Mai-Reisen

Nichts spricht dagegen, im Juni über Mai-Reisen zu schreiben, denn es lässt sich bei der Gelegenheit jetzt am Bodensee auch des Bodensees gedenken, der 1999 zu Steckborn uns zwang, über Bohlen zu laufen, weil Reste des damaligen Hochwassers noch ziemlich hoch standen. Es war, vor nunmehr vierzehn Jahren, die dritte von inzwischen zehn Mai-Reisen, die erste in die Schweiz, der 2000 eine zweite an den Walensee folgte. Ein wenig verrückt, dass bereits die erste hätte zum Bodensee führen sollen, doch anno 1993 war die geplante Tour zur Insel Mainau überbucht und so wichen wir auf Tullnerbach aus nahe Wien. Es war eine Männertagsreise von Vater und Sohn, Mutter und Frau blieben zu Hause und wünschten gute Fahrt. Nichts gegen Tullnerbach und das Hotel-Restaurant, das uns beherbergte, die Nähe zu Wien galt uns damals noch fast wie Wien selbst, doch sind Übernachtungen in der preiswerten Peripherie mit dem entscheidenden Nachteil verbunden, dass nach dem Abendessen kein später Bummel mehr verlocken kann.

Immerhin: Der Ausflug ins Burgenland mit einem Kurzaufenthalt in Eisenstadt und einer kleinen Rundfahrt auf dem Neusiedler See prägte sich so ein, dass wir uns Jahre später zielgerichtet in Eisenstadt eine Ferienwohnung suchten, umgeben von jenen Wirtschaften, die den uns tatsächlich  unvertrauten Namen Buschenschank tragen und uns an sensationellen Achtelpreisen für noch besseren Wein fast irre werden ließen. Damals stand noch auf einem Inselchen eine ungarische Grenz-Wache, uns freilich nur mäßig misstrauisch beäugend, doch hielt sich das Schifflein penibel an österreichisches Hoheitsgebiet. In Wien erlebten wir nicht nur den Prater und sein altes Riesenrad, widerstanden tapfer der Versuchung einer in Deutschland längst verbotenen Peep-Show, wir mussten uns auch in einem Heurigenlokal durch gigantische Sauerkrautberge fressen, die der Hax'n beigehäuft waren. Meine erste frei lebende Smaragdeidechse ließ sich angstfrei auf 200er Kodak-Film bannen, sie sonnte sich inmitten von Kunst in einem jetzt nicht mehr frei zugänglichen Sandsteinbruch, den nunmehr eine Freilichtbühne weithin ausfüllt.

Das Jahr später, wieder Männertagsreise, die zweite und leider letzte, sah uns an der Mosel. Dort hatte es natürlich ein Hochwasser gegeben, wir bestaunten in den Bäumen am Ufer die Reste des Treibguts in einer Höhe, die sich der Bergbewohner, an dem das Wasser gemeinhin von oben nach unten vorbei fließt, in kühnen Träumen nicht vorstellen mag. Wir hörten von den Weinflaschen in abgesoffenen Kellern, von vertragsverweigernden Versicherungen, von dem Gestank, den der stehen bleibende Schlamm verursacht und wir lernten den Elbling kennen. Die zum Reiseprogramm gehörende Weinverkostung präsentierte manch übles Tröpflein, welches wir in weiser Voraussicht erst gar nicht probierten, aber jener Elbling, der uns fast verschämt angeboten wurde, wir standen wohl noch unter dem Generalverdacht, als so genannte Zonenmänner nur so genannte Schlüpferstürmer zu bevorzugen, dieser Elbling bewarb mit einem Schluck schon die ganze alte Rebsorte. Ein halbes Jahr später saß ich zu Brüssel mit einem für das Fischereiwesen zuständigen EU-Beamten beim Abendessen, er sprach von diesem und jenem und kam dann auf Weine. Als besonders grausliges Beispiel benannte er luxemburgische Elblinge. Er vertraute wohl auf unsere Vertrauensseligkeit.

Von Ernst an der Mosel bis Luxemburg ging in jenem Mai übrigens der weiteste Tagesausflug, der Stadtrundgang trieb meinen alten Herren hart an seine Toleranzgrenze, weil die Stadtführerin es offenbar darauf anlegte zu zeigen, dass sie bei jeder Seniorenweltmeisterschaft im Asphaltgehen gute Chancen auf einen Podestplatz gehabt hätte. Ich musste meine Neugier auf die Kasematten und auf vieles andere vertagen. Mein erster längerer Autoausflug allein führte mich 1996 zwar aus der Vulkaneifel über die luxemburgischen Ardennen bis nach Luxemburg-Stadt. Da ich dort aber den Schock einer Fahrt in eine Einbahnstraße in verkehrter Richtung zu verkraften hatte und dabei nebenher auch lernte, dass es tatsächlich freundliche Busfahrer gibt, dauerte es bis 2008, ehe ich endlich in Ruhe und längst auch guter Kenntnis luxemburgischer Elblinge sah, was ich vierzehn Jahre vorher im Mai schon hätte sehen können. Da hatte die Welt ihre vorletzten Geheimnisse bereits verloren, denn es gab auch in unserem Auto ein Navigationsgerät, das uns sogar zu Parkplätzen führte, die wir sonst sicher nie gefunden hätten. Die 94er Luxemburg-Episode gibt es, Wiederholung ist keine Ordnungswidrigkeit, auch in „Luxemburg in Weimar“ in dieser aus diversen Gründen vernachlässigten Rubrik, dort freilich in den Worten des Jahres 2012.

