Mini-Hommage für Carl Seelig

Nur auf den allerersten ahnungslosen Blick ist es komisch, immer sofort auf Robert Walser zu stoßen, sobald man versucht, sich mit Carl Seelig zu beschäftigen. Das ist ein Satz, den ich noch vor wenigen Jahren nicht gewagt hätte, denn ich wäre davon ausgegangen, dass Robert Walser bekannter als bekannt ist und folglich alle, die gar nicht anders können, als Walser-Liebende zu sein, auch mit dem Namen Seeligs etwas anfangen können. Inzwischen aber weiß ich, wie sehr ich irre, wenn ich immer noch den DDR-Blick der landesweiten Bücherkenner-Gemeinschaft in mir habe, wo heute doch nicht einmal mehr ein Mädchen in einer Zeitungsgeschäftsstelle mit den Namen der eigenen Autoren etwas anfangen kann, die fünfmal die Woche das Blatt zieren, das sie zu vertreten hat. Wie soll also, wer Walser nicht kennt, Seelig kennen?

Fünfzehn Jahre ist es her, da wir, aus Walzenhausen oberhalb des Bodensees kommend, nach einem Ausflug in den katholischen Kanton Appenzell-Innerrhoden auch das evangelische Pendant, Appenzell-Ausserrhoden sehen wollten. Als Spätaufsteher kamen wir wie immer am Ziel auch in Herisau an, als dort auf gut schweizerisch die Bürgersteige für die ausführliche Mittagspause hochgeklappt waren, alles, was schließbar war, war geschlossen, die Kirchen ohnehin, wie das bei den Evangelischen üblich ist. Wir tappten ein wenig durch den ziemlich dicken Nebel, der sich auf Schleichwegen offenbar vom Bodensee, der von Walzenhausen aus wie eine gigantische Milchsuppenschüssel wirkte, in die kleine Kantonshauptstadt gewagt hatte. Wir waren, wie uns später klar wurde, nicht ganz an der richtigen Stelle gelandet, fanden doch noch ein katholisch-gastfreundliches Gotteshaus, in dem wir ein wenig saßen, ehe wir beschlossen, dann doch lieber die Schaukäserei in Stein zu besichtigen. Immerhin redete ich ein paar kurze Worte über Robert Walser daher, der hier in Herisau seine letzten Lebensjahre verbracht hat, ehe uns die Käserei mit dem Umstand beglückte, dass dort die Arbeit für diesen Tag beendet war, deren Schauwert wir eigentlich genießen wollten.

Es vergingen einige Jahre, ehe wir von Urnäsch her, wo es eine ganz neue Käserei gibt mit einem Mutschli, der vor dem Messer zurückweicht wie eine gut erzogene Jungfrau vor der schließlichen Hingabe, eine neue Einfahrt in Herisau wagten. Diesmal hochprofessionell mit navigationsgeleiteter Einfahrt in eine Tiefgarage, mit zielstrebigstem Anmarsch auf das Museum im Zentrum, wo wir sofort behandelt wurden, als wären wir erwartet worden. Wir kauften nicht nur die Broschur „Robert Walser. Herisauer Jahre 1933 – 1956“, deren Rückentitel den toten Walser im Schnee zeigt, wie er gefunden wurde zu Weihnachten 1956, wir begaben uns auch auf den Robert-Walser-Pfad, freilich nur auf einen Teil, den bis zu seinem Grab. Der freundliche ältere Herr aus dem Museum ging eigens mit uns vor die Tür, um uns exakt die Richtung zu zeigen, die er uns nicht wortreich erklären wollte. Was für ein seltsamer Mann ist das gewesen, von dessen späten Jahren ich lange mehr wusste als von dessen Werken selbst, weil ich eben Carl Seeligs „Wanderungen mit Robert Walser“ gelesen hatte. Das Büchlein war, mit einem Nachwort von Anne Gabrisch, 1989 im Leipziger Reclam-Verlag erschienen für 1,50 Mark, als Lizenz der Suhrkamp-Ausgabe von 1977. Ich las es Mitte Oktober 1989. Am Tag, nach dem ich es zurück ins Regal gestellt hatte, erfuhr die Welt, dass Erich Honecker von seinen Ämtern zurückgetreten sei. Das war der 18. Oktober.

Carl Seelig ist, nach einer längeren Vorgeschichte, die hier nicht ausgebreitet werden kann, 1936 erstmals nach Herisau zu Walser gefahren und es ist ihm gelungen, auf Wanderungen gelungen, dem großen Dichter, der dauerhaft in der psychiatrischen Klinik lebte, so nahe zu kommen, dass Gespräche zustande kamen, dass Fragen beantwortet wurden. Carls Seeligs Aufzeichnungen über die Wanderungen beginnen mit dem Datum 26. Juli 1936, sie enden mit einer Notiz über Weihnachten 1955 und einem Nachtrag über das Ereignis am 25. Dezember 1956. Es ist Hämisches und Hochmütiges über diesen Carl Seelig geschrieben worden, der am elften Mai 1894 in Zürich geboren wurde und damit ein Jahrgangsgefährte von Oskar Maria Graf und Joseph Roth, von Gertrud Kolmar und Hanns Henny Jahnn, von Ludwig Marcuse und der neuerdings erst wiederentdeckten Gabriele Tergit war. Über seine Werke, er schrieb in jungen Jahren beispielsweise auch Gedichte, von denen vier in einer Anthologie erschienen, in der auch Robert Walser vertreten war, wird heute meist vornehm geschwiegen. Neben dem Walser-Buch soll allein seine Albert-Einstein-Biographie bleibenden Wert besitzen, ich kenne sie freilich nicht und will es deshalb gern glauben. Seeligs Verdienste werden vor allem immer dann gewürdigt, wenn es um die Darstellung der Schweiz als Exilland geht.

Da hat sich Seelig als ein unermüdlich Aktiver erwiesen, der half, wo er helfen konnte, der vermittelte, wo er vermitteln konnte. „Selbst zeitraubenden Briefwechsel über mehrere Ländergrenzen hinweg scheute er nicht, wenn es galt, einem Schriftsteller mit Papieren für ein Visum, mit Geld für die Ausreise in ein anderes Land zu helfen.“ heißt es in Werner Mittenzwei's „Exil in der Schweiz“ und wenige Zeilen später: „Für Hermann Hesse ging er Farben und Papiere einkaufen.“ Mit etwas Phantasie könnte ich mir einreden, das Original des Hesse-Aquarells, dessen Kopie, reicher bin ich leider nicht, unser Speisezimmer ziert, sei mit Farben entstanden, die Seelig anschleppte, aber ich mag es nicht übertreiben. Rudolf Jakob Humm (1895 – 1977), ein Schweizer Schriftsteller, der hierzulande wohl noch unbekannter ist als Seelig, bescheinigte letzterem eine „mangelhafte Intelligenz“ um dann fortzusetzen: „Seine Größe war die des Herzens. Er war der Herbergsvater aller notleidenden Literaten.“ Ich möchte zugunsten Humms annehmen, dass er keiner umgekehrten Proportionalität von Herzensgröße und IQ das Wort reden wollte, das würde seinerseits von mangelhafter Intelligenz zeugen, wie ich sicherheitshalber glauben will. Heute vor genau 50 Jahren starb Carl Seelig in Zürich.


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