Goethe 1815

In meinem Vortrag „Goethe und Marianne – Hoffnungen und ein Abschied“ am 16. April diesen Jahres habe ich das Jahr 1815 in Goethes Leben sein „Mariannen-Jahr“ genannt. Dafür gibt es viele und gute Gründe. Dass Goethe selbst den Namen in den „Tag- und Jahresheften“ nicht erwähnt, spricht eher dafür als dagegen. Er erwähnt auch nicht, dass sein Sohn August 1815 zum „Kammerrat“ ernannt wurde. Dafür finden wir ganze Reihen von Namen, die alle einzeln nachgeschlagen werden müssten, denn sie sind vollständig vergessen und wohl fast ausnahmslos auch wirklich alle nur im Lebenszusammenhang Goethes von einiger Bedeutung. Immerhin lässt sich ablesen, dass der Meister viel Wert darauf legte, Menschen zu begegnen, die ihm einen Gewinn eintrugen, Gewinn an Einsichten, an Wissen und Kenntnissen, nicht zuletzt an Anschauung. Der Augenmensch Goethe, dem das Schauen, das Anschauen mehr vermittelte, als den meisten anderen Menschen je ein mühsam-mühseliges Durchdringen, war ein dankbar Aufnehmender. Die nach 1814 zweite Reise an Rhein, Main und Neckar, mit Erwartungen aufgeladen in ganz anderer Weise als die erste Rückkehr in die alte Heimat, entfesselte in ihm eine Produktivität, wie sie in Umfang und Substanz für seinen Lebenslauf einmalig ist.

Während 1814 das Jahr der Entscheidung gegen Böhmen war, von 1813 bis 1818 mussten volle fünf Jahre vergehen, eher Goethe wieder in Karlsbad und Umgebung erschien, hatte 1815 das klare Ziel der Wiederkehr zu „Kunst und Altertum am Rhein und Main“, wie er die umfängliche Schrift betitelte, aus der danach sogar eine eigene Zeitschrift erwuchs und in der er die Reise in erstaunlicher Ausführlichkeit resümierte. Er unterbrach dafür sogar seine Arbeit an der „Sizilianischen Reise“, im Druck fällt alles jedoch erst ins Jahr 1816. Während er selbst in eigener Kutsche und mit Diener Stadelmann vom 24. Mai bis zum 11. Oktober unterwegs war, reiste Gattin Christiane, deren Gesundheitszustand sich deutlich verschlechtert hatte, sie war zu medizinischen Behandlungszwecken bereits vom zweiten bis dreizehnten März in Jena gewesen, am 4. Juni in Richtung Böhmen, wo sie sich gut auskannte und bis August blieb. Es bleibt Johannes Urzidils Geheimnis, warum er in seinem verdienstvoll-lesbaren Buch „Goethe in Böhmen“, die Lücke zwischen 1813 und 1818 kurz reflektierend, den langen Aufenthalt Christianes mit keinem Wort erwähnt. Doch auch dem Christiane-Biographen Eckart Kleßmann reicht die Aussage, dass Goethe seine kranke Frau für zwei Monate nach Karlsbad schickte, Details schenkt er sich.

Überliefert sind immerhin zehn Briefe Christianes an Goethe aus diesem Jahr 1815, es sind (für alle, die gern nachlesen) die Nummern 577, 578, 580, 582, 586, 588, 590, 592, 594 und 596 des überlieferten Ehebriefwechsels, wie ihn Hans Gerhard Gräf gesammelt hat, drei davon stammen aus Karlsbad. Am 11. April ging die Nachricht an Goethe: „Ich liebe Dich sehr. Hier bin ich aber wie ein Vogel so vergnügt. Dein treuer Schatz.“ Als Goethe sicher sein durfte, dass Christiane halbwegs wieder auf den Beinen und bei gute Laune war, verabschiedete er sich in Richtung Wiesbaden, am 24. Mai notierte er in Eisenach für sie die Fahrtroute und: „Daß mich unterwegs sogleich die guten Geister des Orients besucht und mancherlei Gutes eingegeben, wovon vieles auf das Papier gebracht wurde.“ Ob Christiane diesen Worten zu entnehmen wusste, dass es sich um gleich eine ganze Reihe von „Divan“-Gedichten handelte, darf nicht als sicher gelten. Sicher dürfte dagegen sein, dass ein liebes Wort nur für sie etwa in der Art, mit der sie fast jeden Brief an ihn beschloss, ihr lieber gewesen wäre als dies: „Nahe bei Gotha, gegen Eisenach, finden sich auf den Chausseehaufen viele Ammonshörner und Pektiniten, aus einem schwachen Steinlager.“ Goethes geologische Leidenschaft grenzte bisweilen an Suchtgebaren, man kennt sein irrtümlich entzücktes Verhalten angesichts eines vertrockneten Kommissbrotes während der Campagne in Frankreich, dem er mit dem Hämmerchen zuleibe rückte.

