Arthur Eloesser: Moritz Heimann

Manchmal, wenn man mild befriedigt glaubt, im halblauten Nachdenken über seine Zeit zu einer niederschmetternden Erkenntnis gekommen zu sein, der nämlich, dass die Menschheit, wahlweise auch das deutsche Volk, so weit man es noch so nennen darf, immer mehr verblöde, Unwissenheit um sich greife, dann schlägt ein Blitz ein, der bescheiden macht. Solche Blitze gibt es, auch wenn sie im Starkstromlabor nicht nachgebaut werden können. Einer trägt für mich mal eben den Namen Moritz Heimann. Der ist heute vor genau 100 Jahren gestorben, in der Berliner Charité, und es muss ein schwerer Tod gewesen sein. Von der Art, die vorauszusehen ist und dennoch nicht weniger erschüttert. Am Morgen tot und in der Abendzeitung schon der Nachruf, das gab es früher. Heute gibt es nicht einmal mehr Abendzeitungen, jedenfalls keine des Blattes, das schon in der Frühe mit einer Morgenausgabe aufwartet. Heimann schrieb 1911: „Die wachsende Unbildung – man ist heute sogar auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete ungebildeter als man vor hundert Jahren war – braucht, um sich ertragen zu können, wachsende Anmaßung. Man ist beleidigt, wenn einem zugemutet wird zu lernen“. Ja, das ist bis heute der Punkt. Oder immer noch. Man ist beleidigt.

Moritz Heimann ist im eigenen Sinne eine Zumutung. Er mutet sich und anderen tatsächlich zu zu lernen. Sich immer zuerst. Das bezeugen Menschen, die ihn kannten und von ihm gelernt haben. Als er dann tot war, wählte die Weltbühne, als Wochenblatt konnte sie die Aktualität der Abendausgaben natürlich nicht als ihre Konkurrenz sehen, keine Stimmensammlung als Nachruf, wie sie es bei Gelegenheit des 50. Geburtstages von Heimann im Jahr 1918 getan hatte. Damals war Arthur Eloesser nicht unter den versammelten Gratulanten, jetzt meldete sich Martin Beradt zu Wort, ein mehr als nur guter Bekannter von Eloesser. Dessen Nachruf erreichte seine Leser im Berliner Tageblatt, 54. Jahrgang, Nr. 449, Abendausgabe vom 22. September 1925, auf der Seite 4. Die Vossische Zeitung und die Berliner Börsen-Zeitung waren ebenfalls tagesaktuell mit allerdings deutlich kürzeren Nachrufen, die Berliner Morgenpost zog am 23. September nach, als Morgenpost konnte sie auch gar nicht anders. Warum Eloesser nicht für die Vossische Zeitung schrieb, die er in all den Jahren, da er nach 1913 und bis 1928 nicht zur Redaktion gehörte, dennoch sehr regelmäßig mit seinen Arbeiten versorgte, ist heute nicht mehr feststellbar, aber auch weder nötig noch wichtig.

Im Oktober 1926 blickte Arthur Eloesser auf vierzig Jahre S. Fischer Verlag zurück, wie er es 15 Jahre zuvor schon mit 25 Jahren S. Fischer getan hatte. Jetzt, ein gutes Jahr nach dem Tod Moritz Heimanns, war es ihm eine Herzensangelegenheit, des Mannes zu gedenken, mit dem ihn so viel verbunden hatte. 1899 begann Eloesser als literarischer Berater des Verlages, für die Vossische Zeitung betreute er den Fortsetzungsroman, was ihm über viele Jahre immer die Gelegenheit gab, Fischer-Romane zu berücksichtigen. „Vor fünfzehn Jahren war es Moritz Heimann, der mich für den Verlag S. Fischer aufforderte, zum „Fünfundzwanzigsten Jahr“ den einleitenden Artikel zu schreiben. Bis zum vierzigsten Jahr hat er es nicht mehr ausgehalten, und es wird’s ihm auch keiner von uns gewünscht haben. Heimann starb, als es für ihn auf diesem Stern, wie Heinrich von Kleist vor seinem Abschiede sagte, nichts mehr zu lernen und zu erwerben gab. Von seinen Erwerbungen teilte er uns immer mit vollen Händen mit, und wir haben noch in seinen furchtbaren Leidensjahren von ihm gelernt, die er uns mit seiner letzten Güte erträglich zu machen suchte.“ So begann Arthur Eloessers Almanach-Artikel, von Heimann gab es nur noch die „Aphorismen aus dem Nachlass“.

