Heinrich Federer: Erzählungen

Das zumindest darf man ein Phänomen nennen: Als 1908 die Berliner Zeitschrift „Daheim“ ein Preisausschreiben für die beste deutsche Novelle veranstaltete, erster Preis 5000 Mark, hatte sie eine dreiköpfige Jury berufen zur Begutachtung der eingesandten Manuskripte. Carl Hermann Busse (12. November 1872 – 3. Dezember 1918), Hans Hoffmann (27. Juli 1848 – 11. Juli 1909) und Hermann Hesse bildeten das Trio, das sich schließlich entschied, die spät eingesandte Novelle „Vater und Sohn im Examen“ auszuzeichnen, als deren Verfasser sich der bis dahin weithin unbekannte Heinrich Federer (7. Oktober 1866 – 29. April 1928) erwies. „Daheim“ war ein illustriertes Familienblatt, das seit 1864 und noch bis 1943 ununterbrochen erschien, äußerlich nahm es die Anmutung der „Gartenlaube“ zum Vorbild, innerlich bevorzugte es konservative Positionen. Und ausgerechnet der jüngste im Bunde, Hesse, muss früh ein sehr gespaltenes Verhältnis zum Schweizer Federer entwickelt haben, denn nirgends, buchstäblich nirgends, in seinem umfangreichen literaturkritischen Werk, in seinem noch weit umfangreicheren Briefwerk taucht der Name Heinrich Federer auf. Befiel den belesenen Hesse, als ihm der Name aus dem geöffneten Briefumschlag bekannt wurde, womöglich eine bestimmte Ahnung, gar Erinnerung?

Wer heute überhaupt irgendetwas mit dem Namen Heinrich Federer verbindet, der kein Tennisspieler war, es wird eine verschwindende Minderheit sein, ahnt, worauf ich hinaus will. Denn wohl rümpfen wir heute folgsam die Nase, wenn uns von „Gartenlaube“ gesprochen wird oder eben von „Daheim“, das wir freilich gar nicht kennen, unser Hang zum Klatsch und Tratsch, unser Voyeurismus, ist unausrottbar. Noch der SPIEGEL rüsselt biographisch weit lieber im Intimleben seiner für würdig befundenen Personen als in deren Werk zu turnen. Und so haben wir, wenn überhaupt, neuere Beschäftigung mit Federer als „Fall Federer“ wie beispielsweise bei Pirmin Meier, Jahrgang 1947. Die „Weltwoche“ nannte Meier 2002 „Chronist des Unzüchtigen“, was mindestens irritierend wirkt. Meier erinnert noch 2013 in „Zentralschweiz am Sonntag“ an den „Fall“ und eine im Querverlag Berlin 2007 erschienene Publikation „Schwule Orte“ widmet sich „150 berühmt-berüchtigte(n) Schauplätze(n) in Österreich, Deutschland und der Schweiz“, Autor Axel Schock (Jahrgang 1965) wartet darin bezüglich Federer mit einem Detailreichtum auf, etwa richterliche Anus-Inspektionen betreffend, dass man schon fragen darf, wer das wirklich wissen möchte. Immerhin: Es geht um die folgenreiche Nacht zum zweiten August 1902.

Die wir in zugegeben etwas billiger Manier an dieser Stelle erst einmal gleich wieder ausblenden, weil wir am 150. Geburtstag von Heinrich Federer, sein Geburtshaus steht in Brienz am Brienzer See, eben nicht von seiner Homosexualität schreiben wollen, allenfalls von ihren Manifestationen in der Erzählprosa, die hier zum Gegenstand gemacht ist. Das Bändchen mit dem allzu kargen Titel „Erzählungen“ steht schon sehr lange in meinem Regal, es erschien 1956 im Leipziger St. Benno Verlag und eröffnete als Nummer 1 in sehr heftig an die Insel-Bücherei erinnernder Aufmachung die Reihe der „Benno-Bücher“, eine „Reihe religiöser Erzählungen“. Ich gebe zu, dass es just dieser Untertitel war (und ist), der meinen Lesedrang bremst, ohne dass ich mich dagegen wehren kann. Ich habe, ob ich will oder nicht, sofort Assoziationen zu Traktat-Literatur, Erbauungsschriften und was einem so unbedarft einfällt. Dass ich nicht ganz aus der Art falle, macht der überaus verdienstvolle Neuherausgeber Charles Linsmayer (Jahrgang 1945) nachvollziehbar, der sein gesamtes Anliegen, wie es nachlesbar ist im Nachwort zum Band mit Meistererzählungen Federers, 1981 unter dem Titel „Gerechtigkeit muss anders kommen“ erschienen, darauf richtet, Federer aus einseitiger und eben auch ungewollte Wirkungen nach sich ziehender Vereinnahmung zu lösen.

