Arthur Eloesser und Lord Byron

Der 150. Geburtstag von George Gordon Noel, 6. Baron Byron, kurz Lord Byron, fiel auf einen Sonnabend. Am Vortag, am 21. Januar 1938, veröffentlichte die „Jüdische Rundschau“ in ihrer Nummer 6 auf Seite 4 eine besondere Würdigung des Briten, Verfasser war Ernst Blass. „Zu Lord Byrons 150. Geburtstag“ lautete die nüchterne Überschrift, darunter stand das Datum in Klammern: 22. Januar 1938. Als Motto vorangestellt ein Zitat aus dem „Kain“. Über dem Strich, der manchen das Feuilleton markiert, ein kleines Gedicht von Mascha Kaleko: „Enkel Hiobs“, das auf eigene Weise mit dem Gedicht korrespondiert, das Ernst Blass zitiert: „Oh weep for those“. Es gehört zu „Hebräische Melodien“, die lange das einzige waren, „was die Ostjuden von Lord Byron kannten und ihrem Schatz der hebräischen Literatur einverleibten. Es war, als hätte Byron die Juden mit diesem Werke so reich beschenkt, dass sie demütig bescheiden auf seine weiteren Gaben verzichteten.“ So ergänzt S. Meisels die Aussagen von Blass in einem kleinen Einspalter unter der Überschrift „Byron im Hebräischen“. S. Meisels war Samuel Meisels (9. Dezember 1877 – 5. Juni 1942), verheiratet mit Ettel Meisels, geborene Rapaport, die 1941 im Ghetto Lodz ermordet wurde. Samuel Meisels starb im Ghetto Izbica südlich von Lublin, einem so genannten Transit-Ghetto.

Ob der schwerkranke Arthur Eloesser, fast bis zuletzt selbst Autor der „Jüdischen Rundschau“, noch aktiv Kenntnis nahm von der auffälligen Byron-Würdigung im Blatt, wissen wir nicht. Seine letzte Buchkritik „Napoleon im Schlitten“ zu „Memoires du Général de Caulaincourt“ von Jean Hanoteau stand auf Seite 14 der Ausgabe vom 31. Dezember 1937. Vier Tage später erfuhren die Leser: „Unser Mitarbeiter, Dr. Arthur Eloesser, der von seiner Palästinareise zurückgekehrt ist, ist leider schwer erkrankt und für einige Zeit an der Durchführung seiner Mitarbeit als Theaterkritiker der „Jüdischen Rundschau“ verhindert. Wir wünschen Dr. Eloesser herzlich baldige Genesung.“ Zu dieser Genesung ist es leider nicht mehr gekommen, Eloesser starb am 14. Februar im Jüdischen Krankenhaus in Berlin, wo knapp ein Jahr später auch der Frühexpressionist Ernst Blass an zu spät erkannter Lungentuberkulose starb: am 23. Januar 1939. Arthur Eloesser hat diese „Hebrew Melodies“ aus dem Jahr 1815 nie thematisiert, obwohl er mit Lord Byron durchaus vertraut war. Das belegen diverse verstreute Aussagen über ihn, die sich bis 1901 zurückverfolgen lassen und bis ins letzte Buch „Vom Ghetto nach Europa“ (1936) reichen. Bei einem Besuch in Ravenna erinnerte sich Eloesser der Affäre Byrons mit Gräfin Guiccioli und sah ein Hotel mit dem Namen des Lords.

Das war im Frühsommer 1906, Eloesser schrieb darüber für die „Vossische Zeitung“ unter dem Titel „Ravenna. Ein Reiseblatt“. Was insofern bemerkenswert ist, als er von den meisten seiner Reisen keinerlei Berichte hinterlassen hat, was besonders für seine häufigen Aufenthalte in Paris bedauerlich ist, kaum weniger für seine Reisen in Holland. Weniger bedauerlich ist, dass er auf Lord Byron in aller Regel nur zu sprechen kam, wenn er sich mit anderen Dichtern befasste, vor allem mit solchen aus Deutschland, aber auch aus Frankreich. Wer seine Autorenlaufbahn als Literaturhistoriker mit einer zweibändigen deutschen Literaturgeschichte krönt, muss auf eigener Vorarbeit fußen und so ist eben Lord Byron besonders im Zusammenhang mit Heinrich Heine und Goethe bei Eloesser präsent. „Zunächst wurde er selbst ein Held der Zeit, weil er ein oppositioneller Schriftsteller, dazu ein Lord war, und er schien ihr Märtyrer, als er in Missolunghi als großer Irregulärer im griechischen Freiheitskampf starb“. So können wir in „Vom Ghetto nach Europa“ lesen und wissen natürlich längst, dass Byron keineswegs im Kampf starb, sondern im Bett in den Armen seines Dieners. Er erlag einem Sumpffieber, nachdem er zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte. Auch Arthur Eloesser selbst wusste es besser, wie Band II seiner Literaturgeschichte zeigt.

