Günter Kunert im Regal

Eigentlich wollte ich heute eine Presseschau veranstalten: Günter Kunert 90. Man kann sie ertappen, dachte ich. Diejenigen, die ihn vergessen haben, diejenigen, die ihn ignorieren, diejenigen, die ihn pflichtgemäß, aber lieblos behandeln. Diejenigen, die ihre Liebe zu ihm spät entdeckt haben und diejenigen, den man gar nicht zutraut, dass sie von ihm je Notiz genommen haben. Und natürlich auch diejenigen, die über ihn so viel Tiefsinn verschütten, dass man Angst haben muss um ihre Vorräte. Dann aber, nach Durchsicht der Zeitungen, für die ich zur morgendlichen Freude meines Zeitungshändlers 11,70 Euro hinlegte, nur um Geburtstagsartikel für mein Archiv zu finden, entschied ich mich gegen meine Idee, was ich sonst mit meinen Ideen nur unter der Dusche tue. Ich muss meinen Stuhl vor dem PC nur um 90 Grad nach rechts drehen, es ist ein Drehstuhl, um Günter Kunert im Regal zu sehen. Also nicht ihn selbst natürlich, aber die wahrlich lange Reihe seiner Bücher. Ein paar Tage ist es erst her, dass ich die beiden jüngsten Bände einsortierte: „Ohne Umkehr“, vorn mit der schlichten Widmung „Für Erika“ und mit der Frage beginnend auf Seite 5: „Wozu schreiben Sie das alles, Herr Kunert?“ „Wozu schreiben?“ hieß ein ganzes Buch von ihm aus dem Jahr 1976 nicht, es hieß „Warum schreiben?“ und ich erinnere mich studentischer Lesungen meiner „Zirkels schreibender Studenten“, genannt „AG Wort“, die die Antwort nutzten.

Die Antwort lautete und bildet zugleich den ersten Satz des betreffenden Textes: „Das Motiv ist ganz simpel: um zu leben.“ Kunert meinte das natürlich nicht im Sinne von „um davon zu leben“. Er wusste sehr früh, dass ein Schauspieler, der ein Gedicht von ihm vorträgt, daran mehr verdient als er, der Dichter. Das zweite, das allerjüngste Buch, ist zugleich ein altes. Es ist der Roman „Die zweite Frau“, vorn die kaum weniger schlichte Widmung „Für Erika, meine zweite Frau“. Selten hat ein Kunert-Buch schon vorab so viel Aufmerksamkeit gefunden, Nachrichten produziert wie dieses. Und zwar nicht etwa, weil der notorische Lyriker, der notorische Kurzprosa-Dichter sich schon allein damit in schöner Konstanz der breiteren Öffentlichkeit entzogen hatte, seit 1950 sein allererstes eigenes Buch „Wegschilder und Mauerinschriften“ erschien, dass er nie Romane in den Literaturbetrieb, respektive Markt entließ. Der bis eben einsame Roman im längst auch quantitativ imposanten Korpus seines Werkes, „Im Namen der Hüte“, hatte Prügel von Marcel Reich-Ranicki bezogen, als der noch nicht ganz Literatur-Papst war, aber schon zu den Kardinälen gehörte. Mir schien immer, dass erstens Reich-Ranicki mit seinem Urteil einen der natürlich auch ihm zustehenden Fehlgriffe getan hatte und zweitens, dass Kunert dann wohl doch ein wenig an der Form des Romans resignierte. Ich empfehle heute noch enthusiastisch seinen ersten Roman.

Nun hat er aber doch noch einen geschrieben, einen zweiten, „Die zweite Frau“, und zwar nicht, um sich als altem Mann („Der alte Mann spricht mit seiner Seele“ hieß ein Gedichtband aus dem Jahr 2006) etwas zu beweisen, sondern, um, ja was? Er hat diesen Roman nämlich gar nicht jetzt erst geschrieben, sondern vor vierzig Jahren, als er noch ein DDR-Mensch war, als ich beispielsweise, selbst DDR-Mensch, keine höhere Freude kannte, als ein neues Kunert-Buch in meine Sammlung einzuverleiben. Unvergesslich, wie ein damals gen Westen ausreisen wollender DDR-Mensch mich aus seinen zurückbleibenden Buchbeständen mit „Der ungebetene Gast“ beglückte, gebraucht, aber gut erhalten. Es gab damals noch keinen Internet-Buchhandel, Bücher-Sammler waren Jäger, die manche Spur bepirschten, ohne je zum Schuss, Verzeihung, zu kommen. Von den ganz alten DDR-Ausgaben fehlen mir bis heute zwei: eben „Wegschilder und Mauerinschriften“ (1950) und „Tagwerke“ (1961). Dafür besitze ich das einzige Abenteuerheft, das Kunert je schrieb: „Jäger ohne Beute“, Heft 72 der Reihe „Das Neue Abenteuer“ mit der gelben Ecke unten rechts. Und ich besitze „Kunerts lästerliche Leinwand“, fast ein Bilderbuch, aus dem Eulenspiegel-Verlag 1965, das selbst informiertere Kunert-Freunde nicht kennen, heute sagt man: auf dem Schirm haben. Von den diversen Sonderdrucken will ich nicht reden, die er mir vor fast 30 Jahren aus Kaisborstel schickte.