Für Charles Linsmayer war es 1981 vollkommen klar, dass Heinrich Federer für die Gegenwart zu entdecken sei, 35 Jahre später ist leider zu konstatieren, dass der Versuch, die Initialzündung dazu auszulösen, nicht von Erfolg gekrönt war. Man schaue sich die sprechende Trefferquote einer Google-Suche nach „Heinrich Federer 150“ an, um zu sehen, dass es im Grund noch viel schlimmer ist. Am 26. Oktober gibt es im Bruder Klaus Museum in Sachseln (übrigens sehr zu empfehlen) etwas wie eine literarisch-musikalische Matinee und das war es dann auch schon. Natürlich hat Sachseln allen Grund, das Jubiläum zu feiern und alle Freiheit, wann und wie. Denn die Familie Federer zog drei Jahre nach Heinrichs Geburt nach Sachseln, dort besuchte er die Schule, ehe er zum Gymnasium in Sarnen wechselte (übrigens immer einen Besuch wert als Hauptort des Kantons Obwalden). An der Kirche zu Sachseln findet sich eine Gedenktafel für Federer, der Ehrenbürger des Ortes ist, obwohl er nach der Geschichte von 1902 seine Urheimat mied. Er starb in Zürich, ohne je die Orte seines frühen Lebens wiedergesehen zu haben, die in seinen Werken aber unbeirrt präsent blieben. Das tiefste Bekenntnis zu Sachseln und Umgebung liegt in der fortlaufenden Beschäftigung des Dichters Federer mit Niklaus von Flüe, der 1947 heilig gesprochen wurde.

Ihm gilt das Buch „Geschichten aus der Urschweiz“, ihm gilt das Buch „Niklaus von Flüe“, dem übrigens auch der oben genannte Pirmin Meier ein umfangreiches Werk gewidmet hat. Die Wanderung zum „Ranft“ von Bruder Klaus, wie er in der Innerschweiz und nicht nur dort genannt wird, hat selbst für all jene große Schönheit, die sich nicht auf Bittgang befinden oder Pilgerpfaden und der durchaus beschwerliche Wiederaufstieg bringt echtes Konditionstraining nebenher, für das auch bekennende Atheisten bisweilen Motivierung benötigen. Das Benno-Buch vereinigt vier Geschichten, von denen drei ins Mittelalter führen, eine ins frühchristliche Rom. Eine dieser Geschichten hätte, als der deutsche Papst Benedikt XVI., bürgerlich Joseph Ratzinger, Anfang 2013 seinen Amtsverzicht erklärte, kurz neue Popularität gewinnen können, denn sie handelt von einem Papst, der das reichlich 700 Jahre früher auch schon getan hatte, von Cölestin V., der nur vom 5. Juli bis 13. Dezember 1294 Papst war und dann abtrat. Heinrich Federer zeigt den frommen Einsiedler, der schon nicht Papst werden wollte: „Er ist der erste Papst, der Rom nie sah, und der einzige, der es nie zu sehen wünschte.“ Federer erzählt seine Geschichte aus fundiertem historischen Wissen heraus und bekennt schon eingangs sein ganz persönliches Berührtsein im Anblick der Grabplatte.

