Arthur Eloesser: "Mario und der Zauberer"
In der DDR gab es zu Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ eine stille Übereinkunft. Im Bild der Affekttat des Kellners Mario, der den Gaukler Cipolla erschießt, habe der Dichter nicht nur den italienischen, sondern gleich auch den noch gar nicht herrschenden deutschen Faschismus in genial vorausschauender Weise charakterisiert und zugleich sein gewaltsames Ende vorweggenommen. Ich hatte die Erzählung als Schulpflichtlektüre zu Beginn des Abiturjahres zu lesen. Ich nutzte dazu die zehnte Auflage der Leipziger Reclam-Ausgabe (RUB 148), von der bis zum Hinscheiden der DDR und ihres Schullehrplanes ganze 22 Auflagen verbreitet wurden. Welche Lehren genau wir Goethe-Schüler damals zu ziehen hatten, ist mir nicht mehr erinnerlich. Wohl aber kann ich anhand meiner 55 Jahre alten Markierungen im Büchlein erkennen, was mir damals wichtig war. Die Stelle ist nicht nur unterstrichen, sondern auch noch mit einem Ausrufezeichen am Rande versehen. Der böse Cipolla sagt dort zu einem jungen Mann, der seine Zunge nicht herausstrecken will, weil das von wenig Erziehung zeugen würde: „Es würde von gar nichts zeugen, denn du tätest es ja nur.“ Im Druck ist das „tätest“ zusätzlich kursiv gesetzt, die Bedeutung so demonstrativ unterstreichend.
Ich habe eine gute Vorstellung, warum mir gerade diese Stelle so ins Auge stach: Waren wir DDR-Menschen, also auch Schüler, nicht oft gezwungen, Dinge zu tun, die wir nicht wirklich tun wollten? Ich hätte in dieser Deutung das Wort „nur“ kursiv setzen müssen, denn es setzt das Tun herab gegenüber dem Wollen, das Motiv höher als das Ergebnis oder die Wirkung des Handelns. Als Student hörte ich, was daran evangelische Moraltheologie war. Mehr als ein Vierteljahrhundert später las ich „Mario und der Zauberer“ erneut, jetzt im Zusammenhang umfassenderer Thomas-Mann-Lektüre, jetzt mit Kenntnissen, die erst aus der Reisefreiheit ab 1990 erwachsen konnten. Da fiel mir auf, dass die deutsche Familie keineswegs ausschließlich deshalb zur Unzeit an der toskanischen Küste war, weil da in Rom ein Duce regierte. Denn zu meinen eigenen aus Ratgebern und Ratschlägen gewonnenen Erkenntnissen gehörte: Man vermeide Urlaub in Italien in dem Monat, da die Italiener selbst Urlaub machen. Das ist der August. Die, die dann für uns arbeiten, weil wir die Touristen sind, hätten selbst auch gern Urlaub: Wir vermiesen es ihnen, sie lassen es sich anmerken. Und dann fiel mir auf, was seltsamerweise bis heute offenbar niemandem auffiel.
Jedenfalls nicht, soweit ich das eben übersehe. Warum führt der Kellner Mario eine Pistole mit sich, wenn er eine abendliche „Kulturveranstaltung“ besucht? Auf Affekt könnte heute selbst im kleinen Amtsgericht keiner plädieren: die mitgebrachte Waffe spricht für Vorsatz und Vorsatz ist Mord. Es ist ratsam, mehr will das gar nicht besagen, erst einmal sehr nüchtern zu schauen, was eigentlich geschieht. Es ist beispielsweise davon auszugehen, dass zu der Zeit, da die Familie Mann wie die namenlose Familie der Erzählung Italien besucht, Deutschland noch der ehemalige Kriegsgegner ist, nicht etwa schon der Verbündete einer Achse Berlin-Rom-Tokio, wie wenige Jahre später. Es ist ebenso davon auszugehen, dass die Familie eine harmlose, weil eben auch für Kinder zugelassene Abendveranstaltung besucht. Keine Nazi-Show mit Rekruten-Ausbildung. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass der Kritiker Arthur Eloesser, als er in der Novemberausgabe der Neuen Rundschau von 1930 „Mario und der Zauberer“ besprach, weit hinten im Heft, unter der Rubrik Anmerkungen, diverse gedankliche Voraussetzungen gar nicht haben konnte. Es fehlten ihm auch schlichte Fakten aus dem Leben der Familie Thomas Mann, die den biografischen Hintergrund ausleuchten könnten.
