Shakespeare in "Dichtung und Wahrheit"

Dass „Dichtung und Wahrheit“ vor allem Dichtung ist, hat sich im Laufe der Jahre herumgesprochen. Dichtung natürlich voller Wahrheiten, voller Wahrheit in mancher Hinsicht auch. Zuverlässige Quelle zum Leben des jungen Goethe aber ist das Werk nur in einer einzigen Hinsicht. Es dokumentiert, wie der alte Goethe rückblickend sein Leben gesehen haben wollte, es entwickelt die Jahre bis zur Abreise nach Weimar unter dem Gesichtswinkel schließlicher Folgerichtigkeit zum Repräsentanten Goethe. Dessen exemplarisches Leben nun auch Goethes Auffassung von Leben zu verkörpern hatte. Es ist weithin bekannt, wie radikal Goethe mehrfach in seinem langen Leben Zeugnisse vernichtete, er nutzte dafür den auffälligen Begriff des Autodafé, der sonst eher für eine bestimmte Strafpraxis der Inquisition steht. Den Flammen fiel unendlich viel zum Opfer, was alle Goethefreunde liebend gern erhalten gewusst hätten. Bei der Arbeit an seiner Autobiographie musste er nicht zuletzt deshalb schließlich sogar Hilfsquellen erschließen, deren Zuverlässigkeit mangels verbliebener Dokumente nie mehr überprüft werden kann. Hier sei als Beispiel Bettine genannt, die aus langen Gesprächen mit Goethes Mutter Informationen gewann und wiederum Jahre später erst an Goethe weiter gab, die zu unbestimmbaren Teilen sicher mehr Mutterliebe als tatsächliche Fakten enthielten.

Wer sich über beliebige Themen und Gegenstände der frühen Goethejahre ein Bild machen will, darf freilich nicht mutwillig ins Gegenextrem zu jener jahrzehntelangen Gewohnheit des professoralen wie bildungsbürgerlichen Goetheanertums verfallen, die „Dichtung und Wahrheit“ wie Offenbarung behandelte, sich und anderen jegliche Gegenrecherche, alles Nachfragen verbot. Unendlich verdienstvolle Männer, stellvertretend sei hier Heinrich Düntzer (1813 – 1901) genannt, gingen so weit, sogar offenbare Tatsachen zu leugnen, wenn diese scheinbar dem Image ihres Helden schadeten. Für den hier zur Rede stehenden Gegenstand etwa den Einfluss Herders auf Goethes Shakespeare-Bild. Es wäre töricht, den Äußerungen des späten Goethe über sein Verhältnis zu Shakespeare, wie sie vor allem im elften, dreizehnten und fünfzehnten Buch zu finden sind, mit vorsätzlichem Zweifel zu begegnen, auch die knappen Stellen im siebenten und achten Buch verdienen ebenso volle Aufmerksamkeit. Immer aber muss dabei das Wissen im Hinterkopf gehalten werden, dass Goethe auf eigene Quellen in vielen wichtigen Details eben nicht mehr zurückgreifen konnte. Und sich einfühlend auch nicht mehr in seine eigene Jugend versetzen wollte. Zu viele Korrekturen hätte er da korrigieren müssen.

Der Name Shakespeares erscheint zuerst im siebenten Buch, wo Goethe das Verdienst Wielands gegen Angriffe der Berliner Spätaufklärung verteidigt, wie sie in Friedrich Nicolais Zeitschrift „Allgemeine deutsche Bibliothek“ vorgetragen wurden, sie erschien immerhin mehr als vierzig Jahre lang zwischen 1765 und 1806, kein einziges Projekt der Klassiker kam auch nur in die Nähe solcher Lebenszeit. Hier wie anderen Ortes von anderen wird zum negativen Nicolai-Bild beigetragen, das sich bis in die Gegenwart nie wieder ganz verloren hat. Mehr als „verdienstlich“ nennt Goethe allerdings die Leistung Wielands selbst nicht. Er war mit seinen Englischkenntnissen in frühen Jahren auch mit Sicherheit nicht in der Lage, Übersetzerqualitäten angemessen erkennen zu können. Ihm ging es, das verrät die Stelle, mehr um den Geschmack der Jugend, den Nicolai zweifellos nicht mehr bediente. Es war ihm wohl auch kaum daran gelegen, Leitstern für Leute zu sein, die einen „Werther“ schrieben, sich wie Werther kleideten und den Dichter verehrten wie Backfische einen Popstar.

