Spreekahn nach Charlottenburg

Manchmal ist es eine Geschichte, die ich lese. Plötzlich, und obwohl ich rasch weiß, wirklich groß ist diese Geschichte letztlich nicht, bin ich in eine andere Welt gezogen. Jeder Satz weitet den zunächst ganz schmalen Zugang in diese Welt, die weit weg bliebe, wenn es nicht solche Anstöße gäbe. Ich lese: „Denn die Grenze hatte die Straße in zwei Teile zerschnitten, und die Menschen, die jetzt auf der Plattform standen, waren auf der anderen Seite ebenfalls auf ihr entlang gegangen.“ Ich bin in Berlin, ich bin in der Oderberger Straße, weil ich von einem Bäcker dort die Morgenbrötchen zu holen habe, meine kleine Gegenleistung als Gast für meinen Gastgeber, der mein Freund ist. Auf der Plattform hinter der Mauer drängen sich noch nicht gaffenden Schulkinder, aber es gucken schon Leute, Westgesichter.

„Es war ihnen zuwider, angestaunt zu werden. Sie sahen keinen Grund dafür.“, lese ich weiter. Was mögen sie gedacht haben über den, der da mit einem Einkaufsnetz in der Hand, in seinen Feinkordhosen, seinem taillierten Hemd, wie das Mode der Siebziger war, den Bäcker ansteuerte? Die Haare sehr lang, der Reservistendienst stand noch bevor? Es war mir zuwider, angestarrt zu werden, ich war kein zweibeiniges Zootier aus dem Osten, das zur Futterstelle trabt. Und immer musste ich viele Treppen steigen. Der Fluch meiner Berliner Quartiere, alle lagen Seitenflügel oder Hinterhof, drei oder vier Treppen.

Die Geschichte, die ich lese, spielt in einer Kneipe, wenn man von spielen reden darf, denn es geschieht nichts in dieser Geschichte, was des Erzählens im strengeren Sinne wert wäre. Solche Geschichten schrieb ich damals auch, ein Magazin-Redakteur, dem ich sie einreichte, nannte sie „bürgerlichen Seelenkäse“. Verfilmt im Westen gerieten derartige Geschichten zu sterbenslangweiligen Studiofilmen, wie sie bisweilen an ARD-Montagen zu später Stunde, immer nach 23 Uhr, gezeigt wurden. Die Handkamera lieferte absichtlich verwackelte Bilder, die Akteure redeten mit unbewegten Mienen unglaublich tiefe Sätze und sahen aneinander vorbei. Es wurde permanent geraucht, die Frauen trugen Achselhaar.

Meine Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik hieß nach einem Intermezzo in Biesdorf vier Jahre lang Mulackstraße 25. Kochstube, das Klo eine Treppe nach oben, das Wasser eine Treppe nach unten. Mein kombinierter Gas-Kohleherd wärmte unglaublich schnell das Zimmer und war fast noch schneller wieder eiskalt. Die Kohlen holte ich mit der Sackkarre aus der Steinstraße. Manche alten Frauen holten ihre Kohlen in einem alten Kinderwagen oder mit einem elastischen Netz, das in jede Manteltasche passte, doch enorm dehnbar war. Weil die Kohlen im Keller gestohlen wurden trotz Schloss am Verschlag, lagen sie unter meinem Spültisch.

Ganze vierzig DDR-Mark hatte ich dem Möbelpacker in die Hand drücken müssen für einen Kleiderschrank, zwei Sessel und diesen Spültisch mit zwei großen Schüsseln, die man nach vorn ausziehen konnte. In meiner Geschichte ist vom Wohnen nicht die Rede, nur von einem Studenten, der in einer Anstalt war und schon einmal studiert hat. Angeblich sagt er immer, was er denkt und er verletzt damit andere. Das kenne ich. O, das kenne ich. Ob ich aber einer Frau, die mich fragt, ob ich sie malen würde, sagen könnte, sie sei kein Typ? Meine Wahrheiten waren eher von der Art: Ich steige nicht auf den Kyffhäuser-Fernsehturm, weil ich von da nicht Westberlin sehen kann. Das kam in die Gewerkschaftsversammlung.

So finde ich, obwohl nach zehn Seiten schon das Ende erreicht ist, nicht heraus aus der Geschichte, die „Im Spreekahn“ heißt und von Beate Morgenstern ist. Im April ist sie 65 Jahre alt geworden, Rentnerin also nach altem Recht und war, als sie die Geschichte schrieb, beim eben aufbrechenden Nachwuchs. Das hast du fein hingekriegt, lieber Gott, mit dem Älterwerden. Innen sind wir's noch, die wir hinter Jannowitzbrücke an der Mauer entlang schlichen, Peter zu besuchen, der nun längst weg ist aus Berlin. Außen aber, nach vier Treppen in Charlottenburg, die Tochter zu treffen, keuchen wir, halten uns am Geländer fest, bis die Luft wieder da ist.


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