von Briefen wie im Falle Martin Beradt helfen letztlich nicht wirklich weiter. Dennoch ist sicher davon auszugehen, dass Efraim Frischs Erzählung „Das Verlöbnis“ als Manuskript auf Eloessers Tisch lag, vielleicht schon als Buch-Manuskript des S. Fischer Verlages, in dem es schließlich auch erschien. Die „Neue Rundschau“ belieferte Eloesser bereits vor seiner festen Anstellung bei der Vossischen Zeitung regelmäßig mit eigenen Beiträgen, Nummer 12/1901 enthielt bereits Opus 17.

Ob Efraim Frisch und Arthur Eloesser sich schon 1900 oder 1901 persönlich begegnet sind, lässt sich so wenig sagen wie, wann es, wenn überhaupt, später geschah. Es gab jedoch zwei Phasen in beider Leben, da sie als Theaterkritiker mit hoher Wahrscheinlichkeit in größerem oder weniger großen Abstand voneinander im Parkett saßen. Frisch schrieb für „Das Theater“, dem leider kein Erfolg beschieden war, während Eloesser für die Vossische Zeitung die Vorstellungen besuchte, die ihm sein Kollege Alfred Klaar in Absprache überließ. Später belieferte Eloesser das „Blaue Heft“, während Efraim Frisch für den „Berliner Börsen-Courier“ und dessen Theater-Ressort unterwegs war. Als Dramaturg unter Max Reinhardt durfte Frisch gelegentlich auch Regie führen, der mir derzeit einzig belegbare Fall war seine Inszenierung von August Strindbergs „Fräulein Julie“, die Premiere lief am 29. August 1907. Doch weder der Kritiker Siegfried Jacobssohn, mit dem Arthur Eloesser später so eng befreundet war, dass beide sogar ein gemeinsames Projekt planten, das an Jacobssohns frühem Tod 1926 scheiterte, noch der Kritiker Alfred Klaar, der aus Prag nach Berlin zur Vossischen Zeitung gekommen war, erwähnten in ihren Besprechungen den Namen des Regisseurs Frisch. Was heute als üble Bosheit gelten würde, war damals die Normalität. In Frischs „Von der Kunst des Theaters“ bekommt das Verfahren sogar ausdrücklichen Kritiker-Segen.

Die Frage jedoch, warum Arthur Eloesser nach seiner knappen Behandlung von „Das Verlöbnis“ im Dezember 1901 nie wieder auf Efraim Frisch zu sprechen kam, obwohl doch, wie die spärliche Frisch-Literatur überzeugend nahelegt, dessen Rolle vor allem in der Redaktion von „Der Neue Merkur“ eine prägende war, lässt sich nicht mehr aufklären. Eloesser nennt den Namen weder in seiner zweibändigen Literaturgeschichte noch in seinem letzten Buch „Vom Ghetto nach Europa“, obwohl in beiden Titeln eine Erwähnung ganz sicher Verständnis gefunden hätte. Nur in jenem voluminösen Sammelband mit dem Titel „Juden im deutschen Kulturbereich“, der erst 1959 tatsächlich im Druck erscheinen konnte, als Eloesser schon mehr als zwanzig Jahre tot war, gibt es im Kapitel „Literatur“, das den Band eröffnet, diesen Passus: „Erwähnenswert sind, jeder in seiner Art, Erich von Mendelssohn, Friedrich Torberg (geb. 1908), Otto Zarek (geb. 1898), Manfred Georg (später George, geb. 1893), Otto Roeld, der feinsinnige Essayist und Novellist Efraim Frisch (1873 – 1942) …“. Aus der Angabe des Todesjahres für Frisch ist zu folgern, dass hier schon eine Spur der Bearbeiter der zweiten Auflage erkennbar wird, denn der 1938 verstorbene Eloesser konnte natürlich nicht wissen, wann Frisch im Schweizer Exil sterben würde. Diese Erwähnung legt die Vermutung nahe, dass Eloesser vom Roman „Zenobi“ keine Notiz mehr genommen hat.

