Carl Albrecht Bernoulli: Gedächtnisrede auf Gottfried Keller

Altersentsprechend gut erhalten nennen Antiquare dergleichen Ausgaben, bisweilen weisen sie eigens darauf hin, dass es keine Anstreichungen gibt, allenfalls einen Vorbesitzer-Stempel, und dass das Papier gebräunt ist. Mein Exemplar der „Gedächtnisrede auf Gottfried Keller“, gehalten im Basler Münster am 5. Juli 1919, es war die Baselstädtische Hundertjahrfeier, ist an den Rändern gebräunt und enthält massive Anstreichungen: meine eigenen nämlich. Der Eigentümerstempel verweist auf einen in der Neubadstraße 132 wohnenden Besitzer, der Telephon noch mit ph schrieb. Die Heftklammern sind schon ziemlich rostig, das Rostrot hat an manchen Stellen bereits leicht aufs Papier durchgeschlagen. Das ganze entstammt dem Verlag Benno Schwabe & Co in Basel: 1919. Bliebe die Frage, wer denn da redete im Münster: Carl Albrecht Bernoulli. Er hatte seinen fünfzigsten Geburtstag bereits hinter sich, gutes Festredneralter also, und lebte danach noch bis zum 13. Februar 1937 weiter. Carl Albrecht Bernoulli, geboren am 10. Januar 1868, war Schriftsteller und evangelischer Theologe. Als solcher erlebte er 1926 noch seine späte Berufung zum außerordentlichen Professor für Kirchengeschichte. Dass er nicht eher berufen wurde, soll mit seiner Schrift „Die wissenschaftliche und die kirchliche Methode in der Theologie“ von 1897 zusammenhängen. Das Theaterlexikon der Schweiz führt ihn als produktiven Bühnenautor.

Darauf wäre nicht unbedingt eigens hinzuweisen, denn bedeutende Theatererfolge waren ihm keine beschieden, immerhin aber wurden seine Stücke gespielt, wobei die Uraufführungen bisweilen viele Jahre auf sich warten ließen, meist in Basel, einmal aber auch in Zürich, einmal in Gottlieben. An jenem 5. Juli aber, da er seine Gedächtnisrede hielt, wurde im Park des Sommercasinos Basel sein „Gottfried-Keller-Spiel“ aufgeführt. Auf das hier nicht näher eingegangen wird. Immerhin soll noch auf seine Tätigkeit als Nietzsche-Experte verwiesen sein, als der er sich vor allem in Weimar keine Freunde machte, das aber wäre eine ganz andere Geschichte. Seine Rede über Gottfried Keller, das vorab, zeugt nicht nur von souveräner Beherrschung des Gegenstandes, sie wirkt in nicht wenigen Passagen auch hundert Jahre später noch oder wieder erstaunlich modern. „Wir grüßen den Tag“, hörte die hochgeehrte Festversammlung, „weil er unser Land mit der deutschen Sprache bestrahlt und weil zudem dieser Glanz über die Grenze des Landes und der Sprache hinüberleuchtet. Drei Tugenden glänzen an dem verewigten Meister auf: der Künstler, der Bürger, der Europäer.“ Und: „Wir beweihräuchern nicht in dünkelhafter Verblendung eine patriotische Miniatur. In Gottfried Kellers hundertstem Geburtstage dürfen wir eine geistige Weltbegebenheit erblicken.“ An der Weltbegebenheit Keller, morgen der 200. Geburtstag, ist nicht zu zweifeln, wohl aber am Erblicken.

„Kellers dichterische Künstlerschaft entsprang der malerischen Sehgewalt.“ Man müsste weit ausholen, alle Implikationen einer solchen klaren wie dezidierten Aussage auszuschöpfen. Leugnen wird das kaum jemand, der sich auch nur ein wenig mit Keller befasst hat. Es könnte aber die Frage entstehen, wie es sein kann, dass ein gescheiterter, ein mäßiger bis mittelmäßiger Maler zu eben dieser speziellen, sehr optischen dichterischen Meisterschaft gelangen konnte. Die Antwort ist schlicht: Es kann sein. Mittelmäßige Fußballer sind großartige Trainer geworden, großartige Fußballer sind als Trainer kläglich gescheitert. Keller hat seine starke Zweitbegabung zu einer noch stärkeren Erstbegabung verholfen. „Er schrieb eine deutsche Prosa, wie kein Lebender seiner Zeit – fürwahr kein geringes Lob für einen Zeitgenossen Stifters, Storms, Heyses und Schopenhauers.“ Den Namen Goethes klammert Bernoulli aus, andere Autoren scheuten sich nicht, Kellers Prosa auch über Goethe zu stellen. Man muss keinen Prinzipienstreit daran knüpfen, mir würde auch der Name Heyse allenfalls für die Reihe der Zeitgenossen einfallen. Das Messen an den allerhöchsten Maßstäben hat ohnehin immer die Nebenwirkung, auf alle Fälle den Autor, oft aber auch dessen Leser, zu entmutigen. „Die Weise, wie er Wörter und Sätze zu wählen, zu mischen wünscht, erinnert an die angeriebenen Farben der Palette.“ Von gegenständlicher Malerei geht da die Rede.