Im achten Buch taucht Shakespeares Name im Zusammenhang mit Adam Friedrich Oeser auf (1717 – 1799). Mit ihm (und seiner Tochter) hatte Goethe in Leipzig zu tun, es darf als sicher gelten, dass die Deutung des von Oeser gemalten Theatervorhanges Sichten rückprojiziert, die späteren Jahren, den Straßburgern nämlich, entstammen. Eine Figur einer allegorischen Gruppe solle, so Goethe, „Shakespeare bedeuten, der ohne Vorgänger und Nachfolger, ohne sich um die Muster zu bekümmern, auf seine eigne Hand der Unsterblichkeit entgegengehe.“ Dies ist Sturm-und-Drang-Shakespeare, euphorisch missdeutet, denn Vorgänger und Muster von und für Shakespeare hat Goethe später selbst bisweilen ins Feld geführt. In den schon genannten späteren Büchern der Autobiographie machen Goethes eigene Aussagen über seinen realen Kenntnisstand in Sachen Shakespeare es unwahrscheinlich, das ihm als Zeichenlehrling bei Oeser solche Bilder und Gedanken aufgingen. Was keineswegs gegen Goethe spricht. Der war bekanntlich 16 Jahre alt, als er in Leipzig eintraf. Anna Katharina Schönkopf (1746 – 1810), das Käthchen und Freund Ernst Wolfgang Behrisch (1738 – 1809) haben ihn zweifellos mit mehr Beschlag belegt als ausgerechnet Shakespeare.

Im elften, bei Goethe „eilften“, Buch wird es dann substanzhaltig. Es ist die Straßburger Zeit, um die es geht und Goethe tut etwas, was er in der Straßburger Zeit selbst wohl nie getan hätte, er ordnet sein Verhalten ein und bewertet es in größerem Zusammenhang. Er kommt nicht gleich auf Shakespeare, sondern erst, als er antifranzösische Befindlichkeiten benannt hat: „So waren wir denn an der Grenze von Frankreich alles französischen Wesens auf einmal bar und ledig. Ihre Lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre Dichtung kalt, ihre Kritik vernichtend, ihre Philosophie abstrus und doch unzugänglich, so daß wir auf dem Punkte standen, uns der rohen Natur wenigstens versuchsweise hinzugeben, wenn uns nicht ein anderer Einfluß schon seit langer Zeit zu höheren, freieren und ebenso wahren als dichterischen Weltansichten und Geistesgenüssen vorbereitet und uns erst heimlich und mäßig, dann aber immer offenbarer und gewaltiger beherrscht hätte.“ Was rückblickend nicht weniger besagt als: Es hätte auch anders kommen können.

Der sich unmittelbar anschließende Passus sei komplett zitiert: „Ich brauche kaum zu sagen, daß hier Shakespeare gemeint sei, und nachdem ich dieses ausgesprochen, bedarf es keiner weiteren Ausführung. Shakespeare ist von den Deutschen mehr als von allen anderen Nationen, ja vielleicht mehr als von seiner eigenen erkannt. Wir haben ihm alle Gerechtigkeit, Billigkeit und Schonung, die wir uns untereinander selbst versagen, reichlich zugewendet; vorzügliche Männer beschäftigen sich, seine Geistesgaben im günstigsten Lichte zu zeigen, und ich habe jederzeit, was man zu seiner Ehre, zu seinen Gunsten, ja ihn zu entschuldigen gesagt, gern unterschrieben. Die Einwirkung dieses außerordentlichen Geistes auf mich ist früher dargestellt und über seine Arbeiten einiges versucht worden, welches Zustimmung gefunden hat; und so mag es hier aus dieser allgemeinen Erklärung genug sein, bis ich eine Nachlese von Betrachtungen über so große Verdienste, die ich an dieser Stelle einzuschalten in Versuchung geriet, Freunden, die mich hören mögen, mitzuteilen im Falle bin.“ Hier ist alles Spätzeit, alles Überblick und Sichtweise des alten Goethe, der sich auf Arbeiten bezieht, die erst im Alter entstanden, vor allem auf „Shakespeare und keine Ende“.