Meinen kurz aufkeimenden Ehrgeiz, den neuen alten Roman aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, den Kunert in seinem Keller in einer Kiste entdeckte, man las davon selbst in Zeitungen, deren Feuilletonchef den Namen Kunert erst googeln muss, nun auch rasch zu lesen, habe ich beerdigt. Ich werde ihn in Ruhe lesen, in aller Ruhe, wenn all die Schnell-Kritiken vergessen sind, die die Blätter füllen, ehe die Blätter fallen, meint: den sich immer breiter aufstellenden Besitzern zum Synergie-Opfer: vor Tagen erst las man, was bei DuMont im Gange ist, die haben in wenigen Jahren vier deutsche Qualitätszeitungen entindividualisiert, marginalisiert, wie man mag. Die kleine Wallstein-Reihe, an deren Ende die beiden jüngsten Bücher bei mit nun stehen, sieht hübsch aus. In „Der alte Mann spricht mit seiner Seele“ findet sich übrigens noch eine ganz späte Widmung an Marianne, seine erste Frau: „Ein alter G. für eine alte M. Zum 54. Jahr“. Ich kenne keine schönere Widmung, ich alter E. mit meiner alten E., im 45. Jahr. Vor und hinter der Wallstein-Reihe aus Göttingen steht eine deutlich längere Hanser-Reihe aus München, eine kleine dtv-Reihe, eine gelbe West-Reclam-Dependance, Bände aus der Fischer-Bücherei: Kunert, Kunert, Kunert. Es sind fast nie dicke Bände und vieles, was in den einen steht, steht auch in manchen anderen. Das sehr frühe Gedicht „Über einige Davongekommen“ stand, als Kunert 80 wurde, bereits in 200 Druckwerken.

Er kann es, verriet er damals dem TAGESSPIEGEL, nicht mehr lesen, was ich bedaure, denn es ist ein Jahrhundert-Gedicht. Auf so wenigen Zeilen so viel Aussage nicht nur über uns Deutsche, sondern über uns Menschen, quasi pure Anthropologie, und dabei, so resignativ es klingt, auch von einer vertrackten Heiterkeit. In Zeiten, da uns Abendnachrichten von Forschungsergebnissen berichten, denen zufolge die Frau immer noch mehr Arbeit im Haushalt und mit den Kindern leistet als der Mann, und zwar: unbezahlte Arbeit, ist ein solches Welt-Gedicht ein Schlag ins Gesicht all dessen, was sich so Forschung nennen darf und öffentliche Mittel verschlingt, die in Dichter-Honoraren besser angelegt wären. Denn Dichter, also Lyriker, sind im wahrsten Sinne des Wortes arme Schweine, was auch dadurch nicht aufgehoben wird, dass die meisten von ihnen schon 17 Preise und 23 Förderstipendien erhalten haben, ehe überhaupt irgend jemand außerhalb der lyrischen Parallelwelt wahrnimmt, dass es sie gibt. Langer Satz, aber auch Kunert hat nicht nur gelegentlich lange Sätze geschrieben. „Nur ein politischer Dichter kann sich in Berlin zu Hause fühlen“, schrieb einst Irmtraut Morgner über ihn. Man mag sich also einen Reim darauf machen, warum Kunert, der eine ungezählte Reihe von Berlin-Texten, Lyrik und Prosa, schrieb, seit mittlerweile ewigen Zeiten in Kaisborstel wohnt, Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein.

