Goethe 1820

Nur zweimal hat sich Goethe mehr Platz gegönnt für seinen Rückblick auf ein Kalenderjahr: 1801 und 1805: in Zahlen ausgedrückt, bedeutet das (Maßstab die dtv-Taschenbuch-Ausgabe der „Tag- und Jahreshefte“) 19 Druckseiten für 1801, 32 Druckseiten für 1805 und dann wieder 18 Seiten für 1820. Mehr als zehn Seiten für ein Jahr sind selten, weniger beinahe die Regel. Nun kann man sich natürlich fragen, was denn an diesem 1820 für den Siebzigjährigen so wichtig, so interessant, so mitteilenswert war. Liest man diese 18 Seiten, ist man nicht unbedingt klüger. Man erkennt das Schema, nach dem Goethe seine Notizen ordnete und wird, falls man den Alten ohnehin als einen sieht, der viel zu viel Zeit auf Dinge verwendete, die ihn vom Dichten abhielten, nicht zum letzten Male enttäuscht sein. Das eigene Schreiben kommt ganz hinten und fast nebenher. Wirklich wichtig scheint ihm das Sortieren von Steinen gewesen zu sein, das Betrachten seiner Grafik-Sammlungen. Nicht einmal der Umstand, dass zwei der bedeutendsten bildenden Künstler der Epoche ihn mit einer Büste verewigten, bewegt ihn übermäßig in der Rückschau, die Gespräche mit den Gästen aus Berlin waren ihm wichtiger. War 1820 für Goethe vielleicht das Jahr, da er eine schwarze Liste anlegte, obwohl Social Media noch gar nicht erfunden war, wo er seine gesammelten Gegner hätte schmähen können? Vielleicht wollte er sie nur auf einen Blick vor sich haben wie seine Wolken.

Als das Jahr beinahe zu Ende war, erreichte ihn das Buch eines jüngeren Autors, dem er umgehend viel Aufmerksamkeit widmete. Das Ereignis ist unter dem 12. Dezember 1820 im Tagebuch vermerkt. Das Buch, erschienen bei Orell Füssli in Zürich 1820, war geradezu noch druckfrisch, es trug den Titel „Salomon Landolt. Ein Charakterbild nach dem Leben ausgemalt“. Sein Verfasser hieß David Hess (29. November 1770 – 11. April 1843), man wird seines 250. Geburtstages vermutlich gedenken in seiner Heimat Schweiz. Auch wenn das repräsentative Prachtbuch „Große Schweizer und Schweizerinnen. Erbe als Auftrag. Hundert Porträts“, gedruckt als Beitrag zur 700-Jahrfeier der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1991, weder ein Porträt von Landolt noch eines von Hess enthält. Bei Goethe aber klingelten sofort alle Signalglöckchen seines Gedächtnisses: Den kannte ich, den habe ich sogar zweimal in meinem Leben höchstselbst getroffen: 1779 und, weniger wichtig und prägend, 1797, während meiner zweiten und dritten Schweiz-Reise. Da Goethe seine zweite Schweiz-Reise 1779 über weite Strecken gemeinsam mit seinem Herzog Karl August unternahm, galt der ihm nun natürlich auch als potentieller Interessent des neuen Buches, Goethe ließ es ihm zukommen, freilich erst zu Beginn des folgenden Jahres 1821. Da auch sein Dankbrief an David Hess vom 11. Januar 1821 datiert, findet man in der Literatur bisweilen falsche Zahlen.