„In der Kirchengeschichte gibt es manchen genialen Augenblick. Diese Entkleidung vom Papst zum Waldbruder war einer der großartigsten, eine Gnade für die Christenheit, aber auch eine gewaltige Predigt.“ Das ist eher die Sprache des distanzierten Historikers als die des Erzählers. Und eben doch auch die des Priesters, der Federer ja einige Jahr war (1893 – 1899 als Kaplan in Jonschwil, Toggenburg, das im Erzählwerk als Lachweiler erscheint). Diese und die anderen Geschichten haben einen spürbar kritischen Zug und da ist es wiederum hochinteressant, dass Herausgeber Lorenz Drehmann in seinem knappen Vorwort vom April 1953 (das Buch erschien endlich 1956, als der Eingangshinweis des Vorwortes auf den 25. Todestag als Anlass bereits verjährt war) genau das vollständig ausblendet. Das geschieht auf subtile Art: bei Drehmann „erscheint“ Franz von Assisi einfach am Sterbebett des großen Papstes Innozenz III., in der Erzählung aber hat Franz dreimal Wichtigeres vor als den Papst beim Sterben zu begleiten und genau dieses Wichtigere ist die eigentliche Botschaft des Erzählers. Denn Franz, der auch „Poverello“ genannt wird, galt bei Lebzeiten eher als Narr Gottes und die Hinwendung eines katholischen Dichters zu ihm und ähnlichen Persönlichkeiten wie Bernardin von Siena ist eben keine ignorierbare Nebensache.

Die mit deutlichem Abstand längste Erzählung des Bandes heißt „Eine Nacht in den Abruzzen“. Ein Ich-Erzähler, den man wohl mit Federer weitgehend identifizieren darf, landet während einer Wanderung an einem sehr gewittrigen Tag gegen Abend in einer einsamen Kapelle. Dort trifft er auf Bekannte, mit denen er unfreiwillig die Nacht verbringen muss, weil der Weg zur nächsten Hütte zu gefährlich ist. Ein chilenischer Knabe mit Namen Ximenes schmiegt sich an ihn und er nimmt ihn unter seine Pelerine. Der Knabe fordert ihn in Kenntnis seiner Tätigkeit als Verfasser von Geschichtenbüchern auf, etwas zu erzählen. Und der Erzähler bequemt sich ein wenig umständlich dazu vom heiligen Tarcisius zu erzählen, der gern ein Held sein will und vom Papst Cajus genau deshalb mit einem gefährlichen Auftrag aus den Katakomben von Rom zu den gefangenen Christen gesandt wird, weil er als einziger die Chance hat, bis dahin überhaupt vorzudringen. Tarcisius wurde von jungen Römern getötet und erlangt so just das Martyrium, das er eigentlich mit einer nur symbolische Tat erreichen wollte. In Zeiten von jugendlichen Selbstmordattentätern, die von geistlichen Oberhäuptern ausgeschickt werden, liest sich das anders und keinesfalls erbaulich. Gegen diese Hürde sind die unerträglich vielen Diminutive des Textes fast lässliche Sünden.

„Eine Nacht in den Abruzzen“ kann wohl nur noch gegen seine Intention gelesen werden als Geschichte von der Verführbarkeit jungen Glaubenseifers. Ihr Autor Heinrich Federer aber offenbart in ihr mehrerlei Interessantes. „Ich erzähle gern, tausendmal lieber als ich schreibe, und hoffentlich auch tausendmal besser.“ Das muss nicht kommentiert werden. „Zwischen dem, der spricht, und dem, der horcht, sollte es nicht undurchdringlich dunkel sein. … man muss sich im Gesicht des andern beobachten, stärken, erquicken können. Dann erst lebt die Geschichte, glänzt, fliegt, reißt das Herz mit“. Auch das ist deutlich genug. „Der Heilige Vater lächelte immer zufriedener. Also der Junge hat Kühnheit! Er hat auch Scham! Das ist die rechte Mischung zum Helden.“ Da gab es doch andere Dichter, die die Zeit bedauerten, die Helden nötig hat. Dann aber kommt es: „Was würde aus uns, wenn alle sterben wollten? Es braucht auch Martyrer des Lebens, nicht nur des Todes. Das Sterben ist jetzt leicht, aber das Leben ist schwer.“ Das sagt in der Binnenerzählung Sebastian, der Hauptmann der kaiserlichen Palastwache. Ist das nicht ein großartiger Gedanke: Es braucht Martyrer des Lebens! Es folgt der Satz: „Das Sterben ist jetzt leicht, aber das Leben ist schwer.“ Die peinigende Frage könnte lauten: Sind Flüchtlinge Martyrer des Lebens oder des Todes?