„Heimann war ein Weiser, wenn wir darunter einen Menschen verstehen, der unter allen Umständen ein Erwerbender und Lernender, also ein Dankbarer bleibt, und von dem wir das Gefühl haben, dass er jeden Morgen in einem neuen Aufbruch zu einem wenigstens geahnten Ziele begriffen ist. Jede Persönlichkeit hat ein Ziel und ist ein Ziel, woher auch ihre Gedanken aufbrechen und in welcher Verstreutheit sie zu wandern scheinen. Soviel Gegenwart er hatte, so sehr er in seiner Zeitschicht die zeitlose Tiefe seines Denkraums fand, es war das Ehrwürdige, das Anfängliche an ihm, dass seine Gedanken wanderten, dass sie uns mitnahmen und vom Fleck brachten, in einer brüderlichen Kette.“ Das klingt nicht nur ein wenig bemüht, ist es wohl auch. „So hat er unmittelbar gewirkt, so können wir, die seine Hand fühlten, die sein Wort zuerst empfingen, uns fast vorstellen, dass er auch ohne seine Schriften auf uns gewirkt hätte, wie wertvoll immer sie der Nachwelt bleiben mögen. Wir können uns den Mann, der so viel Literatur gemacht, der unendlich mehr geprüft, gewertet, gefördert hat, auch ohne Literatur vorstellen.“ Eloesser war nur zwei Jahre jünger, knapp zwei Jahre, und durchaus nicht ohne Selbstbewusstsein, er wusste also sehr gut, was er sagen wollte.

Und er wusste natürlich auch, was er selbst bei anderen Gelegenheiten zu Heimann sagte und schrieb. Der war nämlich, und das unterschied ihn so gar nicht von anderen, des Glaubens, er könne für die Bühne schreiben. Sein Verleger S. Fischer verweigerte ihm natürlich nicht den Druck seiner dramatischen Versuche. So erschienen „Joachim von Brandt“. Eine Komödie in fünf Akten 1908 (167 Seiten); „Der Feind und der Bruder“. Eine Tragödie in vier Akten 1911 (165 Seiten); „Armand Carrel“. Drama 1920 (76 Seiten) sowie „Das Weib des Akiba“. Ein Drama in fünf Akten 1922 (172 Seiten). Anders als sehr viel später Marcel Reich-Ranicki ohne sehr viel Überblick behauptete, wurden diese Werke keineswegs nur in der Provinz gespielt, Arthur Eloesser sah anhand seiner Kritiken nachweislich drei davon und er sah sie in Berlin. Erfolge heimste Heimann aber tatsächlich keine ein damit. Der Theaterkritiker Eloesser brachte für seine Redaktionen nichts zu Papier, was er vor seinem kritischen Gewissen nicht hätte verantworten können. Er sprach dem, was er im Kleinen Theater („Joachim von Brandt“), den Kammerspielen des Deutschen Theaters („Der Feind und der Bruder“) sowie im Staatstheater („Armand Carrel“) besonders das Dramatische ab.

Seine Besprechung von „Joachim von Brandt“ ist seit längerem nicht mehr zugänglich, wer neugierig ist, kann aber sehen, was M. O. in der Berliner Morgenpost schrieb (vermutlich Max Osborn) oder auch, was Paul Schlenther dem Berliner Tageblatt lieferte, dort setzte man es sogar auf die Titelseite am 18. November 1910, es war ein Freitag. Nachlesbar ist, was Arthur Eloesser in „Das literarische Echo“, Rubrik „Echo der Bühnen“ über „Der Feind und der Bruder“ schrieb, nämlich kein einziges Wort über die Inszenierung, dafür eine Inhaltsangabe, die zum Ausdruck brachte, wie wenig der Kritiker sich angesprochen fühlte. „Was hier allenfalls lebt, oder was zuerst da war, sind die Gedankengefühle eines geistreichen Gemütes, das ungeheure literarische Anstrengungen macht, um Natur zu werden. … Ein Essay von Heimann, das mich gewiss in angenehme Erregung versetzt hätte unter der Bedingung, dass es tastend im Vagen blieb, ist zu einer Tragödie ausgesponnen worden, die niemand erleben kann. Man zündet im Dunkeln ein Licht an, aber all diese Figuren, von außen und innen beleuchtet, wissen bis aufs letzte schon, was man ihnen etwa zu sagen hätte, und so haben sie ihren Lohn dahin.“ Begeisterung klingt ganz anders.

