Günther Rücker 100

Dumm stellen kann man sich immer. Es ist selten eine schlaue Lösung. Mit Günther Rücker ging es mir wie anderen auch. 1980 las ich sein Filmszenarium „Bis dass der Tod euch scheidet“, 1979 in der Reihe dialog des Berliner Henschelverlags erschienen, mit Szenenfotos aus dem fertigen Film. Katrin Saß darin als Sonja, wir sehen sie heute noch gern im Usedom-Krimi. Martin Seifert als Jens, Renate Krößner als Tilli, Angelica Domröse als Jens' Schwester. Kein Exemplar der dialog-Reihe in meinen Beständen ist so abgegriffen wie dieses. Die kleinen Bleistift-Punkte an den Seitenrändern verraten heute, was mir vor 44 Jahren wichtig war im letzten Semester meines Berliner Philosophie-Studiums, eben daran gehindert, die geplante Diplom-Arbeit über Günter Kunert auch tatsächlich zu schreiben. Bis Ende des ersten Halbjahres 1980 las ich von Rücker noch dies: Der Platz am Fenster; Der Platz am Fenster gegenüber; Erzählung eines Stiefsohns; Requiem für einen Lampenputzer; Garne und Gewebe; Siebzig Jahre; Das Modell; Portrait einer dicken Frau; Private Galerie, Sieben Takte Tango; Der Herr Schmidt; Einer Reise zusehen. Dazu im November noch als Nachschlag: Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir. Das ist eine Menge, ganz zweifellos.

Rücker war in den ebenfalls bei dialog erschienenen Sammlungen mit Hörspielen öfter vertreten, der Leipziger Reclam-Verlag vereinte 1979 unter dem Titel „Sieben Takte Tango“ elf Hörspiele und eine Komödie, 1988 Prosa und Essays mit dem Titel „Erzählung eines Stiefsohns“. Ich las zwei Monate vor der Grenzöffnung 1989 die „Die Liebe des Herrn Alfred Purgmayer“ und dann lange nichts. Ich hörte, Rücker sei von Berlin nach Meiningen umgesiedelt. Und bald hörte ich auch, dass nicht nur seine dort lebende Tochter ein Grund war für den Rückzug aus der einstigen Hauptstadt der DDR. Es gab da eine Nebentätigkeit, deren Ausübung mit dem Ende jener DDR so rasch und direkt ins Reich der Geächteten führte wie von Mai 1945 an kaum jemals eine solide tätowierte SS-Nummer nach der damaligen Zeitenwende. Der Autor Günther Rücker, eben noch in hohen und höchsten Tönen gelobt für zahlreiche Hörspiele, für seine nicht ganz so zahlreichen Filmszenarien und schließlich für erzählende Prosa der kleineren Form, mit der er viele überraschte, als er schon sechs Jahrzehnte Leben hinter sich hatte, bekam jetzt keine Chance mehr, wie weiland Fontane nun systematisch zum alten Rücker aufzurücken. Berlin wurde zu heiß für ihn, Meiningen zum Exil.

Als Rücker am 24. Februar 2008 in Meiningen starb, widmete ihm die Thüringer Allgemeine einen knappen Nachruf. Nun hieß er ein ostdeutscher Autor, dem Berlin die Stadt war, „wo er sich Ruhm erschrieb und Pein: Als Autor, auch Regisseur, bedeutender DEFA-Filme, als IM im Umfeld von Franz Fühmann. Deshalb hatte er sich aus dem Zentrum an die Peripherie zurückgezogen, deshalb auch schwieg er. Das spricht für ihn, der fähig war, Scham zu empfinden. Dabei, Günther Rücker hätte das, anders als andere, nicht nötig gehabt.“ (Peter Baran) Gab es also Autoren der DDR, die es nötig hatten, für die Stasi zu spitzeln? Dann wäre freiwilliger Betrieb des IM-Geschäfts besonders mies oder besonders ehrenhaft? Kann man nach 1990 noch, ohne der Ahnungslosigkeit verdächtig zu sein, von Meiningen als Peripherie reden, statt vom „Grünen Herzen“, der Mitte Deutschlands? Irma Weinreich, einst bekannte Mitarbeiterin des FDJ-Zentralorgans „Junge Welt“ und Moderatorin des Jugendmagazins des DDR-Fernsehens mit dem aufbauenden Namen „Sei dabei!“, klammerte als Nachwende-dpa-Korrespondentin anlässlich des 80. Geburtstags von Rücker am 2. Februar 2004 sein Stasi-Schaffen milde aus, jedenfalls in der Fassung, die an diesem Tag „Freies Wort“ druckte.