So schreibt etwa Barbara Schnyder-Seidel in ihrem informativen und auch lesenswerten Buch „Goethes letzte Schweizer Reise“, Hess habe ihm sein Buch 1821 zugesandt, was angesichts des zitierten Tagebuch-Eintrags von Goethe schon hinfällig ist. Im März 1821 traf bei Goethe allerdings ein weiteres Buch von Hess ein, „Die Rose von Jericho“, das wiederum im Oktober 1823 in Goethes Gesprächen einmal eine, wenn auch nur beiläufige, Rolle spielte. Barbara Schnyder-Seidel wendet sich in ihrem Buch am Anfang des XIX. Kapitels Goethes Begegnungen mit Salomon Landolt zu. Sie schreibt, es sei ungewiss, ob Goethe 1779 Landolt bei Lavater oder bei Salomon Gessner in Zürich traf, das stützt sich auf Goethes Brief vom 15. Januar 1821 an den Großherzog. Und sie schreibt weiter: „Was wüssten wir noch von ihm, hätte Gottfried Keller den „Landvogt von Greifensee“ nicht geschrieben, durch ihn ist Landolt unsterblich geworden. Im ersten Teil spielt Goethes Bekanntenkreis aus dem Zürich von 1779 mit und wird so zur heiteren Ergänzung seiner Reiseberichte.“ Zur ergänzenden Lektüre verweise ich auf meinen nun fast zwei Jahre alten Text http://www.eckhard-ullrich.de/meine-schweiz/3406-gottfried-keller-der-landvogt-von-greifensee. Jetzt, 1820, hatte Goethe alles wieder lebhaft vor Augen und schrieb deshalb in die „Tag- und Jahreshefte“ immerhin einen ganzen Absatz über Landolt, den ich hier sehr gern komplett zitiere.

„Des Schweizer Hauptmann Landolts Biographie von Weiß, besonders mit einigen handschriftlichen Zusätzen, erneuerten Anschauung und Begriff des wundersamsten Menschenkindes, das vielleicht auch nur in der Schweiz geboren und groß werden konnte. Ich hatte den Mann im Jahre 1779 persönlich kennengelernt, und als Liebhaber von Seltsamkeiten und Exzentrizitäten die tüchtige Wunderlichkeit desselben angestaunt, auch mich an den Märchen, mit denen man sich von ihm trug, nicht wenig ergötzt. Hier fand ich nun jene früheren Tage wieder hervorgehoben und konnte ein solches psychisches Phänomen umso eher begreifen, als ich seine persönliche Gegenwart und die Umgebung, worin ich ihn kennengelernt, der Einbildungskraft und dem Nachdenken zu Hülfe rief.“ Dass Goethe hier Weiß und nicht David Hess als Autor nennt, haben die Herausgeber der „Tag- und Jahreshefte“ still korrigiert. Dass er 1797 mit keiner Silbe erwähnt, hat wohl mit der Fixierung auf den Großherzog zu tun. Der Jägerhauptmann des Jahres 1779 war 1797 bereits Oberst, Goethe traf ihn am 17. September in Schaffhausen in der „Krone“, was hier nicht Thema sein soll, zumal dazu nichts weiter überliefert ist. Das bald 100 Jahre alte Buch „Goethes Schweizer Reisen“ von Wilhelm Bode erzählt die hübsche Geschichte, wie der acht Jahre alte David Hess Goethe zuerst sah. Und weiß von Schaffhausen auch nur das reine Faktum.

Natürlich war Goethe 1820 auch wieder in Karlsbad. Wieso eigentlich natürlich? Er war da, er war zum 14. Male in Böhmen und hatte, ohne das zu ahnen, nur noch drei weitere Reisen dorthin vor sich: 1821, 1822 und 1823. Seine 34 Tage Aufenthalt waren zwei mehr als 1819, aber 18 weniger als 1818. Verglichen mit dem letzten Besuch 1823 (75 Tage) war es beinahe ein Kurzausflug. Das Tagebuch vom April 1820 nennt detailliert Stationen der Anreise und jeweilige Unternehmungen: Oberkotzau, Marktleuthen, Wunsiedel und dann die Luisenburg, wo es zu Goethes Zeiten natürlich noch kein Freilufttheater mit jährlichen Festspielen gab, wohl aber schon die Steine und Felsen, auf denen man auch jetzt noch herumklettern kann. „Gedanken über die Ursache dieser sonderbaren Erscheinung. Sie ist einem Granit von ungleicher Festigkeit zuzuschreiben, wo große, solide Massen, in dem die Unterlagen ganz oder zum Teil verwitterten, ihr Gleichgewicht verloren und so herabrutschten und stürzten. Dieses musste um so eher geschehen, als die von Natur übereinander ruhenden Platten eine sehr starke Neigung gegen den Horizont hatten, wie noch an einigen Partien zu sehen ist, welche noch in ihrer ursprünglichen Lage beharren.“ Zieht man die „Tag- und Jahreshefte“ heran, sieht man, welche Gedanken Goethe wirklich immer wieder bewegten, wenn er auf Naturphänomene stieß, die eigene Sichten bestätigten, von ihm abgelehnten aber widersprachen.

