Arthur Eloesser und Immanuel Kant

Als die Straße Nummer 9 in Charlottenburg, Abteilung V/1 und V des Bebauungsplanes am 23. Februar 1887 ihren bis heute unveränderten Namen Kantstraße erhielt, lebte der Gymnasiast Arthur Eloesser noch bei seinen Eltern in der Prenzlauer Straße 26. Sein 17. Geburtstag stand kurz bevor, das Abitur 1888 war nicht mehr weit. Der Namensgeber der Straße, Immanuel Kant, war ihm natürlich mindestens aus seinem Unterricht bekannt. Und mehr als das. „Erst in der Prima wurden wir infolge einer neuen Verfügung zum jüdischen Religionsunterricht angehalten. Der Lehrer, an den ich gern zurückdenke, war ein kleiner feiner Mann von viel Vernunft und Wissenschaft, aber er kam weder von Mose und den Propheten noch überhaupt von unserer alten Geschichte her, sondern einmal von Spinoza, einmal von Kant, an dem ich mich damals mit sehr unzureichenden Kräften versuchte; er gab uns eine philosophisch geklärte, religiös farblose Ethik, von einem höheren denkerischen Standpunkt also ungefähr dasselbe, was ich bei gelegentlichen Besuchen in der Synagoge, bei Hochzeiten und Begräbnissen von unseren Predigern gehört hatte.“ Nachzulesen in „Erinnerungen eines Berliner Juden“ aus dem Jahr 1934, gedruckt in der „Jüdischen Rundschau“.

Worin die Versuche an Kant mit unzureichenden Mittel genau bestanden, wissen wir nicht, es mögen Schulaufsätze, essayistische Übungen, Interpretationen schwieriger Stellen gewesen sein, eine selbständige Arbeit zu Kant aus frühen oder späteren Jahren ist derzeit nicht bekannt. Es lässt sich dennoch mindestens ein Umriss von Eloessers Kant-Bild zeichnen auf der Basis etlicher in Büchern und Zeitungsbeiträgen gedruckter Aussagen in unterschiedlichen Zusammenhängen. Dass Goethe und Schiller eine Hauptrolle spielen, liegt an deren Verhältnis zu Kant und untereinander zum Thema Kant. Dass Schiller Kantianer war, ist bekannt, dass Goethes Verhältnis zu Kant unterschätzt wurde, ist eine These Eloessers. Folgerichtig taucht der Name Kant in „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ in beiden Bänden auf, mit der ausführlichsten Passage zu Goethe, ausgiebiger auch zu Schiller. Dass Heinrich von Kleist auf besonders eigene Weise mit Kant verbunden war, war dem frühen Kleist-Biographen Eloesser natürlich ein offenes Geheimnis, das Stichwort heißt: Kant-Krise. Mit dem Umzug der Familie Eloesser in die Dahlmannstraße in Charlottenburg brachte Kant sich nahezu täglich ganz profan in Erinnerung: über die Kantstraße.

Es darf dennoch nicht verwundern, dass Immanuel Kant im Werk Arthur Eloessers nie in seinem ganzen Reichtum, nie in den Phasen seines Schaffens, auch nicht als Mensch von Fleisch und Blut mit seinen Eigenheiten, gar Marotten, ins Blickfeld gerät. Das hat sehr schlicht damit zu tun, dass Kant eben kein separater Gegenstand von Literaturgeschichte sein kann, er erscheint immer nur als Bezugsperson, als Einflussgröße, als Gegenstand der Kritik wie der Verehrung. Sein eigenes Bild von schöner Literatur war eher dürftig, seine persönlichen Beziehungen dahin kaum nennenswert. Entsprechend gruppieren sich Kant-Aussagen von Eloesser nie nach Leben und Werk des Mannes aus Königsberg, immer nach Leben und Werk der jeweiligen Person der Literaturgeschichte. Nur einmal zitiert er Kant in verblüffender Ausführlichkeit, im Druck runde zwanzig Zeilen. Und da lässt sich dann vielleicht doch ein Bezug zu Schulzeit und Studium Eloessers herstellen. Das lange Zitat entstammt nämlich Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahr 1784, zuerst gedruckt in „Berlinische Monatsschrift“, es findet sich dort im vorletzten Abschnitt: „Achter Satz“. Eloesser wollte noch bis in die ersten Studiensemester Historiker werden.

