Arthur Eloesser: "Goethe und Ilmenau" von Julius Voigt

Mancher Leser der Vossischen Zeitung mag sich gewundert haben, manche Leserin natürlich auch (nichts gegen Leserinnen, solange sie nicht mit Doppelpunkt geschrieben und mit Schluckauf gesprochen werden müssen): Innerhalb weniger Wochen nicht nur zweimal das Thema „Goethe und Ilmenau“, sondern zweimal eine Besprechung des gleichnamigen Buches von Julius Voigt. Die Erklärung dafür ist vermutlich profaner, als sie sich der Goethe-Freund wünscht: Im Feuilleton wusste die rechte Hand nicht immer, was die linke tat; vielleicht war auch eine der beiden Hände im Sommer-Urlaub. So durfte nach dem Lichtenberger Lehrer Dr. Albert Ludwig am 26. Mai 1912 auch der Charlottenburger Kritiker und fest angestellte Feuilleton-Mitarbeiter Dr. Arthur Eloesser sich zu dem Buch äußern, das da im Leipziger Xenien-Verlag erschienen war. Albert Ludwigs Abhandlung stand in der Sonntagsbeilage, Arthur Eloessers an einem Freitag in der „Literarischen Umschau“, die er im Jahr 1912 besonders fleißig belieferte. Besonders ist daran auch, dass er seine Besprechung mit „Dr. Arthur Eloesser“ zeichnete, denn den Titel ließ er sonst einfach weg, sehr oft auch (seit seinem allerersten Beitrag 1899), setzte er einfach nur das Kürzel „A.E.“ darunter.

Zum Beitrag von Albert Ludwig habe ich mich bereits geäußert (http://www.eckhard-ullrich.de/mein-goethe/4411-albert-ludwig-goethe-und-ilmenau), zum Buch „Goethe und Ilmenau“ vor Jahren auch schon einmal, Anlass war damals das runde Jubiläum der Erstausgabe von 1912 (http://www.eckhard-ullrich.de/mein-goethe/221-hundert-jahre-qgoethe-und-ilmenauq). Jetzt aber stolpere ich über einen Fehler, wie er mir bei Arthur Eloesser noch nie begegnete, er macht aus dem Lehrer und Schuldirektor Julius Voigt einen Bergmann. „Die Anatomen haben über den Anatomen Goethe geschrieben, die Botaniker über den Botaniker, die Geologen über den Geologen, ebensogut die Maler und Kupferstecher über ihren Zunftgenossen. Hier spricht ein Bergmann über den Bergmann Goethe, und die Studie dehnt sich weit über diese erste Bestimmung aus, weil Julius Voigt bei seiner persönlichen Anspruchslosigkeit auch mehr als ein Bergmann ist. So wird Ilmenau zu einem schönen Symbol des reichsten, breitesten und tiefsten Lebenslaufes, den wir von der Quelle an verfolgen können.“ Zu vermuten ist, dass Eloesser, der 1902 selbst Ilmenau besuchte (http://www.eckhard-ullrich.de/lokal-splitter/4366-arthur-eloesse-in-ilmenau), dort vom Bergrat Voigt hörte, nach dem heute eine Straße benannt ist, der aber mit Julius Voigt nichts zu tun hat.

Zum Glück ist alles andere geeignet, den Ilmenauer Lokalpatrioten rasch wieder herunter zu locken von der Palme, auf die er möglicherweise sprang. Allein diese Formulierung ist Balsam, die ich deshalb gern wiederhole: „So wird Ilmenau zu einem schönen Symbol des reichsten, breitesten und tiefsten Lebenslaufes, den wir von der Quelle an verfolgen können.“ Auch den Hausberg mit Goethehäuschen verwandelte die in Berlin zweimal täglich erscheinende Tageszeitung in einen „Gickelhahn“, mir insofern ein sehr verständlicher Schreibfehler, als der krähende Zweibeiner, den ich als Kind im Hof so lange jagte, bis er eine der schwarzgrün schillernden Schwanzfedern verlor, die ich für meinen Indianer-Kopfputz als Krönung brauchte, vorn kein K hatte. Längst ist aus meinem Indianer ein männlicher Angehöriger eines nordamerikanischen indigenen Volkes der Prärie geworden, niemand spielt den mehr, aber der Hahn schrieb sich vorn auf jeden Fall mit G. Es darf als wenig schändlich angesehen werden, wenn ein Kritiker einer großen überregionalen Zeitung sich nicht ganz in alle Details einer lokalen Thematik vertieft. Eloesser sah auf Goethe im Ganzen, wenn man es so sagen darf, und ordnete Ilmenau in dieser Totalität eine sehr hohe Bedeutung zu.