Verblüffend ausführlich schreibt Eloesser 1922 über „Armand Carrel“ für Das Blaue Heft. Jetzt ist ihm nicht nur die Wiedergabe der Handlung wichtig. Jetzt geht er auch auf einzelne Darsteller ein, den Regisseur nennt er nicht ausdrücklich. Das kennt er von seinen eigenen Inszenierungen noch gut. Wenn die überhaupt besprochen wurden, fiel sein Name nicht, was normal war (und ist), soweit er als Dramaturg beteiligt war, als Regisseur nahm den ehemaligen Kollegen Kritiker die Zunft womöglich gar nicht richtig ernst. Doch das ist reine Spekulation. Als er über „Armand Carrel“ schrieb, setzte er bei seinen Lesern voraus, dass es den tatsächlich gegeben hatte, er lebte sein kurzes Leben vom 25. Juli 1800 bis zum 24. Juli 1836, starb also nach einem Duell mit Èmile de Girardin (22. Juni 1806 – 27. April 1881) am 22. Juli 1836 genau einen Tag vor seinem 36. Geburtstag. Eloesser: „Mit seinem Journalistendrama „Armand Carrel“ bestieg der feine politische Essayist die höhere Kanzel des Theaters, er vertrat eine Herzenssache, die man von ihm so ernst hinnehmen muss, wie sie gemeint ist, wenn man ihn auch, es ist wohl schon sein dritter Waffengang, immer noch nicht für einen geborenen Dramatiker halten kann.“ Das sind klare Worte.

Was ihn stört am Stück, das „mehr dramatisierter Essay als Schauspiel“ schien, sagt er auf nicht völlig selbstverständliche Art: „Wenn ich Heimann wäre, so hätte ich, gerade um zu seinem Bekenntnis zu gelangen, jenen Èmile de Girardin zu meinem Helden gemacht, der die moderne Presse zugleich schuf und korrumpierte.“ Hier spricht der regieerfahrene Kritiker ebenso wie der exzellente Kenner Frankreichs. Und er lässt es sich auch nicht nehmen, auf Delphine de Girardin hinzuweisen: „Es hat mich geradezu betrübt, dass Moritz Heimann an Delphine de Girardin so achtlos vorbeigegangen ist, einer der schönsten, begabtesten, einer der letzten großen Frauen ihrer Zeit“. Am Ende seiner Besprechung, der noch ein deutlich kürzerer Blick auf den Schweizer Arnold Kübler (2. August 1890 – 27. Dezember 1983) und sein Stück „Schuster Aiolos“ folgt, schreibt er diesen schönen Satz: „Man soll eben den Frauen nicht nur im Stillen huldigen, man soll es ihnen auch sagen.“ Sollte das gar von Heimann selbst gesagt worden sein in dessen Aphorismen, so will Eloesser ihm die Bemerkung gern zurückgeben. Schließlich waren Eloesser und Heimann neben allem auch einmal nebeneinander Lehrkräfte am neuen Nachwuchs-Institut des Lessing-Theaters.

„Moritz Heimann ist gestorben. Das bedeutet nicht nur den Verlust, dass eine der feinsten Federn zur Ruhe gebracht worden ist, das bedeutet für die literarischen Kreise eine Art Familientrauer; denn eines der besten Herzen hat aufgehört zu schlagen. - „Womit willst du denn schreiben, wenn nicht mit dem Herzen?“ fragte George Sand einmal mütterlich ihren Flaubert, der sich in dem Streben nach Unerschütterlichkeit noch von diesem Organ belästigt fühlte. Moritz Heimann hat immer mit dem Herzen geschrieben, aber mit einem Herzen, das Geist hatte, sehr viel Wissen und wohl auch ein wenig Menschenverachtung, die aber immer wieder zu Güte wurde. Seine Weichheit war nicht weichlich, sie war eine Kraft, eine Art Widerstandsfähigkeit, aus der er lebte. Nennen wir ihn nicht einen Philanthropen, er selbst hielt diese Leute für sonderbare Schwärmer, die die Löwen durchaus ans Grasfressen gewöhnen wollten. Und überdies hatte er keine Doktrin, keine versteinerte Überzeugung, beständig in seiner Veränderlichkeit, ein Lernender, ein Bildner des Lebens, auch in den letzten schweren Jahren der Krankheit, und seit Monaten in einem Sterben begriffen, das ihm wahrlich nicht leicht gemacht wurde.“ So beginnt Eloesser seinen Nachruf.

