Torsten Unger und Goethes Kritiker

Warnhinweis als Ersatz für eine Packungsbeilage: Meine Rede geht nachfolgend nicht über das Buch „Fürstenknecht und Idiotenreptil. Goethes Kritiker“ aus dem Erfurter Sutton-Verlag, weil ich das Buch nicht kenne. Ich werde, nachdem ich knapp anderthalb Stunden Lesung und Referat aus dem Buch im Ilmenauer GoetheStadtMuseum geduldig anhörte, das Buch auch mit ziemlicher Sicherheit weder erwerben noch lesen. Sein Anteil dessen, was ich schon wusste, halten zu Gnaden, ist mir zu hoch, was nicht gegen das Buch spricht, gegen mich freilich auch nicht. Die Behauptung des Autors, erstaunt festgestellt zu haben, dass es ein solches Buch noch nicht gibt in all der Goethe-Literatur, stimmt und stimmt nicht. Wer je aus diesen oder jenen Gründen meinte, sich zum Goethe-Kritiker im Sinne eines herabsetzenden kritisches Umgangs auf- beziehungsweise niederschwingen zu müssen, hat sich nach Vorgängern umgeschaut, schon aus Gründen der Legitimation wie auch der Suche nach Bundesgenossen. Und das ist vielfach und leicht nachlesbar.

Eine Versammlung von zitierten und kommentierten Stimmen also kann nach menschlichem Ermessen im Jahr 2012 und später, so lange gibt es das Buch von Unger, nichts entdecken, was nicht längst entdeckt wurde. Dass Journalisten die Eigenschaft haben, ihre Entdeckungen für Urphänomene (fast im Sinne Goethes) zu halten, ist eine mir sehr bekannte Berufskrankheit, die selbst im Lokalen ihre Stammleser nie verschont. Jeder neu zu einer Redaktion stoßende Schreiber entdeckt, was vor ihm schon sieben in eben dieser Redaktion entdeckt hatten und schreibt es dann auf. Wehe der Leserschaft, die nicht durch wissende Altredakteure davor bewahrt wird, alle drei Jahre Reprisen längst bekannter Überraschungen lesen zu müssen. Chefredaktionen, die das Rotationsprinzip für eine tolle Einrichtung halten, provozieren in allen Lokalredaktionen, über die sie sich erheben, und wo rotiert wird, die Wiederholung nicht als Mutter, sondern als Urgroßmutter der Porzellankiste. Was alles keineswegs gegen Torsten Unger gesprochen sein soll. Denn, und nun kommt das zerknirschte Kritiker-Bekenntnis, jedes halbwegs normale Buch wird ja nicht für Kritiker geschrieben, die stets so tun, als wüssten sie längst alles, einige wissen es auch tatsächlich gar nicht so selten, sondern für Leser, die im idealen Falle neugierig auf etwas sind, was sie vorher noch nicht wussten. Wir reden von Sachbüchern.

Die Idee, in ein Buch über Goethes Kritiker den Vater des Goethe und den Goethe selbst einzubeziehen, soll ruhig und ohne Abstrich als originell bezeichnet werden. Die Idee, jene Berserker unter den Kritikern Goethes, die eher Unflat verbalisierten als Kritik trieben, in seltsamer Anlehnung an ein übel beleumundetes Verfahrensbeispiel von Goethe selbst, mehr oder minder variationslos als krank vorzustellen, ist deutlich weniger originell, sie ist, sagen wir es kurz, ärgerlich. Unger, der es lustig wohl findet, die Frühromantiker aus Jena und Umgebung als eine Art „Grüne“ zu bezeichnen, was den Grünen zu viel Ehre antut, könnte man meinen, meinte, die Urteile des Friedrich von Hardenberg, bekannt als Novalis, erklären zu müssen mit dem nun wahrhaft berüchtigten Goethe-Zitat aus den Eckermann-Gesprächen, demzufolge das Romantische das Kranke und das Klassische das Gesunde sei. Mit diesem Diktum ist so grauenhaft viel Schindluder getrieben worden, um es freundlich zu formulieren, dass allein deshalb an sich nette Menschen zu Goethe-Gegnern bis Goethe-Hassern wurden. Da kann man nicht so drüberhin reden, nein, das geht nicht, auch nicht in einem musealen Plauderstündchen.