Doch zunächst noch einmal zu Julius Voigt, dem Autor des Buches, das man bis heute und jetzt ein Standardwerk nennen kann, ich übernehme Sätze aus dem Nachwort des Reprints, geschrieben von Rosalinde Gothe: „Julius Voigt wurde am 30. Juni 1874 als Sohn des Hofoptikers Otto Voigt in Altenburg geboren. Über seinen Lebensweg sind nur spärliche Daten überliefert, zu entnehmen sind solche seinem 1903 dem Magistrat in Ilmenau eingereichten Lebenslauf und einer um 1946 angefertigten Übersicht. Seine „Lebenserinnerungen“, die er bis in seine letzten Jahre geführt hat, müssen leider als verloren gelten. … Von Ostern 1894 an studierte er in Berlin, und hier promovierte er 1897 mit einer Arbeit über das „Naturgefühl in der Literatur der französischen Renaissance“. Voigt starb am 16. November 1946 in Weimar, eine zweite Auflage seines Buches hat er nicht mehr erlebt, sich aber ganz sicher gewünscht. Das Ilmenauer Stadtarchiv hütet eine Mappe, in der Voigt Besprechungen seines Buches sammelte. Von der stets freundlichen Leiterin des Archivs weiß ich, dass diese Sammlung keine Beiträge aus der Vossischen Zeitung enthält, obwohl Voigt offenbar sogar Abschriften anfertigte, wenn ihm das Original nicht gehörte.

Vielleicht ist es hilfreich, dem Xenien-Verlag etwas Aufmerksamkeit zu widmen, der in Leipzig saß und auch ein Büchlein druckte, das sich als einziges Original in meinen Beständen findet, es heißt sehr schlicht „Berlin“ und ist geschrieben von Heinrich Spiero. Das war ein Literaturhistoriker (24. März 1876 – 8. März 1947) aus jüdischer Familie, von dem im Xenien-Verlag die Bücher „Deutsche Geister“, „Hermen“, „Städte“, „Neue Kunde von Liliencron“, „Verschworene der Zukunft“, „Lebensmächte“, „Dichtungen“, „Gedichte des Wanderers“ und „Kranz und Krähen“ erschienen, „Berlin“ ist Band 6 der „Xenien-Bücherei“. Julius Voigt befand sich also 1912 in einem durchaus honorigen Umkreis. Andere Autoren des Verlages, für die in „Berlin“ geworben wird, waren Georg Hirschfeld, Ludwig Hirschfeld, Robert Faesi, Kurt Walter Goldschmidt, Victor Goldschmidt, Hermann Anders Krüger, Johannes Cotta, Adolf Stern, Bruno Beheim-Schwarzbach, Friedrich Kurt Benndorf und Adalbert Meinhardt. Neben Georg Hirschfeld und Robert Faesi sagt mir nur der Name Kurt Walter Goldschmidt etwas. Er war es, der 1905 im ersten Jahrgang der „Schaubühne“, ab 1918 „Weltbühne“, den Kritiker Arthur Eloesser sehr wohlwollend vorstellte.

In der „Weltbühne“ des Jahrgangs 1929, es ist der 25. Jahrgang der berühmten Wochenschrift, finden wir unter der Überschrift „Selbstkostendichtung“ eine knapp drei Seiten lange Arbeit von Hans Natonek. Natonek (28. Oktober 1892 – 23. Oktober 1963) hat, das an die Adresse des sonst nur zu lobenden Leipziger Lehmstedt-Verlages, in „Schaubühne“ und „Weltbühne“ über alle Jahre hin insgesamt 73 Beiträge publiziert, von denen bescheidene drei in die Sammlung „Hans Natonek: Im Geräusch der Zeit. Gesammelte Publizistik 1914 – 1933“ aufgenommen wurden. Zu den siebzig fehlenden gehört „Selbstkostendichtung“. „Wir wollen hier eine künstlerische Produktion, die völlig abseits aller Kritik, die also unter aller Kritik ist, unkritisch, wenn möglich liebevoll betrachten. Was unter aller Kritik ist, wollen wir über alle Kritik stellen.“ Es geht um Bücher, für die die Autoren den Verlag bezahlen. Es handelt sich somit um eine uralte Geschäftsidee, die völlig und rein marktwirtschaftlich betrachtet werden muss: hier sind Autoren, die etwas von sich gedruckt sehen wollen, da sind Verleger, die mit dem Druck verdienen wollen ohne alle sonstigen Lasten eines Verlegers zu tragen. Die Zahl solcher Verlage ist heute kaum noch überschaubar.