Man möchte sich seinen Satz über Shakespeare und die Deutschen hinter den Spiegel stecken, man möchte sich bei Prüfung der überlieferten Aussagen zu Shakespeare das kaum verhohlene Selbstlob immer in Erinnerung halten. Denn gerade die Vorzüglichkeit der Männer, die sich um Shakespeare und sein Bild bei den Deutschen bemühten, hat Goethe teilweise mit erheblicher Aggression in Frage gestellt. Denn, und das kann an dieser Stelle nur erwähnt werden, es waren ja Romantiker, die die fast kultische Shakespeare-Verehrung der Dekade des Sturm und Drang auf ihre Weise und mit ihren Erkenntnissen fortleben ließen, während sich Goethe sowohl von seiner eigenen Vergangenheit distanzierte als auch die ihm am nächsten bekannten Vertreter der Jenaer Romantik, nachdem diese ihm die weitere bedingungslose Gefolgschaft verweigerten, mit erstaunlicher Grämlichkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Visier nahm. Goethes Romantik-Aversion, so sehr sie in Teilen Selbsttäuschung war, hat weit über ein Jahrhundert hinaus Romantik-Rezeption behindert oder zu umgekehrter Einseitigkeit gezwungen.

Es ist bezeichnend, dass die Anmerkungen der zwölfbändigen Volksausgabe, die man in der DDR, nicht in der ehemaligen DDR, für ganze 60 Mark der Deutschen Demokratischen Republik kaufen konnte, zu dieser Passage von „Dichtung und Wahrheit“ lediglich auf das elfte Buch von „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ hinweisen sowie auf Goethes Rede zum Shakespeare-Tag 1771. Als könnte der „Meister“ einfach als authentisches Dokument für Goethes Shakespeare-Bild gesehen werden, obwohl doch mindestens der „Ur-Meister“, also „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“, vergleichend hinzuzuziehen wäre. Die feinen und gröberen Unterschiede in den einzelnen Kapiteln, die teilweise Entwicklungen erstaunlich klar dokumentieren, haben bis heute, so weit ich sehe, keine ausführliche Würdigung erfahren, obwohl die Redaktion, die Goethe an seiner eigenen Vorlage für die „Lehrjahre“ vornahm, eben nicht nur sprachlicher, stilistischer Natur war oder gar auf Erweiterungen und mehr Ausführlichkeit hinauslief.

„Gegenwärtig will ich nur die Art, wie ich mit ihm bekannt geworden, näher anzeigen. Es geschah ziemlich früh, in Leipzig, durch Dodds „Beauties of Shakespeare“. Was man auch gegen solche Sammlungen sagen kann, welche die Autoren zerstückelt mitteilen, sie bringen doch manche gute Wirkung hervor. Sind wir doch nicht immer so gefaßt und so geistreich, daß wir ein ganzes Werk nach seinem Wert in uns aufzunehmen vermöchten. Streichen wir nicht in einem Buche Stellen an, die sich unmittelbar auf uns beziehen? Junge Leute besonders, denen es an durchgreifender Bildung fehlt, werden von glänzenden Stellen gar löblich aufgeregt, und so erinnere ich mich noch als einer der schönsten Epochen meines Lebens derjenigen, welche gedachtes Werk bei mir bezeichnete. Jene herrlichen Eigenheiten, die großen Sprüche, die treffenden Schilderungen, die humoristischen Züge, alles traf mich einzeln und gewaltig.“ Auch dies ist später Goethe, späte Bewertung, die volle Distanz zu eigener und jeder Jugend. Goethe räumt hier, es sei festgehalten, dezent das damalige Fehlen eigener durchgreifender Bildung ein. Und verrät, dass es ihm vorrangig um die schönen Stellen ging.

Wer das dann in Beziehung bringt zu der berühmten Rede, die vermutlich nie tatsächlich vorgetragen wurde, wird an ihr sehen, warum sie ist, wie sie ist (siehe der gesonderte Beitrag zu ihr in diesem Band). Bis 1893 sind übrigens von dem erstmals 1752 auf deutsch erscheinenden Dodds-Buch nicht weniger als 39 Auflagen nachweisbar, wie im Shakespeare-Handbuch ausgeführt wird. William Dodds Sammelwerk bereitete, wenn wir Goethes Darstellung weiter folgen wollen, den Boden für Wieland und seine Übersetzung. „Nun erschien Wielands Übersetzung. Sie ward verschlungen, Freunden und Bekannten mitgeteilt und empfohlen. Wir Deutsche hatten den Vorteil, daß mehrere bedeutende Werke fremder Nationen auf eine leichte und heitere Weise zuerst herübergebracht wurden. Shakespeare, prosaisch übersetzt erst durch Wieland, dann durch Eschenburg, konnte als eine allgemein verständliche und jedem Leser gemäße Lektüre sich schnell verbreiten und große Wirkung hervorbringen.“ Dokumente des Verschlingens und Empfehlens aus dieser Zeit sind es beispielsweise, die man sehr gern lesen würde. Eschenburgs Übersetzungen hat Goethe später als Theaterdirektor und Inszenator noch immer nicht ganz vergessen.