Alles, was ihn an Vulkanismus erinnerte, an eruptive Vorgänge, an gewaltsame Veränderungen in allgemeinster Sicht, widerstrebte ihm so sehr, dass er manchen wissenschaftlichen Versuch machte, manches nicht selten nur gedankliche Experiment, um zu beweisen, was nicht sein konnte, weil es eben seiner Meinung nach nicht sein durfte. „Auf meiner Reise nach Karlsbad nahm ich den Weg über Wunsiedel nach Alexandersbad, wo ich die seltsamen Trümmer eines Granitgebirges nach vielen Jahren, seit 1785 zum erstenmal, wieder beobachtete. Mein Abscheu vor gewaltsamen Erklärungen, die man auch hier mit reichlichen Erdbeben, Vulkanen, Wasserfluten und andern titanischen Ereignissen geltend zu machen suchte, ward auf der Stelle vermehrt, da mit einem ruhigen Blick sich gar wohl erkennen ließ, dass durch teilweise Auflösung wie teilweise Beharrlichkeit des Urgesteins, durch ein daraus erfolgendes Stehenbleiben, Sinken, Stürzen, und zwar in ungeheuern Massen, diese staunenswürdige Erscheinung ganz naturgemäß sich ergeben habe. Auch dieser Gegenstand ward in meinen wissenschaftlichen Heften wörtlich und bildlich entwickelt; ich zweifle jedoch, dass eine so ruhige Ansicht dem turbulenten Zeitalter genügen werde.“ Er kann und will nicht zulassen, das andere Ansichten sachlich begründet sein könnten und verfällt sogar auf die Idee, die „Turbulenz“ des Zeitalters könne falsche geologische Ideen fördern.

Vertreter anderer als seiner Auffassungen in ganz unterschiedlichen Disziplinen geißelt er mit starken Worten, die seiner sonstigen alterssteifen Formulierkunst krass widersprechen: „Dagegen betrachtete ich ein Beispiel fürchterlichsten Obskurantismus mit Schrecken, indem ich die Arbeiten Biots über die Polarisation des Lichtes näher studierte. Man wird wirklich krank über ein solches Verfahren; dergleichen Theorien, Beweis- und Ausführungsarten sind wahrhafte Nekrosen, gegen welche die lebendigste Organisation sich nicht herstellen kann.“ Goethe meint den Physiker Jean-Baptiste Biot (21. April 1774 – 3. Februar 1862). Allein die Tatsache, dass der Franzose über Newton geschrieben hatte, dürfte schon hinreichend gewesen sein, ihn und seine Theorien mit pathologischem Wundbrand und Gewebefäulnis, sprich Nekrose, in bildliche Verbindung zu bringen. Was und wen er dagegen lobt, zeigt das Beispiel des dänischen Physikers Hans Christian Ørstedt (14. August 1777 – 9. März 1821), der just 1820 die magnetische Wirkung des elektrischen Stroms entdeckte. Hier sieht Goethe einen Bezug zum Galvanismus: „Der sich immer mehr an den Tag gebende, und doch immer geheimnisvollere Bezug aller physikalischen Phänomene aufeinander ward mit Bescheidenheit betrachtet“. Es ist die „lebendige Gegenwart des Unerforschlichen“, die den alternden Goethe mehr und mehr fasziniert, freut, ihn staunen lässt.