Schaue ich heute in meinem Archiv nach Rücker, dann finde ich etliche Gratulationen zu seinem 65. Geburtstag. In „Junge Welt“ gratulierte Angelika Griebner, im „Sonntag“ Leonore Brandt, beide kannte ich sehr gut, sie waren meine Ansprechpartnerinnen in ihren Redaktionen. Drei lange Spalten lieferte Klaus-Dieter Schönewerk für „Neues Deutschland“, zwei deutlich kürzere für die „Berliner Zeitung“ Christel Berger. Sie widmete später in ihrem zweibändigen Werk „Als Magd im Dichter-Olymp“ Günther Rücker siebzig Seiten im zweiten Band, Rubrik: Fünf „meiner“ Götter bei der Arbeit. Die „Tribüne“ überließ den Glückwunsch Bernd Heimberger, dem man dereinst in buchstäblich jeder DDR-Zeitung begegnen konnte. Der nach 1990 auch einmal ein Buch versuchte, das ihn als Opfer von Streichungen und Kürzungen im Redaktionsalltag darstellen sollte. Ich ärgere mich heute, dieses Buch nicht gekauft zu haben, leider weiß ich nicht einmal mehr, wie es hieß. Drei noch längere Spalten als im „ND“ gönnte sich der „Filmspiegel“ in seiner dritten Ausgabe von 1989, der Autor war Helmut Ullrich, meines Wissens mit mir weder näher noch ferner verwandt. Nach dem 8. September 1989 finde ich mich selbst erst wieder am 15. Juni 2011, da schon digital.

„Man muss es dem alten Stasi-Lümmel lassen: starke Geschichten kann er schreiben.“ So steht es da, nicht für eine Veröffentlichung geschrieben und bezieht sich auf „Eine Geschichte aus dem mittleren Thüringen“. „Er überlässt seinen Lesern die Erkenntnis, die aus dieser Geschichte zu ziehen ist. Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob es hundert Prozent Absicht war. Denn Günther Rücker macht mit dieser Geschichte nicht weniger als einen frühen Beweis für die nachwendliche Argumentation, warum der Sozialismus scheitern musste.“ So sah ich es vor dreizehn Jahren und es gibt wenig Gründe, es heute anders zu sehen. Wenn Rücker der Autor war, als der er einst gefeiert wurde: der genau Beobachtende, der nahe am Leben Schauende, dann sah er, ohne sich dagegen wehren zu können, mit den Oberflächen auch die Untergründe, die Linien, die Verbindungen, die Strukturen, man suche sich aus, was man im eigenen Schubkastensystem am besten verstauen kann. Es wiederholte sich damit an ihm, was großen Autoren wider ihre persönlichen Überzeugungen also gar nicht so zufällig geschah: der Balzac-Effekt, der auch Fontane-Effekt genannt werden dürfte. Wobei bisweilen auch einfach nur Zerrissenheit unterlief, vermutlich schmerzliche bestenfalls.

