Monte Lema und zurück

Die Furcht vor Werkzeugdiebstahl scheint nicht zu den Urängsten der Schweizer zu gehören. Wir haben uns zum Monte Lema begeben, weil wir, wenn Berge nah sind, unsere Leidenschaft für Seilbahnen nur schwer unterdrücken können. Jede neue Fahrt erinnert an alle alten, am liebsten an die, bei denen die Beine baumeln dürfen vom freien Sessel herab, wenngleich jetzt auch der Gedanke an den Mann mit dem Gleitschirm mitfährt, der Seilbahnfahrern stundenlang einen unfreiwilligen Langzeitstopp in der Kabine bescherte. Im Wallis standen wir einmal ganz zuletzt in kleinen überdachten Tonnen für je eine Person. Wir hätten uns nicht die Hände halten können im finalen Moment, die Luft war für mich schon arg dünn, aber es war unbeschreiblich.

Unten in Miglielia sind wir freundlich begrüßt worden, ein kleiner Mann hat sich bei uns erkundigt, wie gut wir deutsch sprechen, als wir die Karten kauften. Was sagt man an solcher Stelle? Ehe wir aber Zeit hatten, eine Antwort zu ersinnen, die uns nicht umgehend als selbstgefällige Germanen abgestempelt hätte, klärte sich alles als ohne Hintersinn gemeint auf. Der Mann hatte ein Blatt aus dem Drucker kommen lassen, auf dem zu lesen stand, dass die letzte Talfahrt nun im September schon um 17 Uhr sein wird. Und wollte nichts weiter als einen korrekten Wortstand, zu dem wir ihm gern verhalfen. Der Lohn: Wir durften die Kabine schon betreten, bevor das grüne Signal für alle anderen aufleuchtete und hatten so den besten Platz für die Auffahrt.

Schon in Cademario genossen wir den Blick auf all die Esskastanien, die wir bis dato nur aus Tüten kannten, deren Inhalt andernorts Maroni genannt wird und unsere Sache nie war und wurde. Jetzt aber sahen wir die Bäume, die prall voll von ihnen standen, stachlig noch umhüllt und gleich war Joseph Roth da und sein Maroni-Händler aus Slowenien. Der Monte Lema ist kein Berg von erhabener Höhe. 1620 Meter nur, schon der Monte Tamaro, zu dem man vom Lema wandern kann, wenn man denn ein Gratwanderer sein möchte, hat fast 400 Meter mehr und ist gut zu sehen. Wir sind aber in Sommerkluft und wollen vor allem schauen. Die Kastanien leuchten unterhalb der drei gekoppelten Kabinen. Wer sie wohl wie erntet?

Es gibt eine kleine Baustelle oben, die Leute, die dort arbeiten, kommen uns entgegen. Sie grüßen fast fröhlich und wir sehen sie dann auf der Terasse des Bergrestaurants, wo auch wir uns später niederlassen. Jetzt aber umkurven wir die unverdauten Hinterlassenschaften von Ziegen oder Schafen, zu sehen sind sie nicht, und passieren offene Werkzeugkästen, lose Gerätschaften, die privaten Rucksäcke und Taschen der Gipfelarbeiter, Kabeltrommeln, nichts versteckt, nichts verschlossen oder gar bewacht. Die Furcht vor Diebstahl ist keine Urangst hier. Oder haben die Versicherungen in der Schweiz nur andere Regelungen? Ohne Fahrlässigkeitsklauseln? Auch in Riva San Vitale haben wir einen Mann aus der Kirche Santa Croce kommen sehen, dem zweiten Ziel unserer Neugier nach dem Baptisterium aus dem fünften Jahrhundert, der dort mit einfacheren Restaurierungsarbeiten befasst war. Alles stand an der Wand, was er brauchte, nichts gesichert, bedeckt, vor Blicken getarnt.

Auf dem Monte Lema, dies für Freunde von Löffelmahlzeiten, gibt es eine besondere Minestrone, deren Farbe eher einschüchternd sich zwischen dunkelgrün und braun bewegt und die so würzig schmeckt, dass noch der Bianco aus Mendrisio davon profitiert, den wir als mezzo litro dazu genießen. Beschwingt nehmen wir die Bahn abwärts, winkend verabschiedet gehen wir unten in Richtung eines schlanken Naturstein-Kirchturms durch schmalste Gässlein Miglieglias, begegnen Finnen, einer seltenen Spezies in diesen Regionen, die schon mit uns auf die Kabinen gewartet hatten. Wir empfehlen ihnen, die Tür des Kirchleins zu schließen nach der Besichtigung, was erst in  englischer Version halbwegs verstanden wird von ihnen.

Über Astano geht es via Ponte Tresa und Caslano. Schon ahnen wir, dass wir hier nicht zum letzten Mal in diesem Leben sein werden, die seltsam pompösen Grabmonumente im Cimiterio von Caslano haben eine eigene Anziehungskraft und unter den gigantischen Platanen am Seeufer sitzt man einfach nur gut. Zu den Bootstouren, die am Lago di Lugano angeboten werden, gehört auch eine, die sich der schmalen Durchfahrt von Lavena rühmt. Wir haben sie uns aufgehoben wie den Monte San Salvatore. In Magliaso passieren wir das kleine irritierende Hinweisschild auf den  Zoo, aus dessen Beständen uns unvergesslich blieb über zehn Jahre: das zutrauliche Seidenhuhn mit Federn wie Schlaghosen an den Beinen und in der Tat mehr als zutraulich. Dieser Zoo ist der einzige des Kantons, aber zum zweiten Mal wollten wir ihn nicht sehen.
 
In Agno fanden wir ein Bier der Marke Gottardo, gebraut in Einsiedeln, mit einem Etikett, das den Etikettensammler in mir zu viel, viel Fingerspitzengefühl herausforderte, es von der Flasche zu lösen. Wir warfen Blicke auf den Flughafen, dessen Starts und Landungen von unserem Balkon aus zu verfolgen waren, zeitversetzt dabei Schall und Anblick. Das Geräusch des Staubsaugers, mit dem auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Mann in unfassbarer Ausdauer einen Mercedes innen reinigte, bevor er ihn außen polierte wie Silberbesteck, war aggressiver. Den Monte Lema sahen wir wie jeden Tag, jetzt aber mit dem wohligen Gefühl: Da waren wir doch.


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