Bei Johannes Urzidil („Goethe in Böhmen“) lesen wir für 1820: „Von Eger aus nahm Goethe diesmal nicht den gewohnten Weg nach Karlsbad, sondern wandte sich zunächst südwestlich über Sandau und Siehdichfür nach dem neuen Marienbad, von dem ihm Professor Dittrich im Vorjahr berichtet hatte.“ Eine Nacht verbrachte Goethe in Marienbad im Gasthof Klinger: „Goethe fand sofort Gefallen an Heidler. In den folgenden Jahren sollte er sein Marienbader Kurarzt werden.“ Dr. Karl Joseph Heidler, Edler von Heilborn (26. Januar 1792 – 13. Mai 1866) war Goethe nicht nur Kurarzt, sondern auch Partner in Gespräch und Sammlungspraxis über Pflanzen und Geologie. In drei Briefen, an seinen Sohn, an Zelter in Berlin und an den Herzog, formulierte Goethe beinahe euphorisch seine Faszination: „Mir war es, als befänd ich mich in den nordamerikanischen Wäldern, wo man in drei Jahren eine Stadt baut. Der Plan ist glücklich und erfreulich, die Ausführung streng, die Handwerker tätig, die Aufseher einsichtig und wach.“ Man ahnt aus den Charakteristiken, welche eigenen Bauerfahrungen dem Minister aus Weimar vor Augen standen, selbst wenn er direkt nur für den Wegebau zuständig gewesen war. Er traf Elisa von der Recke und deren Schwester Dorothea von Kurland, den Leipziger Philosophieprofessor Gottfried Hermann. Am 13. Mai notierte er Wichtiges: „Der Wein kam an.“ Er las und übersetzte Alessandro Manzoni.

1820 lässt sich mit guten Gründen auch als Jenaer Jahr Goethes bezeichnen. „... stieg er wieder im Botanischen Garten ab, wo er auch in den nächsten vier Jahren bei längeren Aufenthalten wohnen wird. Der fruchtbarste davon fällt in den Sommer 1820. Von Ende Mai bis Anfang November genießt er noch einmal seine „Clausur auf dem Blumen- und Pflanzenberge“, arbeitet an der Wolkenlehre, die auch dieses Phänomen mit dem Prinzip der Polarität, der Anziehung und Abstoßung von Luftmassen zu erklären versucht, liest Neuerscheinungen aus Italien und schreibt Gedichte.“ So liest es sich bei Jens-Fietje Dwars („Der Jenaer Goethe“), der sich auch jener Mühe unterzog, der sich seinerzeit Wolfgang Vulpius („Goethe in Thüringen“) verweigert hatte: der einfachen Addition aller Jenaer Aufenthalte mit dem immerhin imposanten Ergebnis, Goethe habe alles in allem fast fünf Jahre seines Lebens in Jena verbracht. Noch einmal Dwars: „Vom 17. bis 21. August sitzt er zudem den beiden Bildhauern Christian Rauch und Friedrich Tieck Modell, die im Wettstreit miteinander die beiden berühmtesten Büsten des Dichters schaffen. Beide klassisch streng. Rauch mehr ins Erhabene gesteigert, Tieck gebrochener, mit einem feinen Zug von Melancholie um den Mund. Vielleicht ist es doch kein Zufall, dass diese menschlich berührendsten Porträts in Jena entstanden, wo er sich zeitlebens freier fühlen durfte als am Weimarer Hof.“

Den Goethe-Statistikern seien die Termine extra genannt: vom 19. bis 22. April, vom 1. Juni bis 22. August, vom 25. August bis 14. Oktober und schließlich vom 19. Oktober bis 3. November weilte, wie wir uns angewöhnen durften zu sagen, Goethe in Jena, auch seinen 71. Geburtstag beging er demzufolge dort. „Schließlich habe ich noch dankbar eines Steindrucks zu gedenken, welcher von Mainz aus meinen diesjährigen Geburtstag feiernd, mit einem Gedicht freundlich gesendet wurde. Auch langte der Riss an zu einem Monument, welches meine teuren Landsleute mir zugedacht hatten. Als anmutige Verzierung einer idyllischen Gartenszene, wie der erste Freundesgedanke die Absicht aussprach, wär es dankbar anzuerkennen, aber als große architektonische selbständige Prachtmasse war es wohl geziemender sie bescheiden zu verbitten.“ Das erste Goethedenkmal wurde noch zu seinen Lebzeiten auf Veranlassung von Maria Pawlowna im Griesbachschen Garten in Jena errichtet, wo es 1950 abgetragen und dann am 30. August 1974 wieder errichtet wurde. „Die so freundlich von vielen Seiten her begangene Feier meines Geburtstags suchte ich dankbar durch ein symbolisches Gedicht zu erwidern.“ Er sandte es am Folgetag nach Schönkleina. Im Tagebuch steht: „Früh hatten Studenten ein Gedicht gebracht. Abends Ständchen mit Fackeln. Die Kinder fuhren fort.“ Was das symbolische Gedicht betrifft, bin ich vorerst noch nicht fündig geworden.