Das ist auch deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil er später, als er am 3. Januar 1926 in der Tribüne seine Gedenkrede auf Heimann hielt, die wiederum die Weltbühne in ihrer Ausgabe vom 26. Januar 1926 (Nummer 4 des Jahrgangs) druckte, auf seinen Nachruf zurückgriff. Ein völlig normaler Vorgang, der aber auch zeigt, dass Eloesser seinerzeit keinen Schnellschuss vorgelegt hatte, der nun auf willkommene Weise nachgebessert werden musste. „Wir beklagen einen Helfer, einen Freund, der mit jeder Generation wieder jung war, der trotz aller feinen Ironie keiner abgewinkt hat, die ihm ihren neuen Sorgen, ihren neuen Träume anvertraut hat. Moritz Heimann – hier sorgte das Schicksal richtig für ihn – hat Gelegenheit genug gehabt, als ein verehrter Sokrates so viel junge Menschen an die Hand zu nehmen, die nicht immer Alcibiadesse waren. Das wusste er selbst, mehrere Jahrzehnte Lektor des Verlages S. Fischer, dem ein großer Teil der modernen Literatur durch die Hände gegangen ist, und der trotz eigener, eigenartiger Produktion immer imstande blieb zu verstehen, zu lenken und zu fördern.“ Mit eigener, eigenartiger Produktion sind neben den Bühnenwerken auch die Novellen gemeint, die wie jene kaum großen Beifall fanden.

Walter von Molo (14. Juni 1880 – 27. Oktober 1958) schrieb etwa 1914 für „Das literarische Echo“ ganz glatt: „Heimanns Novellen haben mich kalt gelassen, trotzdem sie zweifellos aus einem hochkultivierten Wollen stammen. Die Probleme sind gesucht und von einer fröstelnden Vernunftarbeit geformt.“ Eloesser 1925: „Insofern meinte ich, bedeutet sein Tod für uns Schriftsteller, ältere und jüngere, eine Art Familientrauer; er tut sein Letztes, indem er uns, die wir gern auseinandergehen, in einem Gefühl, in einer Klage, in einer tiefen Anhänglichkeit, brüderlich versammelt.“ Im Nachruf erst verrät er, wer die Heimann-Regisseure waren: Victor Barnowsky bei Joachim von Brandt“, Leopold Jeßner bei „Armand Carrel“. „Zum Bühnenbeherrscher fehlte ihm wohl der eigentliche dramatische Befehlston. Seine Klarheit, die tief ist, seine Überzeugungskraft werden wir wohl in seinen Erzählungen finden, die den sanftesten Fluss der Sprache haben. Den Geist seines Herzens aber finden wir in seinen Essays, die voll Erfahrung sind und auch voller Entdeckungen, die wir noch einmal zu unserem Nutzen gebrauchen können.“ Mit dieser Aussage stimmen auch spätere Stimmen im Kern überein, Neuausgaben betrafen fast nur die Essays.

In seiner Gedenkrede Anfang 1926 bot Eloesser noch eine Anekdote: „Vor über zehn Jahren hatte ich eine rührende Begegnung: ich lernte auf einer Eisenbahnfahrt ein junges Paar kennen, das seine knapp bemessene Hochzeitsreise hauptsächlich dazu benutzte, um zu Moritz Heimann eine Wallfahrt zu unternehmen“. Und weiter: „Man lese seine Essays, die ihre Wirkung kaum angefangen haben, und man wird einen höchst verantwortlichen, einen in Güte Besorgten finden, … Moritz Heimann war Aktivist, bevor dieser Name erfunden wurde“. Eloesser kennt auch das Mitgefühl des auswählen Müssendem: „Kein Mensch hat wohl so viel Gedrucktes gelesen, kein Mensch hat vor allem so viel Ungedrucktes lesen müssen.“ Das Schicksal des Lektors, mehr noch, des Cheflektors über viele Jahre, dem letztlich Entscheidungen oblagen. „Heimann war ein Seelsorger, er war auch ein listiger Seelenfischer. … Niemand von uns, wieviel er auch von ihm gelernt haben mag, wird sich einbilden dürfen, dass er ihn auswendig gelernt habe. … Moritz Heimann gehört zu den Geistern, die ihre Stimme behalten.“ Das liest sich knapp hundert Jahre später eher wie ein Wunsch denn als sichere Überzeugung. Ich schließe mich dem Wunsch an.


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