Goethes hier anknüpfende Aussage zum Vorteil von Prosa-Übertragungen im Vergleich zu Versen gehört zu den plötzlich offenbar in ihm aufsteigenden Erinnerungen, die er nicht unterdrücken kann und will. Goethe weiß nun im Alter genau, das Verssprache auch blenden kann, Glanz sein kann, der Dürftigkeit überdeckt, ganze lyrische Goldschnitt-Bibliotheken des 19. Jahrhunderts geben ihm recht. Dennoch mag besonders dem Eschenburg und auch dem in vielen Details einfach verkniffenen Wieland bei Shakespeare heute niemand mehr folgen. Damals aber, in den jungen Jahren, Goethe sieht sich sicher selbst vor Augen, da hatten Verse eine Nebenwirkung, wenn er an Knaben erinnert, „denen ja doch alles zum Scherze dienen muß, sich am Schall der Worte, am Fall der Silben ergötzen und durch eine Art von parodistischem Mutwillen den tiefen Gehalt des edelsten Werks zerstören.“ Aus diesem Geist erwachsen bis heute die Parodien, die jeder Schüler besser behält als die Verse, die parodiert werden. Und die er schlimmen Falles sogar auswendig herzusagen hatte.

Sein Vorschlag, auch den Homer in Prosa zu übertragen, ist auf den ersten Blick einfach nur gut zu heißen. Hellhörig darf man werden, wenn er von mit dem Original wetteifernden Übersetzungen sagt, sie „dienen eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten untereinander.“ Daran hat sich bis heute wenig geändert, denn Gelehrte unterhalten sich am liebsten untereinander. Und weil sie jede Teilnahme an ihren Debatten ausschließen wollen, haben sie das Zitieren aus, wo irgend vorhanden, historisch-kritischen Ausgaben zur angeblichen Pflicht erhoben, sie weisen dann ihre Zitate nur noch mit Band- und Seitenangaben nach, damit niemand, aber auch wirklich niemand, tatsächlich prüfen kann, was sie behaupten. Wer aber hat beispielsweise nur die Weimarer Ausgabe bei der Hand, geschweige denn zusätzlich die anderen immer wechselweise zitierten, wer kann nachvollziehen, warum im einen Fall die eine, im anderen die andere angeblich maßgebende Ausgabe herangezogen wird. Wenn aber tatsächlich nur die Gelehrten untereinander Unterhaltung pflegen wollen, dann darf das Geld für Drucke gespart werden, man braucht nur einen kleinen Verteiler für PDF-Dateien (oder Moderneres). In prädigitalen Zeiten verschickte man so genannte Sonderdrucke an die verehrten Kollegen und behielt immer eine unangenehm große Menge davon fürs Altpapier zurück.

„Und so wirkte in unserer Straßburger Sozietät Shakespeare, übersetzt und im Original, stückweise und im ganzen, stellen- und auszugsweise, dergestalt, daß, wie man bibelfeste Männer hat, wir uns nach und nach in Shakespeare befestigten, die Tugenden und Mängel seiner Zeit, mit denen er uns bekannt macht, in unseren Gesprächen nachbildeten, an seinen Quibbles die größte Freude hatten und durch Übersetzung derselben, ja durch originalen Mutwillen mit ihm wetteiferten. Hiezu trug nicht wenig bei, daß ich ihn vor allen mit großem Enthusiasmus ergriffen hatte. Ein freudiges Bekennen, daß etwas Höheres über mir schwebe, war ansteckend für meine Freunde, die sich alle dieser Sinnesart hingaben. Wir leugneten die Möglichkeit nicht, solche Verdienste näher zu erkennen, sie zu begreifen, mit Einsicht zu beurteilen; aber dies behielten wir uns für spätere Epochen vor: gegenwärtig wollten wir nur freudig teilnehmen, lebendig nachbilden und bei so großem Genuß an dem Manne, der ihn uns gab, nicht forschen und mäkeln; vielmehr tat es uns wohl, ihn unbedingt zu verehren.“ Hörbar, wie Goethe sich hier selbst ausstellt. Und den Anschein erweckt, es sei bei allen um den ganzen Shakespeare gegangen. Tatsächlich scheint lediglich der „Hamlet“ vorgetragen worden zu sein, wie Detailforschungen auswiesen, was auch die lebenslange Fixierung Goethes vor allem immer wieder auf den „Hamlet“ gut erklären würde.