Nicht weniger als drei Mai-Reisen brachten uns nach Frankreich, zwei nach Paris, eine in die Normandie. Die beiden Paris-Reisen, unser Hotel am Boulevard Brune gehört sicher nicht zu den Top-Adressen vor Ort, lag unfassbar günstig zur nächsten Metrostation, sind bis heute Stoff für schwärmerische Erinnerungen. Und immer, wenn unsere Thüringer Zeitungen Berichte über den Bus-Unternehmer bringen, der sich beim Aufbau seiner Firma übernahm und schließlich vor Gericht landete, wissen wir, dass es zu einem guten Zweck geschah. Wo sonst fand man einen Fahrer, der den Tipp gab, man könne, damals lagen die Termine für Parisreisen in den Katalogen noch dicht bei dicht, mit einer Tour hin- und mit der nächsten zurückfahren. So waren wir 2003 lange in Paris, herrlich lange, verkniffen uns bis auf den zweiten Ausflug nach Versailles das komplette Programm und hatten alle Freiheit für alle Friedhöfe, für Schädel unter der Erde, für das Musée d' Orsay, den Louvre, für Rodin und Picasso.

Der Mai in der Normandie, kurz vor den ganz großen Feiern zum sechzigsten Jahrestag des D-Day, die Tribüne für die höchsten Staatsgäste stand schon, ist ein eigenes Thema (wie alle Touren natürlich). Zu reden wäre über Soldatenfriedhöfe, über Witwen und Bräute, über Trompetensoli und karierte Hemden, über einen Fallschirm an einem Kirchturm und das namenlose Erschrecken, das einen befallen kann, auch wenn man sich unbetroffen wähnt, weil man unbetroffen ist. Ein Vierteljahr später sahen wir während einer großen, „Tour de France“ genannten Rundfahrt die Gegend erneut. Da kannten wir das Museum schon für die Landung, da hatten wir den Film gesehen, der die amerikanische Sicht vorführte und zu Hause die Dokumentation, in der ein Deutscher bekannte, wahrscheinlich mit seinem Maschinengewehr 3000 und mehr Amerikaner erschossen zu haben. Man sieht Hecken anders, wenn man alte Soldaten gehört hat über diese Hecken im Sommer 1944.

2009 begann unsere Mai-Reise nach Volendam am 30. April. Wir haben nie mehr Orange gesehen als an diesem Tag. Wir haben nie mehr Müll in Amsterdam gesehen als am nächsten Tag. Das Rijksmuseum war nur teilweise zugänglich, die Silberreiher begleiteten jeden Tag unser Fahrt im Linienbus von Volendam nach Amsterdam. Wir sahen Keukenhof zum zweiten Male mit anderen Blüten als beim ersten Mal, wir besuchten ein Museum in Alkmaar, in dem es um Till Ulenspiegel ging. Ich kaufte Erich Kästners „Till Eulenspiegel“ in diesem Museum, las es erst jetzt, vier Jahre später. Es wird in BÜCHER, BÜCHER auftauchen, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Falls mein Hinweis auf den Marinapark Volendam Schleichwerbung ist, verzichte ich auf eine Gegendarstellung im SPIEGEL, weil meine Schleichwerbungen nicht annähernd die Reichweite erzielen, die der ewige Haribo-Goldbären-Mann mit den blondierten Locken hat. Also: Volendam, Volendam, Volendam.

Nach der belgischen Maireise an die Nordsee 2010, Bredene nahe Oostende nahm uns auf, war in diesem Jahr Polen das Ziel für einige Tage. Aus unserem Hotelzimmer in der neunten Etage sahen wir auf eine Stadt, die früher Schneidemühl hieß. Wir fuhren in eine Stadt, die früher Deutsch Krone hieß. Wir standen an Seeufern und vor Häusern, die bittere Familienhistorie sind, wir sahen Tränen und hörten Geschichten. Wir wurden im Rathaus empfangen und wir tranken Wodka mit Kräutergeschmack. Es liefen Störche über Felder, andere Störche als die am Neusiedler See. In einem Gymnasium durften wir Abiturienten stören. Ein Unterrichtsraum war dem Deutschunterricht vorbehalten. Die jungen Leute waren freundlich. Die Stelle, wo früher der Judenfriedhof war, ist komplett überbaut, es gibt keine Tafeln, die auf etwas hinweisen. Alle, die sich erinnern konnten, erinnerten sich des Synagogenbrandes 1938 und wie die Feuerwehr nicht löschte. Feuer prägen sich ein. Geschichten von Mutter und Tochter, die sich nach den Vergewaltigungen 1945 gemeinsam das Leben nahmen, auch. Es gibt keine Geschichten, die andere Geschichten aufheben.


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