Für den 18. September 1820 ist dieser Eintrag ins Tagebuch bezeichnend: „Kam die Nachricht von der Geburt des zweyten Enkels. Zum Bogen P. gearbeitet. Lehmann aus der Druckerey, den Abschluß des Heftes besprochen. Minerva Miscellen und ethnographisches Archiv an Serenissimum durch die Rückkehr des Botens. Sendung von Maynz zum Geburtstage.“ Der zweite Enkel hat hier nicht einmal einen Namen. In der dtv-Gesamtausgabe verzichtet der Band 44 mit den Tagebüchern von 1810 bis 1832 ganz und gar auf den 18. September. Was sind Enkel im Leben eines Goethe? Nein, solche Interpretation wäre sicher nicht völlig falsch, setzte aber auf jeden Fall einen falschen Akzent. Goethe hat seinen zweiten Enkel Wolfgang später sogar, wie bezeugt, bevorzugt gegenüber dem ersten, Walther. Dennoch fällt, wenn ich in Dagmar von Gersdorffs Buch „Goethes Enkel“ schaue, sofort auf, dass die Geburt 1820 nur in der Formel „zwei Jahre nach dem ersten Kind“ erscheint. Und es folgt dies: „Anlässlich seiner Geburt hatte Goethe die tapfere Schwiegertochter mit einer großen Geldsumme beschenkt und ihr ein Gedicht dediziert, das gut gemeint war, aber auch deutlich machte, welche Rolle ihr in seinen Augen zukam.“ Das, nun ja, nicht zu den bedeutendsten Goethes gehörende Gedicht geht so: „Deiner Treue seis zum Lohne, / Wenn du diese Lieder singst, / Dass dem Vater in dem Sohne / Tüchtig-schöne Knaben bringst.“

Schwiegertochter Ottilie gebar erst gut sieben Jahre später die Antwort auf des Schwiegervaters Wunsch: die Enkelin Alma, die die einzige Tochter des Paares August und Ottilie blieb. Charlotte Schiller schrieb an ihren Sohn Ernst am 21. August 1820: „Ottilie ist sehr leidend; sie wird nächsten Monat niederkommen. … Der Gemahl wird beinahe so dick wie der Vater. Dieser hält sich weislich in seinem Botanischen Garten auf und wird in Jena bleiben, bis alles vorüber ist.“ Womit erwiesen wäre, dass Jena nicht nur der Ort war, wo Goethe sich freier fühlte: es war auch ein Fluchtort für genau diese Gelegenheiten. Wo immer Krankheit, Tod oder auch nur Leiden in seine Nähe kamen, suchte er das Weite zu gewinnen und wenn es nur das nahe Jena wurde. Über den in den „Tag- und Jahresheften“ wie auch im Tagebuch erwähnten Leipziger Professor Hermann heißt es in einem Brief von Karl Friedrich Anton von Conta (13. Dezember 1778 – 27. Dezember 1850) an seine Frau Friederike: „Hermann verehrt Goethen wie ein Gott in Menschengestalt.“ Daher also die Freude, ihn in Karlsbad um sich gehabt zu haben. Es handelt sich um Johann Gottfried Jakob Hermann (28. November 1772 – 31. Dezember 1848), der nur kurz außerordentlicher Professor der Philosophie in Leipzig war, später eine Professur für Beredsamkeit innehatte. Auf seinen speziellen Wunsch las Goethe sogar Proben aus dem „Westöstlichen Divan“ vor, nach ausgiebiger Kutschfahrt mit ihm.

