Hauptmann: Rose Bernd; Südthür. Staatstheater Meiningen

Das erwartet man nicht: eine Inszenierung wirkt aufregend experimentell, obwohl sie weder aufregend noch experimentell ist. Das Publikum sieht sich hart ans Überfordertsein gedrängt, obwohl alles klar und übersichtlich ist. Selten hörte ich so viel Verlegenheitshusten und so wenig Lacher. Obwohl doch in fast allen Theatern längst exzessiv an Stellen gelacht wird, die alles andere als lustig sind. Die Kultur der angemessenen Reaktion ist erodiert im Lauf der Jahre, warum sollten ausgerechnet Theater von dieser Entwicklung ausgenommen sein? Als Regisseur Lars Wernecke und die für Bühne und Kostüm verantwortliche Monika Gora sich ihren zwölf Darstellern zum Schlussapplaus beigesellten, sah man immer noch Erleichterung auf allen Gesichtern. Das Publikum befreite sich mit Beifall von der eigenen Anspannung. Je mehr die abfiel, um so heftiger das Klatschen. Meiningen hatte, kein Abstrich, nirgends, einen großen Theaterabend.

Das Stück Gerhart Hauptmanns, die Uraufführung gab es am 31. Oktober 1903 in Berlin, schreckt auch wohlgesonnene Leser normalerweise durch seinen konsequent durchgehaltenen schlesischen Dialekt ab. Diese Seite des Naturalismus, der sich zum Zeitpunkt der Uraufführung schon fast zehn Jahre überlebt hatte, stellte auch Bühnen der Zeit vor eine letztlich überflüssige Schwierigkeit, denn Häuser mit durchweg dialektfesten Mimen gab es vor hundert Jahren nicht häufiger als heute. Heute weisen junge Darsteller in ihren dem Bewerbungstraining erkennbar entstammenden Präsentationen (oder denen ihrer Agenturen) auf diesbezügliche Spezialkenntnisse und -fähigkeiten ausdrücklich hin. Aber wir wissen, wie dämlich es wirkt, wenn Rheinländer grienend sächseln oder ein echt erzgebirgisches Niederdeutsch vorgetragen wird. Das erzeugt mit schönster Regelmäßigkeit unfreiwillige Komik, die, falls sie da eventuell vorkommt, in Tragödien zusätzlich unangenehm auffällt. Meiningen hat sich für eine hochdeutsche Fassung entschieden und es ist eine gute Entscheidung. „Rose Bernd“ ist, auch wenn sie nicht so heißt, eine Tragödie, von der Theatergeschichte gern als soziales Drama rubriziert.

Weil das Programmheft nicht nur dem im Vorjahr im Alter von knapp 80 Jahren verstorbenen Rolf Michaelis ungewöhnlich viel Platz einräumt, sondern auch als Sahnehäubchen den schönsten Freudschen Verschreiber enthält, der mir seit langem begegnete, dazu eine kleine Vorbemerkung. Der Michaelis-Text ist dem Programmheft der Aufführung des Hamburger Thalia-Theaters von 2006 entnommen. Es ist ein informierender Text. Er könnte insofern beispielhaft sein, als Information, weil mittlerweile unendlich viele Programmhefte aller Bühnen quer durch die deutschsprachige Theaterlandschaft eher als Spielwiese für hyperaktive Dramaturgen mit offenbaren Auslastungsdefiziten daher kommen. Diese Herren und Damen konfrontieren ihre doch in der Mehrzahl einfach nur neugierigen und philosophisch selten bis nie  vorgebildeten Käufer besonders gern mit tiefsinntriefenden Kurzzitaten diverser Kometen am Diskurshimmel, die schlimmstenfalls völlig falsche Erwartungen an die jeweiligen Stücke erzeugen. Es geht auch anders. Besucherfreundlicher. Halt beispielsweise mit Rolf Michaelis. Der genannte Verschreiber übrigens, Seite 27 des Heftes 88, lautet: „Alfred Kern, der große Kritiker der Hauptmann-Zeit...“! Ich grüße in alphabetischer Reihenfolge Alfred Erck, Dana Kern, Volker Kern.

Alfred Kerr, der Gemeinte, liefert auffallend in seinen Kritiken zu „Rose Bernd“ das überzeugende Beispiel dafür, dass Kritiker, denen die üble Nachrede besonders eifrig folgt, selbstredend viel lieber gute Stücke und wunderbares Spiel sehen als Reinfälle und Fehlleistungen. Sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht keineswegs von anderen Theaterliebhabern. Sie leiden nur mehr, weil sie mehr Besseres kennen als die meisten anderen Theaterliebhaber. Kerr schwärmte anlässlich „Rose Bernd“ mit Vorliebe für die Rose-Darstellerinnen und er hatte halt eben das große Glück, in dieser Rolle Else Lehmann, Lucie Höflich, Käthe Dorsch und noch die junge Paula Wessely zu sehen. Kerr steigerte sich in sein Schwärmen und es gelang ihm dennoch, Sätze über das Stück zu formen, die Bestand haben: „Der Unterschied zwischen einem Zeitdichter und einem Dichter besteht, außer andrem, darin: daß bei dem Verschwinden eines zeitlichen Mißstands auch das Zeitdrama verschwindet. Daß jedoch ein Dichterdrama noch dann lebt, wenn die zeitlichen Anschauungen verstorben sind, unter denen es empfangen wurde.“