Das wäre mehr als naheliegend mit einem Interesse an Geschichtsphilosophie verbunden: auch der Kantianer Friedrich Schiller eröffnete seine Vorlesungen in Jena mit der später berühmten Frage: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Dass ein damals berühmter Historiker, der forciert antisemitische Heinrich von Treitschke, den Studenten Eloesser aus der allgemeinen Geschichte vertrieb, wie man vereinfachend und verkürzend sagen könnte, kann hier nicht vertieft werden. Das lange Kant-Zitat im ersten Band der Literaturgeschichte endet mit dem Satz: „Diese Aufklärung aber, und mit ihr auch ein gewisser Herzensanteil, den der aufgeklärte Mensch am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann, muss nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen, und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einfluss haben.“ Bei Eloesser steht „einwirken“ statt „Einfluss haben“ wie im Original, vielleicht einer anderen Text-Grundlage entnommen, was an der Substanz nichts ändert. Er zitiert im Schiller-Zusammenhang: „Es ist ein bedeutsames Zusammentreffen, dass Immanuel Kant gerade in dem Jahr von Schillers Bauerbacher Einsamkeit, die den Posa wachsen ließ, das Verhältnis der Aufklärung zu dem damaligen Staatswesen in einem monumentalen Aufsatz erschöpfend darstellte.“ Eben 1784.

Dem langen Zitat geht dies voran: „Diese Kausalitätsbestimmung erinnert uns, dass auch Karl Marx aus der klassischen deutschen Philosophie hervorgegangen ist. Es ist ein witziges und ungemein sinnvolles Epigramm, dass der Schöpfer der Kritik der reinen Vernunft sich auf die zunehmende Gewerbefreiheit verlässt, während der tragische Dichter Gedankenfreiheit fordert.“ Witzig in diesem Sinne ist auch Eloessers Diktum: „Schiller machte den Posa zum ersten, wohl auch zum einzigen Kantianer auf der Bühne, noch bevor er seinen Meister kennengelernt hatte.“ Man darf die „Don Carlos“-Rezeption daraufhin durchforsten, ob eine solche These irgend jemanden jemals erreicht hat. Im Theater würde vermutlich sowieso niemand ohne Vorwarnung oder Beipackzettel den Kantianer als solchen erkennen. Doch noch einmal weiter zurück: „Um die Jahrhundertwende ist Leibniz der Cäsar der Gelehrtenrepublik, er bleibt es bis zu Kant, den Mendelssohn für seinen Brutus hält, wenn er ihn den „Alleszermalmer“ nennt.“ In „Vom Ghetto nach Europa“ wiederholt Eloesser das Wort vom „Alleszermalmer“ und schreibt dann: „Als Philosoph blieb Mendelssohn eine vorkantische Erscheinung.“ Und verschweigt natürlich nicht, dass Kant der Hauptschrift Mendelssohns, „Jerusalem“ höchste Anerkennung zollte, es gab „enthusiastische Zustimmung“.

Eloesser passiert die Großen der Zeit: Klopstock, dem Kant als ein „Charlatan“ galt, Nicolai in Berlin, dem Kant missfiel, weil er nicht wie Hume schrieb, Fritz Jacobi, der meinte, das persönliche Dasein Gottes gegen Kant und Fichte verteidigen zu müssen. „Es bleibt zu bewundern, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft über das autonome Wesen des Genies zu den richtigen Schlüssen kam, obgleich er sich der beiden größten Beispiele noch nicht zu bedienen wusste.“ Also wenig bis nichts von Shakespeare und Goethe wusste. Herder war anfangs Kant-Schüler, später Kant-Hasser, auch das fehlt nicht bei Eloesser: „Herder antwortete dem alten Lehrer mehr mit Beschimpfungen als mit Gründen; ihm, der mehr geschaut als gedacht, der mit einem einst genialen Blick spekuliert hatte, fehlte die Einsicht, wie groß Kant nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes geworden war und dass er es nun mit einem Riesen zu tun hatte.“ Am Ende „zerrieb Herder sich zwischen Goethe, den er nicht mehr lieben konnte, und zwischen Kant, den er hasste.“ Dass der bekennende Spinozist Goethe zunächst mit Kant nicht sehr viel anfangen konnte, dann aber an der „Kritik der Urteilskraft“ einen folgenreichen Zugang fand, hat er spät selbst zu Papier gebracht und drucken lassen. Die vielleicht wichtigste Wirkung stellt Arthur Eloesser vorn an.