Wenn dennoch Vereine und Verbände in ihren Satzungen festlegen, das Schriftsteller in ihrem Sinne nur jemand ist, der mindestens zwei Bücher in einem Verlag veröffentlicht hat, der kein Bezahl-Verlag ist, dann darf man das wohl etwas aus der Zeit gefallen nennen. Ich weiß aus bester Quelle, dass auch „seriöse“ Verlage gelegentlich Druckkosten-Zuschüsse nehmen. Die Frage ist aktueller denn je, wie lange es das herkömmliche Verlagswesen überhaupt noch geben wird, in teilweiser Analogie zur Frage nach der Zukunft der Printmedien, die sich immer noch privilegiert glauben, nur weil es fortzeugend altfränkische Wissenschaftler gibt, die glauben, sie seien eben für immer privilegiert. Hans Natonek wird hier aber nicht wegen seiner lesbaren Sarkasmen zu allerlei Dilettanten in den Zeugenstand gerufen, sondern wegen dieses einen Satzes: „Denn diese rührend schmalen Bücherchen, die alle dem Xenien-Verlag in Leipzig, dem größten Selbstkostenverlag Deutschlands entstammen, haben, wiewohl sie erschienen sind, nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt.“ Julius Voigt hat sein „Goethe und Ilmenau“ im Leipziger Xenien-Verlag veröffentlicht, was wenigstens heute Kritiker-Zurückhaltung erklären würde. Wir kennen keine näheren Umstände.

„Der Selbstkostenverleger verschafft dem Dilettanten ein Druckbegräbnis erster Klasse. … Der Selbstkostenverlag ist eine – nicht gerade moralische – Anstalt zur Befriedigung armseligen Ehrgeizes und kleiner Einbildungen und Eitelkeiten.“ Wieviel davon auf den Direktor der Ilmenauer Realschule gemünzt werden darf oder sollte, ist hier nicht Gegenstand spekulativer Erörterungen. Auch Friedrich Schiller hat zuerst auf eigene Kosten drucken lassen und lange an den Schulden gelitten. Ein Schuldirektor ist solventer als jeder Dichter ohne bezahlte Festanstellung. Am Ende zählt natürlich das Ergebnis. Ich habe in meiner Zeit als verantwortlicher Redakteur 1991 meinem eigenen ehemaligen Latein-Lehrer Gelegenheit gegeben, die eben erschienene Reprint-Ausgabe von „Goethe und Ilmenau“ zu besprechen. Der vierspaltige Beitrag vom 15. März 1991 ist sauber aufgeklebt auf einem pinkfarbenen Zentral-Archiv-Formular des Westfalen-Blatts, auch damals archivierte ich gern selbst. Und lese dort: „Voigts Leistung ist in zweierlei Hinsicht zu würdigen: „Im Untertitel des Buches heißt es „unter Benutzung zahlreichen unveröffentlichten Materials dargestellt“. Voigt hat, wie es dem Historiker eigentlich geziemt, aus den Quellen gearbeitet.“

Dem Ergebnis hat Eloesser, vielleicht auch deshalb als „Dr. Arthur Eloesser“, Respekt gezollt. Er ist nicht allen Details gefolgt, die Voigt ausgrub, hat sich vor allem am Bergbau festgehalten, an beiden Schützlingen Goethes, Peter im Baumgarten und dem geheimnisvollen Krafft, eben weil an beiden ein weit über alles Sachliche hinausgehendes Interesse vermutet werden durfte. Die umfänglichen Ausführungen zu Goethes Agieren im Ilmenauer Steuerwesen hat er schlicht ausgespart, das später gern thematisierte vermeintlich zahlenmystische Feiern von Goethe-Geburtstagen in Ilmenau (aller 18 Jahre seit 1777 (28), also noch 1795 (46), 1813 (64) und 1831 (82) auf den letzten beschränkt, als Goethe noch einmal den Berg sah mit dem Häuschen und der Schrift „Über allen Gipfeln“. „Seinen letzten Geburtstag feierte er vor lauten Wünschen flüchtend in Ilmenau; er ließ sich zu dem Häuschen auf Gickelhahn führen und suchte auf der Bretterwand die Inschrift seines bald fünfzig Jahre alten Liedes: Warte nur balde ruhest du auch. Ein an Geist und Leib Unversehrter ging über die steile Treppe zum Oberstock des Forsthäuschens hinauf, sah nach dem dunklen Fichtenwalde gegenüber, in dem er mit seinem Freunde gejagt hatte und wandte sich zu seinem Begleiter mit den Worten: Nun wollen wir gehen. In Ilmenau hat Goethe seinen Abschied von der Erde genommen.“