Der Festredner Bernoulli hielt an seinem Bezug zur Malerei fest, um seinen Thesen Prägnanz zu verleihen: „Man hält nicht eben mehr viel von der Münchner Malweise der vierziger Jahre … Keller mag durch sie zur möglichst treuen Wiederhabe von Einzelheiten angeleitet worden sein und so, indem er der ihn umdrängenden Eindrücke sich erwehrte, in einer Art Verzweiflung zum Erzähler geworden sein. In seinem Übertritt zur Dichtung liegt fast eine Kritik der deutschen Malweise jener Jahre.“ „Der große Fortschritt von Kellers Stil über die Romantiker hinaus liegt in einem viel größeren Reichtum der aufgetragenen Farben und auch einer weit lebhafteren Kraft ihrer Mischung.“ Bernoulli folgt den Farben in den Texten Kellers, man kann das mit Vergnügen nachspielen und muss sich gar nicht quälen, irgendeinen tiefsinnigen Interpretatorensatz halbwegs zu verstehen dazu. Wer von denen fand schon, dass „als führender Gegensatz Schwarz selten ist“ bei Keller? Und sofort anschließend, dass die optische Prädisposition eine Kehrseite hat, die sich meldet „in einer gewissen Vernachlässigung seiner Gehörkultur“? Mir fallen sofort Sätze aus dicken Keller-Biographien ein, die diese oder jene Novelle derart gnadenlos überfrachten und überinterpretieren, dass ich mich regelmäßig frage, ob den Herren (meist sind es welche) genau das verloren gegangen ist, was hier so überzeugend als das Kellersche gesehen ist, nämlich das Sehen.

Für Carl Albrecht Bernoulli war Keller „kein Wirklichkeitsdichter im heutigen Sinne“ - „so sehr in seinem Werke das eigene Leben vorherrscht, so autobiographisch sein Schaffen durchzogen ist, führt bei ihm nie der Stoff die Entscheidung herbei, immer erst die Übersetzung des Stoffs in die künstlerische Erscheinung.“ „Gottfried Keller ist so sehr und in einem so besonderen Maße Dichter, dass seine Herrschaft in der Tiefe, nicht in der Fläche verläuft und zwar in einer Tiefe, in die man nicht von außen her eindringt, aus der vielmehr unzulängliche Ursprünge geheimnisvoll emporquellen.“ Manch professioneller Keller-Leser hängt dann so heftig an diesem Emporquellen, dass er die Oberfläche, zu der es quillt, gar nicht mehr wahrnimmt, es ist dann kein Tunnelblick, sondern ein Blasenblick mit Blendwirkung. Und Goethe kommt ins Spiel: „Auch in der Wucht der Verben tut er es dann dem jungen Goethe einigermaßen gleich“. Das Artistische bei Keller führte dazu, dass er „zunehmend und manchmal bis an die Grenze der Peinlichkeit auf zünftige Handfertigkeit Gewicht legt.“ Nein, ein Beweihräuchern Kellers klänge anders. „Was ihn von vornherein unter den Großen des Weltschrifttums erhält, ist die makellose Formnatur, sobald man seine gesammelten Werke auf ihre innere Einheit hin betrachtet. „Gottfried Kellers Werk ist in diesem organischen Sinne strengstes Eigengewächs“, das auch den Goethe-Vergleich erträgt.

„In der Art, wie Keller in einem sich beständig mehrenden Besitztum Meister bleibt, wie er sein Ich Herr werden lässt über den unablässigen Ansturm der Eindrücke und Kenntnisse, übertrifft er auch Goethe“. Und das ewige Thema Keller und die Frauen? Zu dem im Jubiläumsjahr 2019 ganz wundersamer Weise kein einziges Buch erschien, zu Fontane gibt es gleich mehrere? „Den Mangel an Erlebnisgelegenheiten münzte sich Keller zum Vorteil aus namentlich als Frauendarsteller. Hier wird die Einheit des Typus bei außerordentlicher Reichhaltigkeit der Einzelexemplare auf unerreichte Weise durchgehalten. … Die deutsche Sprache besitzt keinen so zarten und doch so konkreten Erotiker wie diesen Schweizer Hagestolz.“ Die eingangs betonten drei Tugenden Kellers stellen den Bürger neben und nach den Künstler, der Europäer kommt zum Schluss, aber er kommt. Und der Redner beginnt mit jener gern kolportierten Episode, die mit Kellers Ernennung zum Staatsschreiber des Standes Zürich verbunden ist: er verpennte an seinem allerersten Arbeitstag. Den Kommentar dürfte Carl Albrecht Bernoulli dann aber heute schon nicht mehr vortragen, die Sprachpolizei würde mit ihren Handschellen klappern: „Das war der zigeunerhafte Auftakt zu einer wahrhaft musterhaften Beamtenlaufbahn.“ Es gab, so der Redner, ein heftiges Champagnergelage am Vorabend, mit den Herren Ferdinand Lassalle und Georg Herwegh, hinreichend bekannt beide.

