Michael Bully Herbigs dumme Irrtümer

Dass zum Tag der Deutschen Einheit die dahingeschiedene DDR als Land, aus dem man floh oder von der Stasi bespitzelt wurde, ins Bild gesetzt wird, nebbich. Man merkt die Absicht und ist schon lange nicht mehr verstimmt. Sie sind halt so, unsere Großcousins und Onkel, um von Tanten und deren Schwestern nicht erst zu reden. Sie wissen wenig, aber alles besser. Sie müssen das studiert haben, sonst läge es ihnen im Blut und dann wäre der Boden nicht weit, aus dem das kroch oder so ähnlich. Der einstige Komiker Herbig, den im April auch schon der 55. Geburtstag ereilte, hat eine der spektakulärsten Fluchtgeschichten der DDR zweitverwertet, nachdem die erfahrenen Experten für real existierenden Sozialismus aus dem Hause Walt Disney es 1982 deutlich zeitnäher zuerst probiert hatten. Die beiden Familien aus Pößneck waren 1979 so etwas wie jetzt die schwarzen Krankenschwestern, die täglich in Dutzenden Booten nach Lampedusa sich treiben lassen, um in Europa den Pflegenotstand final zu beseitigen: sie begeben sich absichtlich in Lebensgefahr. Der Unterschied: im Luftraum über Franken gab es keine NGO-Retter: bei Absturz Nachruf in BILD.

Am Ende des überlangen Films ist es spannend geworden, beckmesserisch müsste ich sagen: zu spannend. Aber meine altgediente Fernsehzeitung liefert mir das Alibi: Herbig ist bekennender Hitchcock-Fan, was auch Truffaut schon war und also nachvollziehbar, Herbig ist demnach beim „Master of Suspense“ Lehrling im ersten Lehrjahr gewesen, wo man im Normalfall das Studio fegt oder das Bier für die Gesellen holt. Aber da bringe ich vermutlich etwas durcheinander. Als Bully Herbig geboren wurde, lag meine Jugendweihe fast auf den Tag ein Jahr zurück. An die sülzige Rede kann ich mich nicht mehr erinnern, mein „Weltall Erde Mensch“ lag noch Jahre später quer auf einem meiner Bücherregale. Auf eines aber verwette ich den Skalp aller meiner noch lebenden Westverwandten über 18 (es sind sehr viele): Nie hat ein Jugendweiheredner im Jahr des 30jährigen Bestehens der DDR und auch in allen sonstigen Jahren den 14-jährigen unter Hochhalten eines blauen Personalausweises gesagt, dass sie nunmehr mit diesem Dokument in den Händen Bier trinken könnten in den Stätten der sozialistischen Gastronomie. Es wäre nämlich gelogen gewesen. Bier trinken durfte man mit 16, zwei Jahre nach der Jugendweihe, wahlweise Konfirmation.

Bully Herbigs Film bleibt die Antwort auf die erste und naheliegendste Frage schuldig. Warum wollen diese beiden Familien denn überhaupt weg aus der DDR? Man könnte sich freuen, dass die übliche Freiheits-Soße nicht angedickt wurde. Irgendwie verdächtig waren beide Familien im Film für die Repräsentanten des Staates nicht, sie können also nicht irgendwie einschlägig aufgefallen sein zuvor. Einmal ist kurz die Rede von einem Bruder, der ins Zuchthaus kam, weil er in den Westen fliehen wollte: mit 14 Jahren. Doch kam man auch im Unrechtsstaat in diesem Alter ganz sicher nicht in ein Zuchthaus, allenfalls in einen Jugendwerkhof, vielleicht in den verschärften in Torgau, der schlimm genug war. Ich hatte eine nahe Verwandte ersten Grades, die eine längere Zeit als Schöffin tätig war und dort auch Verfahren erlebte, die alle Westkriterien für politische Justiz erfüllten. Einmal ging es um einen bis dato völlig unbescholtenen Mann, der im Suff DDR-Fahnen aus einer Halterung gerissen hatte mit dem begleitenden Spruch: „Rot Front, dass einem das Kotzen kommt“. Er sammelte 18 Monate ein, nachdem sich Schöffen gegen diese Strafe ausgesprochen hatten, ohne dass ihnen etwa anschließend der Dienst am Unrecht für immer verweigert wurde.

Dass der lokale Stasi-Mann gern „Drei Engel für Charly“ in Farbe sehen wollte: niedlich, niedlich. Ich kannte benachbarte Amtsträger, die für jene Tage, in denen wir Westbesuch hatten, ihre Wohnung uns gegenüber verließen, um jeden Westkontakt zu vermeiden. Aber ich habe eben leider nur meine DDR-Erfahrung, die höhere Hubertus-Knabe-Warte geht mir ab, wobei ich wenigstens gestehen will, dass, geistig gesehen, kein Familienname je passender war an einem Hubertus. Meine Fernsehzeitung teilt mir mit: „Akribisch achtete er bei der Arbeit auf jedes Detail, damit niemand denkt: Jetzt kommt der Komiker aus Bayern und will uns was über die DDR erzählen.“ Das wollte er ja, dass er Komiker war, erschwert die Sache nicht. Jeder kann uns was über die DDR erzählen, er muss da nicht gelebt haben, nur muss er sich kundig machen vorher. Der harmlose Witz, den er vortragen lässt und der angeblich seinen Erzähler in höchste Gefahr hätte bringen können: Nebbich. Mit solchen Witzen kamen mittlere und höhere SED-Genossen regelmäßig von den Schulungen in Berlin oder Kleinmachnow zurück, lachten selbst am lautesten darüber. Mir ist in den 90er Jahren nicht selten begegnet, dass Leute nach Akteneinsicht enttäuscht waren: niemand hatte sie bespitzelt.

Was ich doch immer für Witze erzählt habe in der Bahnhofskneipe, sagten sie etwa. Und ich antwortete mit dem Wissen aus meiner Akte und den Akten einiger Freunde: Angehörige der so genannten Arbeiterklasse hatten in ihrer DDR weitgehend Narrenfreiheit, die durften sogar gegen Kaffemix streiken, ohne dafür in Bautzen zu landen. Stasi-Neugier galt den Intellektuellen, den Verschwörern vermeintlich feindlich-negativer Gruppenbildungen, die sich zu Lyrik-Lesungen versammelten oder Seminare in Privat-Wohnungen abhielten oder jemand kannten, der jemanden kannte. Proleten-Witze erfand die Stasi vermutlich gar nicht selten selbst. Die mit Riesenabstand interessanteste Figur des Films, der Stasi-Oberstleutnant Seidel, könnte einer gewesen sein mit dem nötigen schwarzen Humor und dem nötigen Erfindungsreichtum. So weit, so schlecht oder gut. Die interessanteste Figur danach ist die Kindergärtnerin Ulrike Piehl, deren Namen man nur aus der Besetzungsliste erfährt: sie verpfeift Kind und Familie nicht und hat sogar eine pfiffige Erklärung parat. Der Oberst weiß, dass er belogen wird. Aber er weiß auch, dass er sich kräftig selbst belügt.

P.S.: Den Personalausweis der DDR bekam man mit vollendetem 14. Lebensjahr, mit der Jugendweihe, der Konfirmation oder was auch immer sonst, hatte er nichts zu tun. Der Vater konnte katholischer Priester, kommunistischer Stasi-Spitzel, die Mutter Klofrau oder Komikerin sein.


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