Noch bevor der Kritiker sich Thema und Buch „Goethe und Ilmenau“ selbst zuwandte, bot er seinen Lesern diesen allgemeinen Einstieg: „In der Bibliographie zu Goethe treten die Titel, die mit „Goethe und ...“ anfangen, zu einer langen Reihe zusammen. Hinter dieses und könnte man mit der Ausnahme der militärischen Disziplinen ungefähr jede Kunst, Wissenschaft und Technik setzen, die die Menschheit betrieben hat. Es gibt eine Studie „Goethe und die Dampfmaschine“, und ich zweifle nicht, dass auch über Goethes Beziehungen zur Luftschifffahrt irgendwo gründlich und gelehrt gehandelt worden ist. Jede Fakultät, auch die theologische, könnte ihn zu ihrem Schutzpatron machen, wie ihn ja auch Jena zum vierfachen Ehrendoktor ernannte, und womit man sich auch beschäftige, es gibt kaum einen Weg, der an Goethe ganz vorbeiführte. Er war eben der letzte vollständige Mensch unter den Schriftstellern, ein Verwandter von Sophokles, den man für einen brauchbaren Admiral hielt, von Dante, dem man eine Gesandtschaft anvertraute, von Lionardo, der Festungen baute und das gesamte Können seiner Zeit verwaltete.“ Solch ein Mensch also, wollte das heißen, hatte über lange Jahre seines Lebens eine besondere Beziehung zu Ilmenau.

Mit dem Bergbau in der Hauptrolle: „Auf dieses Unternehmen hat Goethe eine Mühe von zwei Jahrzehnten verwandt, die wieder die Katastrophe eines Stollenbruchs zunichte machte; er hat eine Gewerkschaft gegründet, die man heute Aktiengesellschaft nennen würde, er hat die Bergwerkskuxe an den Mann gebracht, die sogar von den reichen Berliner Hofjuden für begehrenswert gehalten wurden und er hat uns von der Feier der Wiedereröffnung jene schöne Rede hinterlassen, bei der er zweimal stecken blieb. Das ist die tatsächliche und nicht sehr glückliche Geschichte des Bergwerks, von dem aus ein Schacht in Goethes tieferes Leben führt.“ „Goethe hatte zu Ilmenau ein besonderes menschliches und poetisches Verhältnis, und er hat vom Berg mit seinem Fichtensaal, von dem anmutigen Tale und dem immergrünen Hain schon in den ersten Weimarer Jahren mit einer Verehrung und mit tiefen Andeutungen gesprochen, als ob er in dieser Landschaft ein Symbol seines Lebens gefunden hätte.“ Manche Deutung überrascht auch: „Der frühere Pietist, der am Bette der Klettenberg saß, hat sich nie wieder so stark wie hier geregt, und man kann sagen, dass der Bergmann Goethe, der nach altem Brauche das wiedereröffnete Bergwerk unter den Segen Gottes stellte, hier zum letzten Male Christ gewesen ist, abgekehrt von der Welt und erlösungsbedürftig.“

Der vierte Akt der „Iphigenie“, das fünfte Buch des „Wilhelm Meister“ fehlen nicht, und nicht das Spätere: „Goethe ging nach Italien, er verlor oder entfernte Frau von Stein, er wurde südlich und antik, er mied den Ort, seine Erinnerungen, seine Dämonen, als das Unternehmen des Bergwerks nach vielen Mühen verunglückt war. Aber er vergaß nicht, wie ihn die Natur dort empfangen hatte, mit dem Hammer in der Hand, nicht nur zu staunendem Besuche. Auch Ilmenau ist Fausts Heimat, des Schwärmenden, des Forschenden, des Tätigen. Statt der Schätze hatte er Erkenntnis gefunden.“ Es bleibt für immer und für nicht wenige verlorene Zeit in Goethes Leben: das Praktische, vielen allzu Praktische darin. Sie halten sich gern und lieber freiwillig hieran: „In Ilmenau hat Goethe mit Karl August am ungebundensten, studentisch und grobianisch getollt; dort hat er sich auch in dem schönsten Gedicht, das je an einen Fürsten gerichtet worden ist, der stillen Vormundschaft über den jüngeren Freund begeben. Von Ilmenau gingen seine bewegendsten Bekenntnisse an Charlotte von Stein; in dieser Einsamkeit beschwichtigte er sein unruhiges Herz, sie schenkte ihm auf dem Gickelhahn das Nachtlied, das er an die Wand des Forsthäuschens kritzelte.“ Das ist wohl wahr.


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