Ähnlich wie beim Minister Goethe ist auch beim Staatsschreiber Keller immer wieder das seltsame Klagelied angestimmt worden, das Amt hätte ihn vom Dichten abgehalten, verbunden mit der Vision, wir hätten herrliche Werke mehr, wenn die beiden, statt ihrem Staat zu dienen, am Tisch gesessen hätten zu Hause mit der zerkauten Feder in der Hand. Natürlich belastete es Goethe irgendwann, natürlich hatte Keller bisweilen die Nase voll. Aber wenn alle deutschen Dichter ordentlichen Berufen nachgehen würden, hätten wir deutlich weniger überflüssige Bücher und die die es dennoch gäbe, wären womöglich deutlich besser. Nein, die Heimat hat Keller nicht schlecht behandelt, aber die tägliche Spannung zwischen ihm und seiner Welt hatte, so Bernoulli in einer wirklich frappierenden These, Kellers Humor zur Folge. „Ein so echter Humor, wie der Kellers, ist niemals das Erzeugnis des Behagens, sondern des Unbehagens – ein Mittel erlaubter Selbsthilfe, mit dem der Dichter begnadet war“. Frappierend auch dies, wenngleich nicht als These: „Die weitaus meisten seiner Berufsfreundschaften sind durch die gemeinsame politische Gesinnung bestimmt worden, während demgegenüber merkwürdigerweise kaum eine persönliche Bekanntschaft infolge dichterischer Seelenverwandtschaft erfolgt ist.“ Bernoulli geht Namen durch, einige kritisierte Keller scharf: Hebbel, Kerner, Geibel, Platen. Netzwerker war Keller nicht.

Mit Stolz habe sich Keller als Volksdichter gefühlt, seine Figuren mit Vorliebe aus den niederen Bevölkerungsschichten geholt. Bernoulli empfindet sogar Verständnis dafür, dass Keller in „Das verlorene Lachen“ den Pfarrerstand „und insbesondere das freisinnige Christentum an den Pranger“ stellte, für einen Theologen doch ziemlich bemerkenswert. „Und was ist denn der ganze Sammelbegriff Seldwyla anders als ein Merkwort für den schmerzlichen Glaubensverlust, den innerhalb der Kellerschen Persönlichkeit der Dichter am Bürger erleiden musste.“ Bleibt der Europäer. Den grenzt Bernoulli vor allem gegen Flaubert und Dostojewski ab: „Gegen diese beiden gehalten, spiegelt sich die Größe seines Werkes in einer letzten Abklärung.“ Wobei ihm die folgende Behauptung sicher nicht jeder Leser abnehmen möchte: „Es gibt ein zuverlässiges Merkmal für die Auswahl der wahrhaft ganz großen Leistungen auf diesem Gebiete – das ist das Fehlen eines zweckhaften und nutzbringenden Zieles.“ Während Flaubert der Schöpfer des „Fluss-Stiles“ gewesen sei, war Dostojewski der des „Glut-Stiles“, Kellers Errungenschaft dagegen nicht ganz so leicht bestimmbar, wenn, dann doch am ehesten noch so: „... in dieser persönlichsten, nur bei Keller vorhandenen Verbindung realistischer und romantischer Seiten beruht die unverminderte, ja durch die Zeitstürme neu geweckte Anziehungskraft seiner Werke.“

Schön wäre, wenn 100 Jahre nach 1919 auch dies noch Zustimmung fände: „Keller zu lesen, ist im letzten Menschenalter die sicherste Gewähr für einen Leser deutscher Bücher geworden, sich bei gutem, gesundem, unverdorbenem Geschmacke zu halten. Seine Errungenschaft ist das Maß in der Fülle, ist der träumende Ernst der Weltfreude.“ Für patriotische Leser in Thüringen ziehe ich zum Schluss noch eine Linie von Carl Albrecht Bernoulli nach Gera. Dort gab es 1918 die Uraufführung seines 1908 entstandenen Stückes „Der Ritt nach Fehrbellin“. Ob erfolgreich, entzieht sich meiner Kenntnis. Namhafte Keller-Biographen wie Emil Ermatinger oder Gerhard Kaiser, auch Erwin Ackerknecht, haben von Bernoulli keinerlei Notiz genommen. WIKIPEDIA lässt folgenden nicht kommentierten Satz stehen: „Bernoulli wurde gelegentlich kritisiert, den öffentlichen Streit zu suchen und etwa in den Prozessen gegen das Nietzsche-Archiv mit Sensationalismus dem Andenken seines Lehrers Overbeck und auch Nietzsches zu schaden.“ Seine Tochter Eva, geboren am 4. März 1903, lebte noch bis zum 12. Juni 1995 in Basel. Von ihr gibt es ein Buch mit Erinnerungen an ihren Vater, es erschien 1987, vielleicht klärt es die eine oder andere Frage auf. Gottfried Kellers morgiger 200. Geburtstag passt, an genau diese Gedächtnisrede zu erinnern.


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