„ ... sein Tod in Missolunghi, der heute mehr als Selbstmord verstanden wird, ließ ihn jung und mit dem Lorbeer des Freiheitskämpfers dahingehen.“ Natürlich ist hier kein Selbstmord im üblichen Sinne gemeint, sondern die Absicht, sich in Gefahr zu begeben, eben im Kampf zu fallen. Dass Byron gar nicht zum Kämpfen kam, war nicht seine Schuld, der hartnäckigen Legende tat das keinen Abbruch. Noch 1938 erschien im Berliner Schützen-Verlag ein biographisches Buch des sonst unbekannten Verfassers Claus Schrempf, 388 Seiten stark, mit dem Titel „Lord Byron stirbt für Griechenland“. Es stand jahrzehntelang im Bücherregal meiner Eltern, ich bin mit dem Anblick des Buchrückens aufgewachsen, ohne das Buch selbst je zu lesen. Arthur Eloesser hat es nicht mehr sehen können. Ob er es seiner Bibliothek einverleibt hätte, ist allein deshalb fraglich, weil er schon am 28. Juli 1933 ein Großteil davon über das Auktionshaus Max Perl versteigern musste. Aus Platz- und Geldgründen, denn die große Wohnung in der Dahlmannstraße war nicht mehr zu halten, zum Lietzenseeufer zog dennoch eine imposante Menge noch um. Neben Heine und Goethe nennt der Literaturhistoriker vor allem in seinem zweiten Band auch etliche andere Namen mit Bezug auf den Lord und benutzt dann auffallend oft und also gern das Wort „byronisieren“ zum Charakterisieren.

„Vor ihm war Byron der Gegenstand der europäischen Schwärmerei, er war der erste Dichter, der auch handelnd auftrat, der auf der europäischen Bühne mitspielte, wobei es ihm zustatten kam, dass er Lord, dass er reich war, ein verbannter dazu, der Europa vom Bord einer Yacht, vom Rücken eines Pferdes das Lebewohl rief.“ Hier ist Heine Bezugspunkt. Und Eloesser steht natürlich eher zu Heine als zu seinem vermeintlichen Vorgänger. „Aber Byron, sagt der echte Revolutionär Mazzini, hatte zur Menschheit kein anderes Verhältnis als das der Herrschsucht; seine Helden, schön, reich, unabhängig, wollen ihre Macht und ihr Glück; das ist das Geheimnis ihres Elends und ihrer Ohnmacht. Byrons Dichterruhm hat längst an Glanz verloren, nicht durch seine moralische Verfemung in England, sondern weil gerade die Kenner in seiner Heimat seinem stets bereiten stolzen Pathos die innigere Künstlerschaft eines Shelley, eines Keats vorzogen.“ Ob Eloesser den Beitrag von Stefan Zweig zum 100. Todestag Byrons am 19. April 1924 kannte, zuerst gedruckt in „Neue Freie Presse“ (Wien), vermag ich nicht zu sagen, Zweig folgte offenbar mit eigenen Worten der Argumentation von Giuseppe Mazzini (22. Juni 1805 – 10. März 1872) recht weitgehend und trug so zur Demontage einer falschen Heldenlegende bei, auch den Dichter in ihr relativierend.

In Siegfried Jacobsohns „Weltbühne“ ließ Eloesser gut drei Wochen nach dem 100. Todestag Byrons vom Kanzler der Deutschen Einheit, der keineswegs Helmut, sondern Otto hieß, nämlich Otto von Bismarck, wissen, „dass er mit Byron weltschmerzlich schwärmte und sogar an seine Braut über das Recht der Jugend auf Melancholie einen Brief schrieb, der alle Leistungen unserer Literarhistoriker, auch von der neuen sublimen Schule, einfach zu Makulatur macht.“Auf diesen Brief sollte man neugierig sein, der Verlag Cotta in Stuttgart publizierte 1900 „Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin“ in prächtiger Ausgabe, fast 600 Seiten stark. Die Leipziger Reclam-Dokumentation „Otto von Bismarck. Dokumente seines Lebens“ (RUB 1172) hält deutlich weniger euphorisch immerhin fest: „Shakespeare und Byron gehörten zu seinen Lieblingsautoren. Lenau, Chamisso, vor allem Heine waren ihm vertraut.“ In „Literarische Porträts aus dem modernen Frankreich“, S. Fischer Verlag 1904, bringt Arthur Eloesser den Namen Byron in Zusammenhang mit Henri Becque, Honoré de Balzac und Alfred de Vigny, ohne dabei zu Byron selbst mehr zu sagen. 1907 heißt es dann: „Recht lohnend scheint sein Vergleich des „Peer Gynt“ mit dem „Don Juan“. Ibsen wie Byron bekämpfen die politische, religiöse, moralische Lüge ihres Landes, nur dass der Norweger für den aristokratischen Helden des Engländers einen Bauernsohn einsetzt.“