Was insofern verwundert, als der 1927 bei Cassirer in Berlin erschien, wo nur wenige Jahre später gerade die umfangreiche zweibändige Literaturgeschichte herauskam. Doch auch zu Otto Roeld hatte er zweifelsfrei keine näheren Informationen zur Hand, der eigentlich Otto Rosenfeld hieß und von 1892 bis 1943 lebte. Und Erich von Mendelssohn (19. Juli 1887 – 17. Juni 1913) ebenfalls nicht. Zu dessen Roman „Nacht und Tag“ wiederum Thomas Mann ein Vorwort schrieb, das Eloesser spätestens während seiner Vorabreiten für seine 1925 erschienenen Mann-Biographie zur Kenntnis genommen haben dürfte. Es bleibt beim Negativ-Befund: Nur „Das Verlöbnis“ von Frisch hat den Kritiker näher beschäftigt. „Da ich nun genug Romane gelesen zu haben glaubte und mich in treuer Pflichterfüllung durch einen Wust von kleineren Erzählungen, Novellen und Skizzen durcharbeitete, wurde mir doch noch eine Entdeckerfreude zum Lohne. Der Entdeckte heißt Efraim Frisch, er hat „Das Verlöbnis. Geschichte eines Knaben“ geschrieben, und trotz allen lehrsamen Enttäuschungen behauptet der Kritiker, der als solcher Optimist von Beruf ist, dass dieser Autor ein starkes Talent bedeutet, und dass er nicht zu denen gehört, die es in einem Erstlingswerk ein für alle Mal ausgeben.“ Diesen Beginn könnte man so deuten, dass Eloesser nichts mit dem Vorabdruck vom 2. bis zum 30. April 1901 in der Vossischen Zeitung zu tun hatte, muss das aber nicht.

„Die kleine Erzählung behandelt Leben und Tod eines Knaben, und ist doch keine Kindergeschichte, sie schildert seine Liebe zu einem größeren Mädchen und ist doch keine Liebesgeschichte, sie spielt in einem jüdisch-galizischen Milieu und ist doch keine Ghettogeschichte, ein Stück menschlicher Tragik, nicht aus junger Empörung geboren, sondern einem reifen Menschen zum Bewusstsein gekommen, der mit der Ruhe des Künstlers auch die Schmerzen betrachtet, der klug denkt, fein schreibt und sich auf Zweckmäßigkeit der Komposition versteht. Die Tragödie des begabten Kindes, das durch väterlichen Ehrgeiz zugrunde gerichtet wird, hat schon oft, zuletzt bei Marie von Ebner-Eschenbach, das gebührende Mitleid herausgefordert, aber sie ist wohl noch nie mit einer so analytischen Strenge, mit einer so durchleuchtenden Intelligenz des Verstandes und des Herzens behandelt worden. Der ernste, fleißige, enthaltsame Vater hat sich ein großes Haus gebaut, aber sein Wille erfüllt es so, dass für die Freude darin kein Platz ist, und die junge zarte Frau, die er sich genommen hat, ist an seiner Seite bald scheu und still geworden. Der gefährliche Ehrgeiz des Vaters hat sich auf die Begabung seines Sohnes gerichtet, und dem kleinen Leo wird die rabbinische Weisheit mit allen Kniffligkeiten des Talmud in das junge Hirn gepfropft.“ Im April 1901 war Efraim Frisch 28 Jahre alt, wohl doch eher jung als reif.

„Aber die Vergangenheit seines Stammes ist ihm tot, die Düsterkeit des Gottesdienste, die Flüche und Anklagen des geschlagenen Volkes erschrecken seine träumerische Seele. Die Welt um ihn herum soll ihm fern und feindlich bleiben, Spielen, Laufen, Singen ist ihm verboten, dem Kinde, das ohne Freude leben soll. So muss seine Phantasie krank werden, immer müde und überwach wird er von seinen Träumen übermannt, so dass er sie zuletzt selbst ein unbewusster Lügner als Wirklichkeit ausgibt. Er verliebt sich in ein großes Mädchen, das zwar mit einem Offizier durchgegangen ist, aber das sind ihm unverstandene, gleichgültige Dinge, er ist ihr Verlobter und ihre Eltern haben sie zusammen gesegnet. Wir wissen, dass sehr geniale Menschen schon in frühester Jugend ernstester Leidenschaften fähig waren, und diese zur Poesie gewordene pathologische Studie zwingt uns durchaus, in dem Knaben ein geniales Kind mit einer noch ganz in Dumpfheit gehüllten künstlerischen Anlage zu sehen, das mit solcher Organisation in seinem Milieu umkommen muss. Von einem Dichter, der das leistet, haben wir nicht wenig zu erwarten.“ Klare Hoffnungen verband der Kritiker also mit dem Namen Efraim Frisch. Überprüft hat er sein Urteil später nicht, warum auch immer. Der Eloesser-Biograph aber wird, sollte es ihn geben, nachlesen müssen, was hier von jüdischem Erleben stand zu einem, der aus dem Osten kam, nicht aus Berlin.


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