Für das schmale Buch „Schriftsteller über Weltliteratur. Ansichten und Erfahrungen“ (1979 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar) schrieb Günther Rücker „Über Joseph Roth – vor einer Lesung aus „Radetzkymarsch“. Ich las es mitten in einer intensiven Phase der Beschäftigung mit Joseph Roth, die in zwei größere Vorträge mündete, die ich damals hielt. Ich zitiere meine Notiz vom 5. Juni 2006: „Was für eine peinliche und verlogene Liebeserklärung, was für eine feige und dumme Polemik in unbenannte Richtungen. Was für ein Hin- und Hergerissensein zwischen Neigung und blöder ideologischer Pflicht.“ Natürlich kannte ich da Joachim Walthers Aussagen zu Rücker aus „Sicherungsbereich Literatur“ längst, es traf mich um so mehr, als ich eben auch eine mehr als nur milde Neigung zu Franz Fühmann hatte, von dem ich auch die Nebenwerke kannte, die ihm selbst später eher peinlich waren. Dann liest sich einfach ganz anders, was Günther Rücker im Jahre 1971 für das Buch „Schriftsteller über Schriftsteller. Liebes- und andere Erklärungen“ zu Papier brachte. Da schrieb er nämlich ausgerechnet über Fühmann. „Was ich läse“ stand als Überschrift über den gut sechs Druckseiten, viel Konjunktiv dabei und es endete als Empfehlung für Fühmanns Gedichte.

Zur IM-Tätigkeit Rückers im Umfeld von Fühmann findet man unterschiedliche Angaben, mal ging es 1973 los, mal 1978, das eine macht es nicht besser oder schlechter als das andere. Die Spitzel-Prosa liest sich auch nicht wie Rücker, aber so lesen sich auch die Akademie-Dokumente nicht, die Christel Berger zitiert. Man muss das nicht aufregend finden. Ein gewisser Goethe schrieb auch nicht wie Goethe, wenn er amtliche Schriften verfasste. Erst sein Altersstil schuf große Ähnlichkeit. Ich gestehe Erleichterung, als ich einen Hinstorff-Band von 1987 aus meinem Regal zog, der den Titel trägt: „Zwischen Erzählen und Schweigen. Ein Buch des Erinnerns und Gedenkens. Franz Fühmann zum 65.“ Nein, Günther Rücker ist dort nicht vertreten, es wäre der kaum übertreffliche Gipfel an Geschmacklosigkeit gewesen, hätte er rückblickend dort das Wort ergriffen. Dafür war Schweigen später sein eigenes. Es wurde als Zeichen von Scham gedeutet. Hätte 1989 der Suhler Schriftstellerverband sich nicht sang- und klanglos von seinem Nachwuchs verabschiedet, anders als es der Verband in Gera hielt, wäre mir Rücker in Meiningen beim monatlichen Treff vielleicht sogar noch begegnet. Auch Siegfried Pitschmann war eines Tages in aller Stille im Bezirk gelandet.

Geboren ist Günther Rücker am 2. Februar 1924 in Reichenberg, Nordböhmen. Die Stadt gehörte zur Tschechoslowakei, wie sie mit dem Zerfall der k.u-k. Monarchie entstand. Die tschechische Bevölkerung betrug dennoch kaum mehr als ein Fünftel der deutschen. Reichlich viereinhalb Jahre nach Rücker, am 2. Dezember 1928, wurde Hans Richter in Reichenberg geboren, später Germanist und Buchautor. Sein „Verwandeltes Dasein“ besprach ich für die „Neue Deutsche Literatur“ (NDL). Das trug mir sein Wohlwollen ein und hätte meinen Kritiker-Weg vielleicht beeinflusst, wenn sich die DDR nicht aus der Geschichte verabschiedet hätte. Richter äußerte sich mehr als wohlwollend, wenn auch mit seltsamen Wendungen zwischendurch, zu Rückers erstem Prosa-Buch (vgl. „DDR-Literatur 84 im Gespräch“, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1985). Später wurde Hans Richter zum Kompetenz beanspruchenden Fühmann-Biographen. Die erste Auflage kam 1992 heraus, sie dürfte zu wesentlichen Teilen noch in der DDR entstanden sein, eine als erweiterte Neuausgabe deklarierte Fassung brachte der Aufbau Taschenbuch Verlag 2001 in den Buchhandel. Auf 470 Druckseiten erscheint der Name Günther Rücker kein einziges Mal. Das nenne ich ein Phänomen.


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