Meiningen, mit Lars Wernecke, liefert den überraschend klaren Beweis, wie recht Kerr 1932 hatte. Meiningen hat mit Anne Rieckhof dazu eine Rose, die erst überzeugt und immer mehr auch überwältigt. Sie steigert sich gerade in dem oft als schwierig gedeuteten fünften Akt, der, welch eine Wohltat, wenn man erlebt, dass selbst eine tatsächliche Akteinteilung auf dem modernen Theater noch funktioniert, tatsächlich ein finaler Akt ist. Ihre Schlussanklage bestätigt wiederum Kerr, der angesichts aller Wandlungen im Urteil der Mitwelt, die mancher gar Fortschritt zu nennen bereit wäre, schrieb: „Trotzdem überdauern hier die ewigen Menschlichkeiten des Stücks den gewechselten Sittenstandpunkt. Das ist es.“ Man muss gar nicht zusätzlich herauskehren, dass Blindheit mit offenen Augen, wie Rose Bernd sie ihrem Vater, August Keil und allen anderen in ihrer kleinen engen Lebenswelt voll Wut und voll Resignation als Urvorwurf entgegen schleudert, nicht ausgestorben ist. Dass die Gefahr der Selbstgerechtigkeit uns heute wieder, vielleicht gar mehr denn je, bedroht, ja, dass weite Öffentlichkeiten ihr längst unterlegen sind, dass wir uns zu Richtern berufen fühlen, obwohl unsere Blindheit erschreckend oft absichtsvoll geschlossenen und eben nicht offenen Augen entspringt.

Die erste Meininger Hauptmann-Inszenierung nach vierzig Jahren, man lernt nie aus, vermittelt womöglich sogar die Erkenntnis, dass es gut sein kann, solche Pausen einzuschieben. Die, streng gesehen, Nicht-Idee der Regie, den Text spielen zu lassen, wirkt wundersam. Wäre das nicht schon zum Schlagwort verkommen, könnte man das Resultat Theater der Entschleunigung nennen. Ein Resultat keineswegs nur für Puristen oder gar Freunde des Anti-Thalheimer-Theaters, in dem das Text-Rattern das Sprechen ersetzen muss. Wernecke lässt seine Darsteller keinesweg in Zeitlupe reden, er lässt sie sehr wohl ihre Sätze artikulieren. Und weil die begleitende Aktion beschränkt ist, stört das nicht abgelenkte Auge das Ohr nicht bei den Zuschauern. Die wohl alle schon Inszenierungen beliebiger Klassiker sahen, in denen barfüßige Darstellerinnen im Unterrock die Spielfläche umrasten, als wollten sie im letzten Moment noch die Olympianorm für die Mittelstrecken erfüllen. Nicht nur Verse sprechen sich da arg schlecht.

Nächst Anne Rieckhof, aus bestimmten Gründen sogar mehr, hat mich Ulrike Walther überzeugt. Ihre Frau Flamm mit ihren Sätzen über Männer (und Väter) provozierte sogar die einzigen zaghaften Lacher, die sich dem Publikum entrangen. Im Rollstuhl sitzend zu spielen ist körperlich sicher kaum überfordernd, zwingt aber zu um so intensiverem Spiel, weil das Arsenal an möglichen gestischen Ablenkmanövern, an agilen Tricks radikal beschränkt ist. Man beugt den Oberkörper, man bewegt die Hände, man dreht den Kopf, vor allem aber skaliert man die Stimme. Was Ulrike Walther da vorführte, verdient höchsten Respekt. So wünscht man sich Stimme als Spielinstrument. Man wünscht sich, aus diesem Grunde, Regie, die ihren Spielern genau das erlaubt. Vielleicht täuscht mich mein Eindruck, aber das, was Lars Wernecke seinem Ensemble abnötigte, führte dazu, dass auch Ingo Brosch sich in einer Weise vorstellte, wie ich ihn noch nicht sah. Und so weiter. Wer will dem Vater Bernd Michaels Jeskes einfach nur Routine nachsagen, die Jeske natürlich hat?

Diese „Rose Bernd“ gibt noch den kleinen Rollen, dem Kleinert von Reinhard Bock, der alten Golischen von Rosemarie Blumenstein, dem Golisch Ulrich Kunzes, der Magd Evelyn Fuchs, der Marthel Alexandra Riemanns und sogar dem Gendarmen Harald Schröpfer ein Spektrum
diesseits des puren Chargierens. Florian Beyer als August Keil und Raphael Kübler als „schöner Streckmann“ haben ohnehin viel mehr Text (und letzterer sogar einen echten Traktor) in ihrer kleinen Menschlichkeit. Die Herrnhuter Religiosität, die Vater Bernd und eben dessen Wunsch-Schwiegersohn August Keil vertreten, ist heute vielleicht am schwersten zu vermitteln auf einer Bühne. Dass dennoch das Schlussbild in der hellen Kammer unter dem Kruzifix, die metaphorische Kammer im Hauptmann-Text sehr direkt symbolisierend, nicht in der Luft hängen blieb, verdankt sich den Darstellern. Allen, ohne Ausnahme. Und gerade weil kein einziger aktualisierender Seitenblick auf Meineid heute oder gar Kindstötung heute um Schnellbeifall buhlte, sei noch einmal Kerr zitiert: „Das Werk sieht aus wie ein Dorfdrama: und ist ein Erdendrama. Das Stück sieht aus wie eine Kriminalität: und ist ein memento. Ein Zehngebot – unberührt von allem Zufälligkeitswandel der Meinungen. Darin liegt sein Bleibendes.“ Florian Beyer sprach den auch bei Hauptmann letzten Satz: „Das Mädel ... was muß die gelitten han!“
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