Was Christiane seinen Briefen nicht ansatzweise entnehmen konnte, war die rasante und merkwürdige Entwicklung seines Verhältnisses zu Marianne von Willemer. Sie, seine Suleika, war, darf man wohl sagen, ein Hauptinhalt seiner Wochen in Frankfurt am Main, nach diesen Tagen vom 12. August bis zum 18. September 1815 sah Goethe seine Geburtsstadt nie wieder. Er hatte sie gemieden, als seine Mutter starb, er hatte die Regelung der Nachlassangelegenheiten seiner Christiane überlassen und nun war er Gast im Stadthaus der Willemers und in deren Gerbermühle. Als er gegen Ende September nach Heidelberg reiste, folgten ihm Willemers noch einmal und danach sah Goethe auch seine Marianne nie mehr, blieb jedoch mit ihr in Verbindung. Man könnte dies 1815 also auch als ein Abschiedsjahr bezeichnen, gäbe es solche für den älter werdenden Goethe nun nicht immer öfter, das folgende trennte ihn von Christiane, die am 6. Juni 1816 qualvoll starb. Vorerst aber gab es diesen unfassbaren Ausbruch an Kreativität, diese explosive Produktivität, die er im Verbunde mit anderem seine „Verjüngung“ nannte, man kann fast sagen, das Goethe-Gedicht sei unter seinen Händen im beflügelnden Austausch mit Marianne etwas ganz Neues geworden. Dies böte und bot Stoff für ganze Bücher, muss deshalb hier Behauptung bleiben.

Zum Jahr 1815 ordnet sich ein kleiner Text unter eben diesem Titel, mit dem Untertitel „Theater“ versehen. Wir lesen: „Von der ideellen Seite steht das Theater sehr hoch, so daß ihm fast nichts was der Mensch durch Genie, Geist, Talent, Technik und Übung hervorbringt, gleichgestellt werden kann.“ Goethe hat hier auch Anforderungen an Theaterkritik formuliert, von denen er sofort weiß, dass sie schwerlich zu erfüllen sind, immerhin: „Und darin bestünde eigentlich alle wahre Theaterkritik, daß man das Steigen und Sinken einer Bühne im ganzen und einzelnen beachtete, wozu freilich eine große Übersicht aller Erfordernisse gehört, die sich selten findet und bei der Mannigfaltigkeit der Einwirkungen und Veränderungen, die das empirische Theater erleidet, für den Augenblick, der immer bestochen ist, für die Vergangenheit, deren Eindruck sich abstumpft, fast unmöglich wird.“ Man könnte lange darüber meditieren, inwiefern der Augenblick im Theater immer bestochen ist, man könnte auch nassforsch, allerdings ausdrücklich nicht auf Goethe selbst bezogen, fragen, wie wichtig für die Betrachtung des Steigens und Sinkens die Kenntnis anderer als nur der eigenen Bühne wäre. Wer nie wirkliche Gipfel sah, hält auch in einer Theaterlandschaft einen Maulwurfshügel bisweilen schon für ein Gebirge. Immerhin verweist Goethe auf diesen anderthalb Druckseiten auch auf die Einwirkung Schillers, ohne die der Rang Weimars sich anders darstellen würde. Und nennt in den „Tag- und Jahresheften“ den neu gewonnenen Dekorateur Friedrich Christian Beuther (1777 – 1856), der mit seinen perspektivischen Bühnenbildern dem Haus neue Möglichkeiten erschloss.