Nein, Vorlagen für schnelle oder gar billige Antworten liefert Heinrich Federer nicht. Ein Satz aber rührt an den Grund seines Seins: „Junggesellen haben oft mütterliche Empfindungen und brauchen sich ihrer wahrlich nicht zu schämen.“ Das ist die verborgene Rechtfertigung einstigen Tuns, darf man annehmen, denn als Federer sich gegen die Missbrauchsvorwürfe des Jahres 1902 wehrte, als er angeblich dem zwölfjährigen Brunner zu nahe trat, sah er es wohl so. Bei Axel Schock heißt es: „Federer, väterlicher Freund und Erzieher des Zürcher Jungen, hatte sich seiner angenommen, weil Emils Vater kurz zuvor einen Unfall erlitten und die Mutter kränklich war und unter ärztlicher Betreuung stand.“ Hätte es nicht viele Jahre später den großen Skandal um die Odenwaldschule gegeben, läse man dergleichen mit weniger unguten Gefühlen. Federer aber, das sei zwingend gesagt, wurde von der Anklage freigesprochen. Nur war sein Ruf auf lange Sicht geschädigt, was, siehe oben, vielleicht bis zu Ohren von Hermann Hesse drang. Der sich, wenn es so war, gewissermaßen sogar pro domo entrüstete. Denn just diese Anfechtungen waren ihm alles andere als fremd. Dem Knaben Ximenes sagt der Erzähler: „Aber diese Engel und Heiligen sind nicht erfunden, sonst wären sie schon längst wie ein Märchen ins Schlaraffenland und in die Bücher geflohen. Statt dessen leben und wirken sie. Man fühlt sie tausendmal. Man sah, hörte, genoss sie.“ Und beeindruckt ihn tief.

Von Bernhardin von Siena schreibt Federer: „Im Garten des Klosters fing er an, mit den Schmetterlingen zu plaudern, aber – denn dies sind die Aristokraten – noch lieber mit den Käferchen, Spinnen und Ameisen.“ Auch sein Franz von Assisi repariert ein von ihm beschädigtes Spinnennetz mit dünnen Fäden des eigenen Gewands, ehe er zum Papst geht. Hermann Hesses Faszination durch Schmetterlinge wäre also auch als Neigung zum Aristokratischen zu lesen, Hesse hat selbst ein Büchlein über den „Poverello“ geschrieben und war mit der Materie mehr als vertraut. Es ist nicht die schlechteste Eigenschaft von Literatur, wenn sie Gedanken zum Schweben bringt, da darf der Autor am Ende auch schon ganz weit weg sein. „Keinem Großen ist die paulinische Erfahrung vom falschen Bruder erspart.“ lese ich und finde mich irgendwo zwischen Jesus und Paulus und Deutungen, von denen ich bisher gar nichts wusste. Ich danke es Federer, obwohl ich zweifellos auch auf anderen Pfaden in dieses Dickicht hätte geraten können. Über den gemaßregelten Bernardin sagt er schließlich: „Es war das demütigste und gehorsamste Silentium, das man je an einem Gescholtenen wahrnahm.“ Man muss nicht krähen wie der Hahn auf dem Mist, heißt das. „Er ist so das Vorbild aller Edlen geworden, denen von dort, wo das Recht kommen müsste, Unrecht geschieht.“ Wenig ist das nicht, will ich meinen: gerade dafür ein Vorbild.


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