„Durch die Annäherung an Kant wurde für Goethe das Einverständnis mit Schiller vorbereitet. Als die Kritik der Urteilskraft erschien, reinigte sie seinen Begriff vom Genie, das schöpferisch selbstlos, zwecklos waltet, von der selbstgenügsamen Vollkommenheit des Kunstwerkes, das sich um keine Wirkung nach außen kümmert, so wenig wie die Natur, ob sie einen Löwen oder einen Kolibri hervorbringt. Das Verhältnis von Goethe zu Kant ist in Tiefe und Dauer lange unterschätzt worden; noch im hohen Alter kam er auf sein grenzenloses Verdienst zurück, dass er der Kunst wie der Natur das Recht gegeben habe, aus großen Prinzipien zwecklos zu handeln.“ Dennoch: „Goethe ist nie Kantianer gewesen mit dem religiösen Enthusiasmus, mit dem er den Spinozistischen Pantheismus im Gemüt trug, mit der künstlerischen Anhänglichkeit, die ihm Leibnizens beseelten Monaden als Anschauungswert unentbehrlich machten.“ Goethe war, das nebenbei, womöglich der einzige, dem der Gedanke an die Monaden sinnliches Vergnügen bereitete. „Goethe hat mit Kant nie brüderlich gelebt, aber er fand bei ihm eine Reinigung der Begriffe, die ihn wiederum für eine fröhliche Schaffensepoche freimachte.“ Und Kant, siehe eben, war ihm eine Brücke zu Schiller.

„Schiller dachte sich durch Kant durch, ging in seine Lebensschule, um überhaupt wieder Künstler, Gestalter der Idee werden zu können; seine Ansicht vom Erhabenen war eine ästhetische Erwiderung auf den Kategorischen Imperativ, dessen sittlicher Schematismus einen Goethe erschrecken musste.“ Zur Wirkungsgeschichte Kants in Weimar gehört Carl Leonhard Reinhold (25. Oktober 1757 – 10. April 1823), der schrieb „die klaren, ohne seichte Gefälligkeit fast eleganten Briefe, die dem großen Philosophen gegen Herders erbitterten Widerspruch ein literarisches Publikum anwarben.“ „Der Kantianer Reinhold übertraf noch seine und Körners Bewunderung für den Meister; er versicherte ihm, dass Kant in hundert Jahren die Reputation von Jesus Christus haben würde.“ Ganz so toll ist es nicht gekommen, schon Fichte, Schelling und Hegel standen dagegen. „Die Kritik der reinen Vernunft berührte auch Schillers ästhetische Bestrebungen kaum, aber die Kritik der Urteilskraft empfing er nach seiner Krankheit wie eine Offenbarung und Goethe hat sie als eine hohe Bestätigung seines eigenen instinktiven Verhalten geehrt.“ Es wird damit schon hier klar, dass der Kant, von dem fast immer die Rede ist, nur der Kant der „Kritik der reinen Vernunft“ und der „Kritik der Urteilskraft“ ist. Es wird eine Geschichte selektiver Wahrnehmung.

„Die eigentlich Kantische Schrift von Schiller wurde „Anmut und Würde“. Kant selbst hat sie als ein Werk von Meisterhand anerkannt.“ Die aber brachte Goethe und Schiller einander noch nicht näher, das bewirkte erst „Über naive und sentimentalische Dichtung“. „Die Schrift ist eine große Huldigung an Goethe und zugleich eine bescheiden stolze Selbstverwahrung. Kant ist der dritte im Bunde, seine Kritik der Urteilskraft wird noch einmal poetisch vorgetragen, was allerdings nicht ohne Grenzverwischung vor sich geht; gegen seinen drakonischen Meister konnte sich Schiller jetzt schon liberaler verhalten, um ein Lieblingswort von ihm zu gebrauchen.“ Für Schiller, so Arthur Eloesser, bedeuteten Nähe zu Goethe und die Lehre Kants Rückkehr zur Poesie. „Der alte Kant, wie Goethe sagt, wusste Gott sei Dank nicht, was ein Poet sei, und seine Schriften ließen sich unter einem grünen Baume nicht lesen.“ Im zweiten Band der Literaturgeschichte erscheint Kant nur noch in großen Abständen, zunächst in Bezug zu Novalis, zu Zacharias Werner, zu Friedrich Hölderlin oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Und fast immer ist nur der Name genannt. Wie zu Novalis etwa: „ Als Jenenser Student schwärmte er für Schiller, der ihm über Kant den Weg zu Fichte wies“. Selbst Heinrich von Kleist veranlasst Eloesser nur zu einer sehr knappen Aussage.