Ich bezweifle ernsthaft die locker-flockige Behauptung, Novalis, ein höchst kluger Mann, der übrigens als fast einziger Frühromantiker ein abgeschlossenes Studium in einem anderen als geisteswissenschaftlichen Fach vorweisen konnte und auch die Neigung zu einem ordentlichen Brotberuf hatte, sei vielleicht ein Opfer der Klassik geworden, indem er sich bei Schiller, den er pflegte, mit Tuberkulose ansteckte. Einmal abgesehen von Schillers angeblicher Tuberkulose, auch hier gibt es solide Literaturberge diagnostischer Observanz, mit der Pflege war das nicht so weit her  und es bliebe immer die Frage, warum sich niemand sonst ansteckte, der viel näheren Umgang hatte, aber das wäre schon pingelig und nicht für einfach nur neugierige Leser. Zwischen Novalis und Goethe stand vor allem das Geburtsdatum, damit die Generation und erst dann die spezifische Literaturtheorie. Wer je sich mit Romantik mehr befasste, weiß, dass man tunlichst nicht in der deutschen Romantik den alleinigen Maßstab dessen sehen sollte, was Romantik im Kern ist. Mehr dazu nicht.

Karl August Böttiger, einer, dem ein Streiflicht im Vortrag galt, ist eigentlich rehabilitiert. Nicht in dem Sinne, dass alles für Unsinn erklärt ist, was bis dato über ihn mit viel Absicht in Umlauf gebracht wurde, wohl aber in dem Sinne, das man tunlichst die Finger lassen sollte von Lesarten, die Bücher und Schriften wegen charakterlich-moralischer Eigenschaften ihrer Verfasser der Verdammung anheim geben. Dass Klatsch und Tratsch gerade über Prominente gern und lieber als anderes gelesen wird, belegt ja Ungers Buch selbst offenbar schlagend, warum sonst wird auf die Verkaufbarkeit einer Sottisensammlung gesetzt. Auf andere Weise hat das erfolgreich vor nicht vielen Jahren Tilman Jens versucht, der SPIEGEL macht es bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Insofern ist Ungers mündliche Charakterisierung Böttigers als Mann, der heute den Boulevard beliefern würde, nur insofern richtig, als der SPIEGEL als Boulevard für die nur vermeintlich gehobenen Ansprüche einbezogen bleibt. Oder muss ein Nachrichtenmagazin sich über Koitus-Vollzüge eines Klassikers verbreiten, wie anlässlich Schillers ja nachlesbar geschehen?

Dass man über Heines Kritik an Goethe mehr sagen kann und muss, als im Museum in der zeitlichen Beschränkung geschah, soll festgehalten sein und ich sage es nicht, weil ich selbst über „Heines Goethe“ mehrfach Vorträge, auch in Ilmenau, gehalten habe, das wäre zu billig. Mich störte die bei Gelegenheit Heines und bei einigen mehr in dieser Buchlesung zum Ausdruck gebrachte Verwunderung darüber, wie eben bei Heine und anderen, Egon Friedell sei genannt, am Ende kam fast als Zugabe noch Reich-Ranicki, Bewunderung und Kritik nebeneinander stehen oder stehen können. Wo, wenn nicht an Goethe, wäre exemplarisch auszusagen, dass Bewunderung ohne Kritik wie auch Kritik ohne Bewunderung jeweils ihren Gegenstand verfehlen? Die Goethe-Verehrung, die meint, den „Verewigten“ von Schmutz sauberhalten zu müssen, und Schmutz ist alles, was nicht Hallelujah singt, ist antiquierter als der antiquierteste Goethe-Hasser. Heines Besuch bei Goethe, Kleists Beschädigung durch Goethes missratene Inszenierung des „Zerbrochnen Krug“, das alles ist doch nun wirklich nicht mit einem halben Satz als hinreichender Erklär-Grund zu nehmen.