Zu den Eigenheiten meiner Regalaufstellung von Günter Kunert gehört die räumliche Trennung der DDR-Ausgaben von den West-, sprich: BRD-Ausgaben. Ich muss exakt neun Schritte von meinem Drehstuhl Richtung Arbeitszimmertür gehen, um den DDR-Bestand direkt in Augenhöhe zu haben. Dort stehen, ich zähle nicht alle Titel auf, neben dem schon genannten Bilderbuch und dem Abenteuerheft „Kramen in Fächern“ (mit Widmung), „Die geheime Bibliothek“, „Der andere Planet“, „Ein englisches Tagebuch“, „Das kleine Aber“, „Der Mittelpunkt der Erde“, „Unterwegs nach Utopia“. Es steht dort „Die befleckte Empfängnis“, die mir Gelegenheit gab, für die DDR-Wochenzeitung „Sonntag“ meinem beleidigten Literatur-Herzen Luft zu machen. Kunert las es und bedankte sich bei mir, das ist großenteils in „Gruß nach Kaisborstel“ nachzulesen, vor heute genau sieben Jahren, am 6. März 2012, ins Netz gestellt in meine Rubrik NÄHKÄSTCHEN, die auch diese Zeilen aufbewahren wird bis auf weiteres. Damals nannte ich auch den Namen Jürgen Müller, der inzwischen nach den frühen Gedichten mit dem Band „Echos“ auch eine neue Ausgabe des frühen Poesiealbums mit der Nummer 8 veranstaltet hat. Und, das wird sein bleibendes Verdienst werden um Günter Kunert, privat eine Gesamtausgabe vorbereitet, zu der auch die Literatur über Kunert gehören wird. Für meine eigenen bescheidenen Beiträge habe ich Müller die erbetene Erlaubnis zum Nachdruck erteilt, das war das mindeste, was ich tun konnte. Die Eitelkeit muss sein.

Der Roman „Im Namen der Hüte“ steht übrigens etwas regelwidrig nicht bei den DDR-Ausgaben, sondern gemeinsam mit dem frühen Eulenspiegel-Band „Der ewige Detektiv und andere Geschichten“ am Ende der Westreihe. Auch das schmale Bändchen „Der Kaiser von Hondu“ findet sich dort, zugehörig als Nummer 9 zur Aufbau-Reihe „Die Reihe“. Warum das Fernsehspiel zur Nummer 9 wurde, nicht die Gedichte unter dem Titel „Echos“, kann man in dem Privatdruck von Jürgen Müller nachlesen. Auch, welche Rolle dabei der später sattsam als Stasi-Kollaborateur entlarvte Haupt- und Staatsdichter Uwe Berger als Gutachter spielte. Der Privatdruck folgt exakt dem Reihen-Cover aus dem Jahr 1959, das war eine hübsche Idee, was ich Müller auch dankbar mitteilte. Vielleicht werde ich sein Kunert-Archiv noch um zwei Arbeiten bereichern, die außer mir praktisch niemand kennt: eine Beleg- und eine Jahresarbeit von 1978 und 1979, die meine geplante Diplomarbeit zu Kunert 1980 vorbereiten sollten. Es existieren außer den Originalen irgendwo in den Archiven der Humboldt-Universität zu Berlin, falls nicht dort in ewige Reißwolf-Jagdgründe übergegangen, nur maschinenschriftliche Durchschläge auf farbigem Durchschlagpapier a la DDR. Bis heute vermied ich, sie wieder zu lesen, wohl in unbewusster Sorge, auf die alte Schere im Kopf zu stoßen. Immerhin durfte ich die Diplomarbeit nicht mehr schreiben, Kunert war ausgereist.

Die scheinbare Regelwidrigkeit des Stehens hat eine ganz profane Ursache: meine Bücher stehen in ihrer Ordnung von links nach rechts und wenn eine Reihe hinten voll ist, beginnt, trivial genug, die nächste Reihe ganz links. Zwei sehr prominente Autoren leiden unter dem regalierten Kunertschen Wachstumskurs besonders: Oben rechts erwischt es Heiner Müller, unten links erwischt es Christa Wolf, beide ebenfalls vom Jahrgang 1929, womit die eigentliche Ordnung meiner Buchsammlung verraten ist: sie stehen innerhalb jeder Literatur nach ihren Geburtsjahrgängen. Jeder neue Kunert zwingt einen alten Heiner Müller oder eine alte Christa Wolf in die zweite Reihe, nur Kunert hat das verordnete Privileg, immer vorn zu stehen. Ausnahmen sind formatbedingt. Es gibt bei mir keine hinreichend hohe Regalreihe für die größeren Formate. So liegen sie denn quer: „Unschuld der Natur“ und „Verlangen nach Bomarzo“, „Grützkes Sphinx“ und „Vom Mythos alter Bäume“. Aber auch „Ohne Botschaft“, „Klopfzeichen vom Verratgeber“, „Nachrichten aus Ambivalencia“. Ein Sonderfall aus dem Verlag Ellert & Richter das Fotobuch „Katzen. Mit einem Text von Günter Kunert“. Dieser Text trägt den Titel „Mit Katzen leben“. Kunert ist Katzenfreund, Katzenfreunde sollten auf diesem Umweg Zugang zu ihm finden, um seine Leser-Gemeinde aktiv auszuweiten.