Am 22. April 1815 gratulierte Goethe sehr förmlich seinem Landesherrn und Freund zum neu zu führenden Titel „Königliche Hoheit“. Das im Ergebnis des Wiener Kongresses gewachsene Großherzogtum erlebte etwas wie eine kleine Strukturreform, das bisherige „Geheime Consilium“ wurde zum „Großherzoglichen Staatsministerium“, dem Goethe nicht mehr angehörte. Den Titel Staatsminister freilich brauchte er nicht zu entbehren, am 12. Dezember 1815 wurde er zu einem solchen ernannt. Dass er nur eine Woche später sein Amt, dem die „Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst in Weimar und Jena“ oblag, um eine personelle Ausstattung bat, die heute wohl einen Medienskandal auslösen würde, ist eine Episode zum Finale des Jahres. Goethe erbat sich seinen Sohn August als Mitarbeiter, Friedrich Theodor Kräuter als Sekretär sowie Johann August Friedrich John als Schreiber. Man sah offenbar, was heute Vetternwirtschaft heißen würde, in Duodezfürstentümern noch nicht als problematisch an. Wobei sich Goethe-Biographen einig sind, dass die übergroße Vorsorge des Vaters für seinen Sohn August letztlich daran gehindert hat, eine selb- und eigenständige Persönlichkeit zu werden. Goethe stellte in dieser wie manch anderer Sache seine eigenen Interessen umstandslos über die des Sohnes.

Dass Goethe am 26. Juli 1815 in Köln mit dem Freiherrn von Stein auch Ernst Moritz Arndt traf, ist zwar überall nachzulesen, es findet jedoch keinen Niederschlag in den „Tag- und Jahresheften“. Der Name fehlt ebenfalls in den Tagebüchern, im Brief an Sulpiz Boisserée vom 1. August 1815, der knapp die letzten Juli-Tage referiert, auch. Einen irgendwie nennenswerten Eindruck scheint Arndt also nicht auf Goethe gemacht zu haben. Als Argument für die Ablegung des Namens der Universität Greifswald ist Goethes Schweigen sicher nicht zu nehmen, Arndts Antisemitismus hat erst sehr viel spätere Generationen intensiv beschäftigt. Was im Tagebuch nicht fehlt, kurz nach Goethes Heimkehr von seiner langen Reise, ist am 15. Oktober 1815 die „Unruhe des Zwiebelmarktes“. Immerhin gelang es ihm, einen Brief an Jakob Andreas Conrad Levezow zu verfassen (3. September 1770 bis 13. Oktober 1835). Levezow, klassischer Archäologe und Prähistoriker, verfasste im Nebenberuf Bühnenstücke und hat ein Vorwort zu „Des Epimenides Erwachen“ geschrieben, Goethes Festspiel, das am Berliner Opernhaus uraufgeführt wurde. Und was macht ein Goethe am 24. Dezember, Heiligabend? „Blieb für mich und redigierte ältere Gedichte“. Noch war Sohn August unverheiratet, Enkel nicht in Sicht.

Goethes letzter Ehebrief des Jahres 1815 entstand an jenen beiden Septembertagen in Heidelberg, da er Marianne von Willemer zum letzten Male sah. Er schrieb unter anderem: „Überall find ich nur Gutes und Liebes; bin überall willkommen, weil ich die Menschen lasse, wie sie sind, niemanden etwas nehme, sondern nur empfange und gebe. Wenn man zu Hause den Menschen so vieles nachsähe, als man auswärts thut, man könnte einen Himmel um sich verbreiten; freilich ist auf der Reise alles vorübergehend und das Druckende läßt sich ausweichen.“ Es darf als sicher gelten, dass Christiane nicht ahnte, was für verborgene Botschaften diese Sätze mit sich trugen. Am 11. Oktober 1815 langte er nach beinahe fünf Monaten Abwesenheit wieder in Weimar an, die letzte Zwischenstation zuvor hieß Gotha. Auch dort ein Abschied, der ihm als solcher wohl kaum bewusst wurde: Die Nacht vom 10. Oktober zum 11. Oktober war die letzte, die Goethe in Gotha verbrachte. „Nur wenige Stunden Schlaf sind ihm vergönnt.“ Lesen wir in Sigrid Damms „Goethes Freunde in Gotha und Weimar“. Und dazu: „In Weimar findet er seine Frau in einem bedrohlichen Zustand; sie hat offenbar mehrere Schlaganfälle erlitten. Er schickt sie in ärztliche Obhut nach Jena.“ Goethe überliefert in seinen „Tag- und Jahresheften“ für 1815 eine einzige eigene Formulierung aus einem Gespräch. Es war, wenig überraschend, ein Gespräch mit einer hochgestellten Persönlichkeit, mit Erzherzog Karl: „... ich machte die Bemerkung, daß eine gute Militärkarte zu geognostischen Zwecken die allerdienlichste sei.“ Dem soll nichts hinzugefügt werden.


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