Torsten Unger hat, das war sehr wohltuend, zu Egon Friedell wie auch zu Madame de Stael ganz ausdrücklich betont, dass ihre Bücher sehr lesbar seien und empfehlenswert ohne Abstrich. Das unterstreiche ich dreimal, bei Bedarf auch siebenmal. Friedell ist ein Weltwunder, man kann ganze Bibliotheken aus dem Fenster werfen, ihn aber muss man unbedingt behalten. Und der geringste aller Gründe dafür wäre seine gemeinsam mit Alfred Polgar verzapfte herrliche Groteske „Goethe“, zu DDR-Zeiten übrigens in der im Eulenspiegel-Verlag 1983 erschienenen Friedell-Sammlung „Der verkleidete Dichter“ gedruckt. Zu Jules Barbey d'Aurevilly und Jakob Haringer mit ihren Überfällen auf Goethe muss man nicht viel sagen oder schreiben, wer davon zum ersten Male hört, darf sich seine etwas arg verspätete Empörung gönnen, beide Autoren wären fast bösartig verkürzend charakterisiert, würde man sie auf ihre Anti-Goethe-Pamphlete reduzieren. Bei Goethe selbst ist dies Verfahren mach- und denkbar und niemand würde es lustig finden, ihn als Pornographen behandelt zu sehen, der er eben auch war, nur in den unendlich vielen Bänden verborgen, die er hinterließ.

Es ist ärgerlich, wenn dem Franzosen unterstellt wird, er könnte nicht zählen, weil er nach der Lektüre der vierzigbändigen Goethe-Ausgabe von zehn Bänden spricht, und nicht wenigstens zu erwägen, das könnte eine Aussage über die Menge des Bedeutenden von Goethe im Umfeld von 75 Prozent Unbedeutendem gewesen sein. Drei Novellen des Franzosen gönnte der Insel-Verlag einst unter dem Titel „Der rote Vorhang“ DDR-Lesern, so schlecht war das nicht, obwohl sonst bekanntlich alles schlecht war. Auch hier bleibt für mich der Hinweis darauf, dass Barbey d'Aurevilly vielleicht hauptsächlich als Konkurrent von Charles-Augustin Saint-Beuve, der Goethe sehr mochte, gegen Goethe schrieb, bei aller Berechtigung fragwürdig. Denn über den Inhalt der Urteile ist in dem einen wie dem anderen Falle damit ja nichts gesagt. Sainte-Beuve hat übrigens in Paris ein sehr eindrucksvolles Grabdenkmal, Säule mit Kopf oben, wenn ich mich recht erinnere. Der in Dresden geborene Schweizer Jakob Haringer wäre ebenso ein Sonderthema wie Thomas Bernhard. Wollte Torsten Unger tatsächlich mit seinen sich wiederholenden Hinweisen auf Krankheiten der Goethe-Kritiker den Gedanken nahelegen, man müsse gesund sein, um mit Goethe „richtig“ umgehen zu können. Vermutlich nicht. Dennoch klang es so.

Mit den im Schnelldurchlauf angebotenen Beispielen, wo Goethe sich selbst kritisch sah, belegte der Buchautor und Rundfunkjournalist Unger unschwer erkennbar genau das Gegenteil. Denn es waren durchweg periphere Bereiche des Goethe-Schaffens, wo er sich auch einmal selbstkritisch zu sehen vermochte, im Hauptgeschäft war er, das ist nur wirklich kein Geheimnis, mimosenhaft empfindlich, nachtragend wie die berühmten alten Elefanten. Wo er sich selbst dadurch kritisierte, dass er etwa frühe Fassungen von „Faust“, von „Werther“, vom „Wilhelm Meister“ liegen ließ oder in wichtigen Punkten umschrieb, belegte er ja nur den Abstand, den er von seinem eigenen frühen Ich gewonnen hat, oder den er sich aufzwang. Die wiederholten Großverbrennungen an Briefschaften und anderen Lebensdokumenten, die wir heute teilweise unendlich bedauern, weil sie uns zu Spekulationen zwingen, wo wir gern wissen würden, wären auch als Selbstkritik zu deuten. Eine freilich, die gegen Goethe spräche.


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