Einen weiteren Sonderfall bildet ein Buch, das gar kein Buch, sondern eine Mappe ist. „Acht bunte Blätter“ heißt die Mappe (ich besitze außerdem nur noch von Albert Ebert „Acht bunte Blätter“) aus dem Eulenspiegelverlag 1979. Und der gönnte sich den Luxus, für den Umschlag weitere zwei Bilder zu publizieren. Vorn „Katzenreiterin“ aus dem Jahr 1977, hinten „South Padre Island“ aus dem Jahr 1974, letzteres ins Umfeld von „Der andere Planet“ gehörend, dem Buch, das 1974 Kunerts „Ansichten von Amerika“ in Prosa versammelte. Genau dieses Bild findet sich als aus dem Querformat nicht maximal glücklich in ein Hochformat verwandeltes Titelbild des bb-Bändchens Nummer 417 des Aufbau-Verlages „Ziellose Umtriebe. Nachrichten vom Reisen und vom Daheimsein“, ebenfalls 1979. Nicht wenige der Zeitungsbeiträge zum heutigen 90. Geburtstag sind illustriert mit einem variierten Motiv Kunert am Stock vor seinen farbigen Bildern. Es vermittelt eine Vorstellung von dieser Malweise, in Hannover, las ich, sind sie in Auswahl in einer Ausstellung zu sehen. Dass Kunert in seinen späteren Jahren auch in kleineren Verlagen präsentiert wurde, hat Ursachen, die ich im Detail nicht kenne. Da ist die Edition Toni Pongratz, da ist der Verlag Thomas Reche mit seiner Reihe Refugium. Einzelstücke gab es immer auch schon früher: „Jeder Wunsch ein Treffer“ (Middelhauve), „Ich Du Er Sie Es“ (Ravensburger Tschenbuch).

Ein Einzelstück ist ein gewisses Kuriosum. „Lieferung frei Haus“ erschien inklusive Lehrerheft bei Ernst Klett Stuttgart in der Reihe „Lesehefte für den Literaturunterricht“. Mein antiquarisch erworbenes Exemplar trägt den Eigentumsstempel der Schule Satrup, das gehört zum Kreis Schleswig-Flensburg. Zwischen dem 29. November 1982 und dem 13. Januar 1986 haben es vier Schüler benutzt, zwei der Klasse 10a, einer aus der 9b, der vierte und letzte aus der 8b. Was sie der Geschichte entnahmen, müsste man sie heute fragen. „Lieferung frei Haus“ stand beispielsweise in „Der Mittelpunkt der Erde“, dort mit zwei Kunert-Illustrationen, und in „Die Schreie der Fledermäuse“, der großen von Dieter E. Zimmer herausgegebenen Querschnittssammlung mit Kunert-Texten, die ich als Lizenzausgabe von Bertelsmann besitze. Erwähnen will ich, und damit mein Regal für heute verlassen, noch die Erzählung „Gast aus England“, gedruckt in der gelben Reihe Hanser als Nummer 126 1973. Mir ist nie wieder ein Buch mit derart vielen grässlichen Druckfehlern in die Hände gefallen. Entweder hat dieses Buch niemand Korrektur gelesen damals oder aber es waren Praktikant/innen im Haus, die der deutschen Sprache gegenüber, wie man heute sagen würde, noch keine Kompetenz erworben hatten, sich doch aber auch einmal bewähren sollten. Meine Presseschau hätte Tilman Krause gegolten und Helmut Böttiger, Kurt Drawert und Jochen Schimmang, Hans-Dieter Schütt, Katrin Hillgruber und Cornelia Geißler. Vielleicht später.


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