Eloessers Besprechung ist einzig geblieben, denn sie fehlt natürlich noch in seiner Thomas-Mann-Biografie von 1925 und sie konnte keinen Eingang mehr finden in seine Literaturgeschichte, deren Manuskript abgeschlossen war, als „Mario und der Zauberer“ im Druck erschien. Es mutet kurios an, wenn Hans Mayer in seiner Thomas-Mann-Biographie von 1950, also zwanzig Jahre später, pauschal über die in seinen Augen blinde zeitgenössische Kritik urteilt, ohne ein einziges Beispiel zu nennen. Mayer war Ignorant gegenüber Eloesser, den er offenbar ohne eigene Kenntnisnahme in seinen Literaturangaben versteckt. Trotz vorgezeigten Wissens um einen Mann-Text in der Neuen Rundschau von 1929 nahm er den Eloesser-Text im Folgejahrgang nicht wahr. Ich vermute, er hat auch den Mann nicht in den Händen gehalten, sondern in irgendeiner Bibliografie gefunden. Der Vorwurf an die zeitgenössische Kritik bezieht sich ausschließlich auf das vermeintliche Verkennen der politischen Dimension der Erzählung. Die zu akzentuieren, reduziert Mayer, wie er bald verrät, nach dem Vorbild von Georg Lukacs, und selbst vorbildlich für spätere DDR-Biografien von Thomas Mann (Eike Middell, Eberhard Hilscher) die Erzählung ganz auf den „Herrn aus Rom“.
Dem hat Arthur Eloesser tatsächlich keine Aufmerksamkeit geschenkt. Wie es andere Zeitgenossen hielten, kann hier nicht untersucht werden, auch Mayer hat es nicht probiert und der wollte immerhin vierhundert Druckseiten füllen. Den Wert der Erzählung aber hat Eloesser vollkommen zweifelsfrei erkannt. „Ein knappes Bändchen in einem hübschen Karton, auf dem ich eben erst die italienische Trikolore in einem blasseren und bescheidenerem Grünweißrot entdecke. … Hübsch auch sonst die Zeichnungen von Hans Meid; er folgt dem Dichter mit einem schlank abschließenden Kontur“. Hans Meid (3. Juni 1883 – 6. Januar 1957) war Maler und Illustrator, Wikipedia nennt ihn einen erfolgreichen Vertreter des Impressionismus in der Buchgrafik. Er arbeitete kurzzeitig für die Meißener Porzellanmanufaktur als Entwerfer, entwarf für 44 Verlage Buchumschläge, darunter auch für S. Fischer, wo Thomas Manns Novelle 1930 erschien. In Pforzheim heißt eine Straße nach ihm, es gibt einen nach ihm benannten Preis für Buchillustration. Unter den von ihm illustrierten Autoren nennt Wikipedia Thomas Mann nicht. Auch Heinz Höfchen, Autor für die Neue Deutsche Biografie, kennt seine Arbeit für Thomas Mann nicht.
„Dieses Reiseerlebnis, wahrscheinlich auch auf einer Reise oder in Ferienmuße geschrieben, ist ein Meisterwerk, ein ungemütliches Gegenstück zu dem gemütlichen „Unordnung und frühes Leid“. Beide Male erzählt Thomas Mann als Hausvater, von der Familie, von den Kindern, nur dass er diesmal draußen ist, nicht mehr häusliche Autorität und Vorsehung, sondern Zufällen, Begegnungen, unfreundlichen Geistern ausgesetzt, für die er auch nur ein irgend Jemand ist. Das Unfreundliche droht im Anfang mit banalen, nüchternen Gebärden“. So ist es, mehr ist dem puren Text der Erzählung nicht abzulesen, mehr hat folgerichtig auch Arthur Eloesser nicht an Wissen um Hintergründe besessen. Denn der Briefwechsel Thomas Manns ist noch lange unveröffentlicht, die beiden Hauptquellen, die heute jeder anführen kann, weil sie zur Verfügung stehen, sind 1930 wie 1950 noch unbekannt. In einem Brief an Otto Hoerth (24. November 1842 – 6. Januar 1935), er gehörte seit 1872 zur Redaktion der Frankfurter Zeitung, zuständig für das Feuilleton und die Berichterstattung aus Süddeutschland, schildert Thomas Mann den Reisehintergrund. Die zweite Quelle ist sein 1930 geschriebener „Lebensabriss“, den Eloesser ebensowenig kennen konnte.
Was man aber zu jedem beliebigen Zeitpunkt und ohne alle Hintergrundkenntnisse prüfen konnte, ist der Ort des Geschehens. Wer das unternahm, musste darauf stoßen, dass es den Ort Torre di Venere gar nicht gibt, wo sich alles ereignet. Ohne das Wissen um einen sehr direkten biografischen Hintergrund muss das natürlich niemand prüfen. Namen und Orte sind seit Urzeiten erzählerische Spielmasse. Tatsächlich aber war Thomas Mann mit Frau und den beiden jüngsten Kindern in Forte dei Marmi, das ich gut kenne, aber als ich dort war, nicht nach Erinnerungsorten an Thomas, Katia, Elisabeth und Michael Mann absuchte. Wenn wir ehrlich sind, haben wir kaum etwas gewonnen, wenn wir wissen, dass das nackte achtjährige Mädchen, das seinen Badeanzug im Meerwasser auswaschen möchte und so Anstoß erregt, Elisabeth Mann hieß, die spätere Elisabeth Borghese. Wie Eloesser sein Wissen verarbeitet hätte, wäre es sein Wissen gewesen 1930, erfordert keine Spekulationen. Nacktheit ist bis heute, also fast genau hundert Jahre später, an öffentlichen italienischen Stränden unüblich, wenn nicht sogar ausdrücklich verboten. Verblüffend, dass Biograf Eike Middell noch 1968 Torre di Venere als tatsächlichen Ort ansah, auch das Jahr 1927 ist falsch.