„Was ihn wieder aus Berlin trieb, nannte er Verzweiflung an der Wissenschaft, besonders an der Kantischen Philosophie, die nur eine Erkenntnis nach den Bedingungen unseres Denkvermögens zuließ. Dann gab es keine Wahrheit, die über unsere kurze Existenz an die Ewigkeit reichte. Mit dieser absoluten Forderung an Kant begründete er seinen ersten seelischen Bankrott.“ Seine ein Vierteljahrhundert ältere Studie „Heinrich von Kleist“ formuliert zum Sachverhalt: „Die Kantsche Philosophie nahm ihm den Glauben an die Wissenschaft und die absolute Wahrheit, die seine Natur mit ihrem Alles oder Nichts forderte. Wenn die Kritik der reinen Vernunft nur eine relative Erkenntnis zuließ, so gab es keine Wahrheit, die über unsere kurze irdische Existenz an die Ewigkeit reichte. Kants Philosophie war für ihre Anhänger nicht nur eine neue Lehre, sondern auch eine Religion und Lebensschule, und Kleist, der mit seiner stürmischen Geradheit immer absolute Sicherheiten fordert, konnte eine Enttäuschung, einen geistigen Missbrauch seines Vertrauens nicht verzeihen.“ Für Kleist in Frankreich heißt das: „Mit der Philosophie ist er fertig. Der kategorische Imperativ scheint ihm nicht mehr kategorisch in einem Lande, das er einst höchst naiv mit der Kantschen Lehre durch Vorträge vertraut machen wollte.“ 1911, zur Kleist-Feier, klingt es ähnlich.

„Von Leibniz oder dessen Schülern ging er zu Kant, der ihn durch die Selbstkritik der Erkenntnis so furchtbar enttäuschte. Der Relativismus konnte sein Sicherheit forderndes Gemüt nicht beruhigen.“ Von 1898, als der Name Kant erstmals in einem Eloesser-Buch auftauchte, bis 1936, als „Vom Ghetto nach Europa“ erschien, bleibt Kant immer vorausgesetzt. Wenn sich die Gelegenheit bietet, wie eben in „Das bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“, ist er präsent: einmal zu Schiller, einmal zu Friedrich Ludwig Schröder und seinen Stücken: „Sie strafen das Laster, belohnen die Tugend, und zu einer Zeit, da Kant den kategorischen Imperativ aufstellt, predigen sie eine handgreifliche Nützlichkeitsmoral, welche nicht auf die Gründe sondern auf die Folgen menschlicher Handlungen gestützt ist.“ Damit ist der Gegensatz zwischen Kants Lehre und dem bezeichnet, was etwas zu summarisch Utilitarismus genannt wird. Genau das aber interessiert den Theater- und Literaturhistoriker Eloesser in seinen Zusammenhängen nicht näher. Als am 19. November 1929 die „Weltbühne“ aus der Literaturgeschichte, Band I, eine Goethe-Passage druckte, enthielt sie die erwähnte These: „obgleich er von den Philosophen, nicht nur von Spinoza, vor allem von Leibniz, Kant, von Schelling, mehr Rat angenommen hat, als man früher zulassen wollte.“

Christian Garve (7. Januar 1742 – 1. Dezember 1798) wäre einer von denen, die im Zusammenhang mit Kant mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, als Arthur Eloesser ihnen geben konnte. Vergessen hat er ihn aber nicht: „Wie er sich zwischen Lessing und Goethe stellte, so fand er auch den für einen Mendelssohn unerreichbaren Übergang zu Kant, dem er noch vor den Briefen des Jenenser Philosophen Reinhold den ersten Anhang im Publikum zugeführt hat.“ Im Gefolge einer zunächst gekürzt gedruckten Rezension Garves zur „Kritik der reinen Vernunft“ kam es zu einer bis an sein Lebensende andauernden publizistischen Auseinandersetzung mit Kant. Innerhalb deren sich Kant an seine „Grundlegung zur Metapysik der Sitten“ setzte. Wer von Kants Liebe zu englischem Käse auf Butterbrot, zu kleinen Weinflaschen, mit denen seine Gäste auskommen mussten, zu den Dienern Lampe und Johann, die oberhalb ihres Herrn im Hause nächtigen mussten, erfahren will, muss sich anderer Quellen bedienen. Bei Eloesser dagegen gibt es auch eigene Familiengeschichte. Vom „Vetter aus Amerika“ wusste er: „Der Vater, zu Geschäften nicht sehr geeignet, hat noch in Amerika, und sogar in einem südstaatlichen Nest, Beethoven gespielt und Kant gelesen.“ Das wäre sicher heute noch eine schöne Geschichte im geschichtslosen Auswanderer-Paradies alter Zeiten.


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