Es ist hoch interessant, dass Goethe direkt anknüpfend auf Herder und seinen Aufsatz „Shakespeare“ kommt. „Will jemand unmittelbar erfahren, was damals in dieser lebendigen Gesellschaft gedacht, gesprochen und verhandelt worden, der lese den Aufsatz Herders über Shakespeare in dem Hefte „Von deutscher Art und Kunst“, ferner Lenzens „Anmerkungen übers Theater“, denen eine Übersetzung von „Love's Labour's Lost“ hinzugefügt war. Herder dringt in das Tiefere von Shakespeares Wesen und stellt es herrlich dar; Lenz beträgt sich mehr bilderstürmerisch gegen die Herkömmlichkeiten des Theaters und will denn eben all und überall nach Shakespearescher Weise gehandelt haben.“ Zum Heft „Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter“ hat Goethe selbst den kürzesten Beitrag geliefert: „Von deutscher Baukunst“. Diese acht Seiten (in meinen bescheidenen Ausgabe des Leipziger Reclam-Verlages, folgen auf Herders knapp 21 Seiten. Dass diese 21 Seiten starken Einfluss auf den jungen Goethe verkörpern, bedarf keiner umständlichen Beweise, denn warum sollte Herder insgesamt das Straßburger Idol Goethes gewesen sein, in Sachen Shakespeare aber ausgerechnet nicht? Auch hier fällt die rein späte Sicht Goethes wieder dadurch auf, dass er den einstigen Bruder Lenz nur noch abfällig behandeln kann. Übrigens in einer Sprache und mit Worten, die Goethe sonst auf Frauen anwendet.

Der Exkurs zum einstigen Freund Lenz, den Goethe zuletzt in Weimar für immer verstieß, bietet eine wunderbare Gelegenheit, Straßburger Shakespeare-Verständnis des gesamten Kreises in seinen von Goethe im Alter als problematisch empfundenen Zügen an Lenz zu binden. „Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in einem Begriff zusammenfaßt. Niemand war vielleicht eben deswegen fähiger als er, die Ausschweifungen und Auswüchse des Shakespeareschen Genies zu empfinden und nachzubilden. Die obengedachte Übersetzung gibt ein Zeugnis davon. Er behandelt seinen Autor mit großer Freiheit, ist nichts weniger als knapp und treu, aber er weiß sich die Rüstung oder vielmehr die Possenjacke seines Vorgängers so gut anzupassen, sich seinen Gebärden so humoristisch gleichzustellen, daß er demjenigen, den solche Dinge anmuteten, gewiß Beifall abgewann. Die Absurditäten der Clowns machten besonders unsere ganze Glückseligkeit...“. Die klar negativen Zuweisungen in der Shakespeare-Beschreibung, die dem alten Goethe sehr wohl und sehr genau entsprechen, sind hier sprachlich präsent gemacht, wenn auch nicht ausdrücklich als damalig behauptet.

Im dreizehnten Buch der Selbstdarstellung geht es dann bereits um die Wirkungen, die Shakespeare auf Goethes eigenes Schaffen ausübte. Das ist ein Feld, in dem sich Forschung zum Verhältnis von Goethe und Shakespeare immer besonders gern bewegt hat, obwohl eine nachgewiesene Parallele noch nie den eindeutigen Beweis für einen tatsächlichen Einfluss ersetzen konnte. Immerhin, da es hier um Shakespeare in „Dichtung und Wahrheit“ geht, sollen Goethes eigene Aussagen natürlich Würdigung erfahren. „Durch die fortdauernde Teilnahme an Shakespeares Werken hatte ich mir den Geist so ausgeweitet, daß mir der enge Bühnenraum und die kurze, einer Vorstellung zugemessene Zeit keineswegs hinlänglich schienen, um etwas Bedeutendes vorzutragen.“ Shakespeare liefert, so die Behauptung, das Alibi für eine berauschte Missachtung des aristotelischen Drei-Einheiten-Dogmas. Von dem hier freilich gar keine Rede ist. Heraus kam der „Ur-Götz“, später der ganze unspielbare, monströse „Götz von Berlichingen“, der genau das verkörperte, was der alte Goethe eigentlich selbst an Shakespeare untragbar fand und zur Streichung freigab, sobald er selbst eine Inszenierung in Weimar zu verantworten hatte. Nur vorsichtig sei angemerkt, dass der Plural bei den Werken sehr wahrscheinlich ein beschönigender ist.