Der von Arthur Eloesser hier benutzte Begriff des Hausvaters geht auf Denis Diderot zurück und dessen fünfaktiges Bühnenstück aus dem Jahr 1775. Stück und überhaupt den Dramatiker Diderot kannte wohl unser aller Lessing bestens, er übersetzte ihn sogar. In den großen (west-)deutschen Schauspielführern (Georg Hensel, Reclam) aber kommt der Franzose gar nicht oder in einem nichtssagenden Nebensatz vor. Eloesser hatte dafür bekanntlich mit „Das Bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“ einschlägige Kompetenz bewiesen: Diderot nimmt einen wichtigen Platz im Kapitel IV seines ersten Buches ein. Ein Hausvater ist in der Tradition des Bürgertums eben mehr als das Familienoberhaupt oder gar nur der biologische Vater. Er hat weitreichende Verantwortung und zugehörige Pflichten. In dieser Rolle sah der Kritiker mit mehr Recht, als wir vielleicht zugeben wollen, auch Thomas Mann. „Der Hausvater Thomas Mann redet uns an, uns andere Väter und verantwortliche Familienhäupter. Mit dieser Familiarisierung, mit dieser ironischen Überbetonung gewinnt Thomas Mann das Mittel, eine Sache zugleich zu bagatellisieren und ihr trotzdem eine Projektion ins Hintergründige, ins Dämonische zu geben.“
Für Eloesser steht fest, dass Thomas Mann nie wie sein Bruder Heinrich ein Mann des Südens, vor allem Italiens war. „Der Süden war dem Dichter nie behaglich, … Weshalb auch „Der Tod in Venedig“, bisher seine einzige tragische Geschichte … da unten spielen musste.“ Er fordert seine Leser auf, selbst den Vergleich mit der berühmten Novelle zu unternehmen. Und er schwelgt: „Welch ein Künstler! Welch ein Atelier! Mit immer neuer Könnerschaft! Wie klein scheinen hier die Griffe, und wie weit reichen sie! … Man liest die Erzählung in einer Stunde, man liest sie noch einmal und öfter, immer langsamer, um sich jedesmal das Vergnügen an dieser Feinmechanik zu steigern.“ Ausschließlich ideologisch orientierte Lesarten wie die von Lukacs und Mayer, ihre DDR-Nachfolger sind schon nicht mehr ganz so krass, gehen an diesen, den bleibenden Seiten der Erzählung unberührt vorbei. „Ein schmaler Turmbau, aus dem Familiären, Gelegentlichen, Zufälligen bis ins Tragische hinaufgezogen und zu den hohen Lebensfragen, für die es keine Antwort auf Ja oder Nein gibt. … Warum blieb man in dem demütigenden Bereich dieses widerlichen, bombastischen Phrasenschleuderers mit dem Buckel?“, fragt der Kritiker 1930.
Die Antworten von außerhalb der Erzählung, die Thomas Mann selbst gegeben hat, siehe die oben genannten Hauptquellen, konnte er nicht heranziehen. Mann selbst hat er offenbar nicht befragt vorher, was bei der guten persönlichen Beziehung beider durchaus denkbar gewesen wäre. „Ein peinigendes Kapitel von der menschlichen Willensfreiheit, ein Wachtraum von gespenstischer Überdeutlichkeit am Rande des Abgrunds, in dem unsere Schwäche sich eindunkelt. … Den Vampyr wischt ein Pistolenschuss weg von dem in seiner Jünglingsscham missbrauchten Mario. Der Spuk ist zergangen, der uns kalt ins Blut ging. Dennoch, auch dieses Vampyr, auch dieser unwiderstehliche, unausstehliche Zauberer war ein Opfer, war das Gespenst auf unser aller Rücken. Das ist mit Meisterschaft bewiesen, aber nicht ohne den wohltätigen Rest des Unaufgelösten“. Mit dieser Sicht auf Cipolla steht Eloesser allein, muss er allein stehen, weil er eben nicht nur das sucht, was er finden will, sondern das auch findet, was niemand sucht, obwohl es da ist. „Die Analytiker werden staunen und dann versuchen, seinen Kubikinhalt auszumessen.“ Das sei, ich mag das nur unterstreichen, am 70. Todestag Thomas Manns, ausdrücklich empfohlen. Und morgen immer noch.