„Hermanns Programm über das Wesen und die Behandlung der Mythologie empfing ich mit der Hochachtung, die ich den Arbeiten dieses vorzüglichen Mannes von jeher gewidmet hatte: denn was kann uns zu höheren Vorteil gereichen, als in die Ansichten solcher Männer einzugehen, die mit Tief- und Scharfsinn ihre Aufmerksamkeit auf ein einziges Ziel hinrichten?“ Goethe spricht hier ganz nebenhin ein offenes Geheimnis fast seines gesamten tätigen Lebens aus. Er war stets bestrebt, von Kenntnissen anderer zu profitieren, die er sich gern referieren ließ, die er ausfragte: über Regionen, in denen er nie war, in die er nie kommen würde, über fremde Literaturen (mit lettischen Liedern befasste er sich 1820), über ihre Forschungen und Versuche. Er ließ sich ihre Sammlungen zeigen, zeigte im Gegenzug gern auch seine eigenen, wo immer es sich anbot, er nutzte Besucher und Gesprächspartner im guten Sinne aus, wie es viel später auch ein gewisser Brecht mit Gewinn für sich und meist zum Vergnügen selbst der Ausgenutzten unternahm. Noch ins Jahr 1821 und später reicht die Bekanntschaft Goethes mit Karl Ernst Schubarth (28. Februar 1796 – 1860), von dem die Allgemeine Deutsche Biographie ADB zwar kein Todesdatum kennt, aber weiß, dass er „durch Goethes Theilnahme der Vergessenheit für immer entrissen“ wurde, was die nachfolgende Zeit natürlich nicht annähernd bestätigen konnte, Schubarth ist faktisch rundum vergessen.

„Mich besuchte Ernst Schubarth, dessen persönliche Bekanntschaft mit höchst angenehm war. Die Neigung, womit er meine Arbeiten umfasst hatte, musste ihn mir lieb und wert machen, seine sinnige Gegenwart lehrte mich ihn noch höher schätzen, und ob mir zwar die Eigenheit seines Charakters einige Sorge für ihn gab, wie er sich in das bürgerliche Wesen finden und fügen werde, so tat sich doch eine Aussicht auf, in die er mit günstigen Geschick einzutreten hoffen durfte.“ Zwar hat sich Schubarth immer weiter mit Goethe befasst, 1830, noch zu Lebzeiten, erschienen seine „Vorlesungen über Goethes Faust“, Schubarth besuchte Goethe im Herbst 1820 gemeinsam mit seinem Bruder, Goethe hatte ihn in einem Brief vom 14. September dazu freundlich eingeladen es ist dennoch weder Goethe noch seinen Freunden mit deren Beziehungen gelungen, diesem jungen Mann eine Stellung in Berlin zu verschaffen. Goethe hat später sogar daran gedacht, Schubarth neben Eckermann und Riemer an der Ausgabe seiner Werke mitarbeiten zu lassen. Das Thema Goethe und Schubarth wäre ein eigenes und ist es natürlich in der Goethe-Literatur längst auch geworden, mit neuen Erkenntnissen und Einsichten ist kaum zu rechnen. Dass Daniel Jacoby, der ADB-Autor, einen Auftrag Goethes anführt, Schubarth möge den nachfolgend kurz behandelten Dichter verurteilen, widerspricht auf alle Fälle den „Tag- und Jahresheften“ recht deutlich.

Denn Goethe las 1820 natürlich nicht nur wissenschaftliche Werke und Manzoni. „Von deutschen Produktionen war mir Olfried und Lisena eine höchst willkommene Erscheinung, worüber ich mich auch mit Anteil aussprach. Das einzige Bedenken, was sich in der Folge auch einigermaßen rechtfertigte, war: der junge Man möchte sich in solchem Umfang zu früh ausgegeben haben.“ Wer der junge Mann war, hält der Jahresrückblick geheim. Es war Ernst August Hagen (12. August 1797 – 16. Februar 1880), der erste Lehrstuhlinhaber für Kunstgeschichte und Ästhetik im Königreich Preußen, der noch als Student das romantische Märchengedicht „Olfried und Lisena“ in zehn Gesängen veröffentlichte. Wenn auch nicht direkt auf Hagen bezogen, wohl aber fast unmittelbar im Anschluss an seine Erwähnung, schreibt Goethe dann: „Auch enthielt ich mich von dieser Zeit an alles Neueren, Genuss und Beurteilung jüngeren Gemütern und Geistern überlassend, denen solche Beeren, die mir nicht mehr munden wollten, noch schmackhaft sein konnten.“ Man kann solche Aussagen dem weiten, fast unendlichen Thema Entsagung bei Goethe zuordnen, es ist auch, wer ehrlich sich selbst gegenüber älter wird, weiß es, kluge Einsicht. Was aber zwingend auffällt: wie oft Goethe auf das Gedicht zurückkam 1820. Man könnte meinen, hier einen Beleg für die These zu finden, dass er eben doch Unbedeutende viel eher lobte, als er Bedeutende loben konnte und wollte.

