Es begab sich

Es begab sich, dass die Mitarbeiter des Rates des Kreises Ilmenau, die damals noch allesamt Mitarbeiter waren, auch die weiblichen Geschlechts, zu ihrer alljährlichen Weihnachtsfeier in die Festhalle eingeladen wurden. Sie erschienen mit den, soweit vorhanden, Gattinnen und Gatten. Sie setzten sich an Tische, an denen sich untereinander bekannte, teilweise schon seit vielen Jahren gemeinsam hochprozentigen Alkohol im Dienst trinkende und die ihn enthaltenden Flaschen hinter eigens geleerten Aktenordnern versteckende Kollegen ein und derselben Abteilung traditionell zusammen setzten. Man hieb sich auf Schultern, klopfte sich auf Schulterblätter, das postrevolutionäre Umhalsen und Luftknutschen hatte noch keinen vollständigen Durchbruch in der Umgangskultur erzielt und blieb einzelnen Persönlichkeiten vorbehalten.

Die Versorgung mit fester Nahrung war in der Festhalle Ilmenau nicht durchgängig michelin-stern-würdig, das Bier war, zügig getrunken, leidlich genießbar und die an die Flaschen hinter den Ordnern gewöhnten Kollegen eilten mit den Gatten der Kolleginnen in gewissen regelmäßigen und zugleich kürzer werdenden Abständen aus dem Saal zur Theke, um in kleinen Gläschen Substanz zu sich zu nehmen, die an Wirkung mehreren Bieren überlegen blieb und die Entsorgungspflichten, die im Keller zu regulieren waren, in Grenzen hielt.

Als Gatte hatte ich mäßige Pflichten, grinste in der Gegend herum, denn wenn ich auch nicht bekannt war wie ein bunter Hund, einem dreifarbigen Hund kam ich doch bereits ganz schön nahe, zumal ich, wir enthüllen nun das Jahr des Ereignisses, anno 1989 bereits den Ruch eines seltsamen Menschen erworben hatte, der seinen herrlichen Job an der Technischen Hochschule vertauscht hatte zugunsten der vermeintlich unsicheren Existenz eines freiberuflichen Literaturkritikers. Ich hatte schon einen mehrfach angesetzten Versuch zu verarbeiten, den ein in Verkniffenheit agierendes Ministerium mit Hauptsitz Normannenstraße zu Berlin unternahm, mich aus einem gewöhnlichen Literaturkritiker in einen außergewöhnlichen zu verwandeln, der seine Texte nicht auf dem Postweg in Redaktionen, sondern auf dem Wege der konspirativen Wohnung in die Hände der Literaturüberwachungswilligen reichen sollte.

Einer, der dabei eine Rolle spielte, war auch ein Gatte, und als ich diesen Gatten sah, und als dieser Gatte mich sah, gingen wir aufeinander zu und reichten uns die Hand. Wir wechselten keine Worte. Nicht weil wir uns konspirativ prima verstanden hätten, sondern weil wir uns eigentlich überhaupt nicht leiden konnten. Und das schon mehr als zwanzig Jahre lang. Argwöhnische Augen verfolgten den Kontakt und im Verlaufe der folgenden Minuten wurde ich mehrfach in der Variationsbreite von Entrüstung bis Entsetzen, von Unverständnis bis hämischer Neugier befragt, wieso ich denn dieses Stasi-Arschloch grüße. Denn auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie die Gatten und Gattinnen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen waren inzwischen mutig geworden, solche Fragen zu stellen, weil es vollkommen und absolut ungefährlich geworden war, einen bekannten Hauptamtlichen so zu betiteln.

Ich warf mich in die Brust und sagte: Ich grüße dieses Arschloch, weil ich mit ihm acht Jahre gemeinsam in eine Schulklasse gegangen bin. Später hat sich das Arschloch, das ich nie so genannt habe, bei mir entschuldigt. Es war so ein wenig wie in jener moralsauren Politik, die wir zunächst noch nicht kannten. Also in der Art: Entschuldigung, liebe Fremdarbeiter, war nicht so gemeint, dass wir euch ausgebeutet haben und verhungern ließen. Soll nicht wieder vorkommen. Ich habe die Gunst der Stunde genutzt und gefragt, warum in meiner Akte, die ich seit 1993 kannte, vom Versuch, mich in einen Experten-IM zu verwandeln, nichts zu finden war außer einem leeren Deckblatt. Und er sagte, vorübergehend doch von einem erwachenden Stolz aufgerichtet: Das haben wir alles vernichtet und zwar richtig. Mit Wasser alles zu Brei. So gehe ich denn eines Tages aus dieser Welt und weiß zwar, wie mein Abschnittsbevollmächtigter, den ich nie wahrgenommen hatte, und meine Nachbarin aus dem fünften Stock in der Kopernikusstraße, mit der ich nie mehr als ein Grußwort auf der Treppe wechselte, einst meine Ehe beurteilten, nicht aber, was nun gewesen wäre, wenn diese DDR ihren Ungeist nicht aufgegeben hätte.


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