Goethe ironisiert nun sogar diese seine Jugendphase im scheinbar souveränen Rückblick auf den damaligen Umgang mit William Shakespeare: „Sonderbar genug bestärkte unser Vater und Lehrer Shakespeare, der so reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, selbst diesen Unwillen. Hamlet und seine Monologe blieben Gespenster, die durch alle jungen Gemüter ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wußte ein jeder auswendig und rezitierte sie gern, und jedermann glaubte, er dürfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist gesehn und keinen königlichen Vater zu rächen hatte.“ Das suggeriert, man habe sich dem Prinzen von Dänemark gegenüber benommen wie später die Goethe-Jünger dem Werther gegenüber. Dass es so war, ist wahrscheinlicher, als dass es nicht so wahr, denn es entspricht dem Habitus des Alters, von dem die Rede geht. Von Shakespeares reiner Heiterkeit ist sonst und später bei Goethe selten bis nie die Rede, man müsste alle Belegstellen noch einmal mit diesem Blickwinkel aufsuchen, hier aber geht es ja auch nicht um sie. Es verbleiben zwei Belegstellen, ehe der dargestellte Goethe in die Kutsche steigt, die ihn nach Weimar bringt.

Noch einmal kommt Goethe auf Wieland, dem er ja bald in „Götter, Helden und Wieland“ einen bösen Streich spielt, den Goethe selbst nicht annähernd so großherzig und tolerant verkraftet hätte wie der Angegriffene. „Die Verehrung Shakespeares ging bei uns bis zur Anbetung. Wieland hatte hingegen bei der entschiedenen Eigenheit, sich und seinen Lesern das Interesse zu verderben und den Enthusiasmus zu verkümmern, in den Noten zu seiner Übersetzung gar manches an dem großen Autor getadelt, und zwar auf eine Weise, die uns äußerst verdroß...“ Das dürfte authentischer sein als manch anderer Passus aus rein später Sicht, denn anbetende Verehrung kann alles hinnehmen, nur nicht eine auch nur ansatzweise Herabsetzung des Gegenstands der Anbetung. Aggression als Kehrseite von Anbetung entlädt sich umgehend, sobald sie einen geeigneten Gegenstand ausmacht, so funktioniert Selbstintegration von Gruppen, das Feindbild wird sogar gesucht oder konstruiert, um identitätsstiften Gruppendynamiken in Gang zu setzen. Der Straßburger Shakespeare-Fanblock war allerdings ein zu fragiles Gebilde für längeres Überleben.

Am Ende ist Shakespeare in „Dichtung und Wahrheit“ nur noch ein Feigenblatt für Goethes eigene Arbeitsweise. Ein freilich höchst edles Feigenblatt. Eigentlich das edelste, das sich denken lässt. Die zuvor behauptete Anbetung wird mit der letzten Passage im fünfzehnten Buch regelrecht ad absurdum geführt. Goethe spricht von seinem „Clavigo“: „Berechtigt durch unsern Altvater Shakespeare, nahm ich nicht einen Augenblick Anstand, die Hauptszene und die eigentlich theatralische Darstellung wörtlich zu übersetzen. Um zuletzt abzuschließen, entlehnt ich den Schluss einer englischen Ballade...“. War da wirklich einige Bücher vorher die Rede von einem Mann, das erneute Zitat sei verziehen, „der ohne Vorgänger und Nachfolger, ohne sich um die Muster zu bekümmern, auf seine eigne Hand der Unsterblichkeit entgegengehe“? Jetzt ist Shakespeare nur noch der unbedachte Kopist, der rasche Fabrikant, der freilich Goethe mit seinem „Clavigo“ in der Tat war. Ein Geheimnis das Goetheschen Shakespearebildes liegt damit offen.
Anmerkung: Geschrieben im März 2014 für ein Buch-Projekt, das leider nicht realisiert wurde.


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