Nicht weniger als elf Briefe, geschrieben zwischen dem 22. August und dem 2. Oktober 1820, sind von Goethe überliefert, die so oder so „Olfried und Lisena“ thematisieren. Adele Schopenhauer erfährt, dass sie einzig war in ihrer kritischen Sicht, noch im Juli 1821 bekommt Marianne von Willemer einen freundlichen Hinweis. Das Tagebuch nennt die Dichtung zwischen dem 2. August und dem 13. September 1820 nicht weniger als neunmal, mehrfach mit der Zeitangabe „nachts“. In den Gesprächen mit Eckermann findet sich unter dem 17. September 1823 diese Passage: „Da ist der August Hagen in Königsberg ein herrliches Talent! Haben Sie seine ›Olfried und Lisena‹ gelesen? Da sind Stellen darin, wie sie nicht besser sein können: die Zustände an der Ostsee, und was sonst in dortige Lokalität hineinschlägt, alles meisterhaft. Aber es sind nur schöne Stellen, als Ganzes will es niemand behagen. Und welche Mühe und welche Kräfte hat er daran verwendet, ja er hat sich fast daran erschöpft! Jetzt hat er ein Trauerspiel gemacht!« Am 2. Oktober schrieb Goethe an Nicolovius:“ „Der Dichter ist sehr jung, man muß es daher in gewissem Sinne nicht allzu genau mit ihm nehmen. Er vereinigt mit dichterischem Verdienst auch das sittliche, und man freut sich, in seiner Arbeit keinen der Fehler zu finden, die man an unserer Jugend bedauert.“ Und schon ist die Katze aus dem Sack: Goethe lobt den, der sich von der Jugend abhebt, die er eben nicht mag.

Eine leicht kuriose Eintragung Goethes findet sich unter dem 2. Juli mit der Ortsangabe Jena: „Henschel von Breslau von der Sexualität der Pflanzen, gestern angekommen; Brief an denselben. Genanntes Buch zu schematisieren angefangen, da ein Inhaltsverzeichnis fehlt.“ Henschel ist August Wilhelm Henschel (20. Dezember 1790 – 24. Juli 1856), Botaniker und Medizinhistoriker. Und schon am selben Tage schreibt Goethe: „Mit Vergnügen werd ich Ihr Werk in ruhigen Augenblicken, insofern sie mir gegönnt sind, durchlesen und meine Bemerkungen an Ihren Vortrag anknüpfen. Da ich noch erlebe, daß so merkwürdige Erscheinungen der Wissenschaft aus meinen unschuldigsten Anregungen hervorgehen, so sind Sie überzeugt, daß ihre Arbeit mich nicht nur im Ganzen, sondern von Seite zu Seite interessiren muß. Lassen Sie mich ferner, so lange wir noch auf diesem Erdboden zusammen verweilen, von Ihrem Seyn und Thun einiges vernehmen.“ Wieder eine kleine Offenbarung Goethes: Er lobt, was scheinbar oder tatsächlich sich einer Anregung verdankt, die er selbst mit seinem Werk irgendwann und irgendwo gegeben hat. Noch hat er gar nicht richtig zu lesen begonnen, kennt aber schon das Vergnügen, das er haben wird. Wen wundert es, dass er die eigenen dichterischen Arbeiten des Jahres 1820 kaum nennt: alte Sachen wie die „Campagne“, die „Belagerung von Mainz“, die „Wanderjahre“, „Zweiter römischer Aufenthalt“?


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