Wobei es auch hier nicht um Byron selbst ging, sondern um neue Ibsen-Literatur. Dafür bringt der Band I der Literaturgeschichte im Blick auf die Figur des Euphorion in „Faust II“ eine sehr kompakte Aussage: „Goethe lässt darüber kein Geheimnis, dass Byron sterben musste, um die Figur zu vollenden; er setzte dem Dichter ein Denkmal der Liebe, der nicht antik, nicht romantisch, der wie der gegenwärtige Tag selbst war. Goethe erlag nicht anders als die gesamte Mitwelt der verführerischen Erscheinung des Lords, der pathetischen des Weltschmerzlers, der sich zuletzt, Hamlet und Fortinbras zugleich, noch die Märtyrerkrone als Befreier der heiligen Hellas erkämpfte. In Wahrheit schuf er in Missolunghi nur Ungelegenheiten, ein unbequemer, kranker Mann, dem die getreue Legende noch höchst unverdiente Lorbeeren auf das Sterbebett streute. Goethe hat auch, wie die gesamte Mitwelt, den Dichter überschätzt; dafür übersah er, wie viele andere, den größeren Shelley, den einzig genialen Übersetzer seines Faust.“ Und anschließend: „Lord Byron hatte sich dem großen deutschen Dichter verehrungsvoll genähert, und Goethe hatte dem interessantesten Manne der Zeit … mit einer Art von patriarchalisch gefasster Ergriffenheit geantwortet. So nahm er, der im Leben keinen Geisteserben hatte, als Faust den Euphorion-Byron förmlich zum Sohne an.“

Diese Vater-Sohn-Deutung wiederholt auch Gero von Wilpert in seinem „Goethe-Lexikon“, freilich ohne auf Eloesser zu verweisen oder ihn überhaupt zu nennen. In Band II der Literaturgeschichte erscheinen Wilhelm Waiblinger und Wilhelm Müller: „Der jugendliche Waiblinger wollte ein Byron werden, bis er sich zu Goethe bekannte und Platens Zustimmung suchte. Nicolaus Lenau wurde der deutsche Byron, ein echterer als der englische, wie Anastasius Grün meint; denn dieser sei nur ein Unzufriedener, Lenau aber ein Unglücklicher gewesen.“ „Der eigentliche Griechensänger war Wilhelm Müller. Das griechische Volk hat ihn nächst Byron am höchsten geehrt“. Was mitten in die Vergleiche und Wahlverwandtschaften führt. Heine nannte sich einmal in einem Brief selbst den Vetter Byrons, weshalb es immer wieder zitiert wird, auch von Eloesser. Lenau wurde von anderen zum deutschen Byron ernannt. Ein Literaturhistoriker weiß das natürlich und muss es nicht Fall für Fall kommentieren. Nur zwei Sätze mögen eine Blütenlese ersetzen: „Laubes Gastfreund Pückler hatte sich zu einer Art Ersatz für Byron gemacht, der erste und auch der einzige Dandy in unserer Literatur“. Und: „Detlev von Liliencron empfing den gesichtslosen Roman mit Jubel, weil er kein Urteil hatte und weil er selbst mit Byron in einem heimlichen Wunschverhältnis verkehrte.“

Für Arthur Eloesser blieb am Ende wichtig ein ganz bestimmtes Resümee: „Byron war der Luzifer der Zeit, Verkünder des Weltschmerzes, der titanisch anklagend aus dem Riss der Schöpfung stieg; ... Heine ist ein lebendiger Besitz der Menschheit geblieben, beständiger als der Dichter des Manfred, des Cain, des Don Juan, er hat den ruhelosen Childe Harold abgelöst, für den er wie damals alle Jugend schwärmte und den er so schön in deutsche Verse gebettet hat.“ Man darf wohl Otto Gildemeister beipflichten, der schon 1859 schrieb: „Der Weltschmerz ist ein Produkt der neuesten Zeit, d. h. der letzten hundert Jahre. … Dass die Jungen, die Gesunden, die Glücklichen trauern, wäre den Griechen wie den Orientalen unfassbar, unnatürlich erschienen.“ Gildemeister (13. März 1823 – 26. August 1902) zieht eine Linie bis zurück zu Shakespeares Hamlet und zitiert: „Wie schal und flach und unersprießlich / Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt.“ Und meint: „Gerade das Schale und Flache, nicht das wirklich Entsetzliche des Lebens, ist dasjenige, woran der Weltschmerz sich weidet. Die Langeweile hat mehr Anteil an ihm als das Unglück.“ Wer Lord Byrons Ruf zu schützen meint, indem er ihn vom Weltschmerz gewissermaßen freispricht, hilft ihm kaum. Doch Otto Gildemeisters Sicht auf den Briten wäre ein neues Thema wie „Goethes Byron“.


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