Moliere: Der Geizige; Landestheater Eisenach

Geiz ist, wenn einer, der einen Gürtel braucht, damit ihm die Hose nicht vom Hintern rutscht, sich mit einem gewöhnlichen Strick behilft. Heinz Rennhack hat als Eisenacher Harpagon gehörig mit Hose und Strick zu tun, obwohl dem Augenschein nach sein Hintern noch so viel Restknackigkeit aufweist, dass ganze Heerscharen arschloser Männer, die sich nach arbeitsreichem Leben an das Schlackern ihrer Jeans über den nicht vorhandenen Backen gewöhnen mussten, ihn heftig beneiden könnten. Boris C. Motzki, ich wusste nicht, dass es diesen Namen außerhalb von Wolfgang Menge tatsächlich gibt, hat im Eisenacher Programmheft eigens einen Beitrag über Darsteller verfasst, die diesen Harpagon schon spielten im Laufe einer langen Inszenierungsgeschichte seit der Premiere am 9. September 1668 im Pariser Palais Royal und er lässt seinen Beitrag in Rennhack münden, was man nach dem Abenderlebnis der Meininger Premiere (die in Eisenach gab es schon am 4. Oktober) ruhigen Blutes als erlaubten Personenkult ansehen kann, man hat nicht unberührt mitgeklatscht, als alles zu Ende war.

Das Ende ist in der Regie von Peter Bernhardt etwas weiter weg von Moliere als die rund zwei kurzweiligen Stunden davor. Jener Geist aus der Flasche, den habilitierte Kenner gern „deus ex machina“ nennen, der alles zum Guten, das heißt bei Moliere in diesem Fall: zum finanziell Geregelten führt, ist gestrichen, es gibt nicht die finale Doppelhochzeit, die zu Zeiten Molieres und Shakespeares zur Komödie gehörte wie der Zipfel zur Wurst und es gibt nicht die ebenfalls jener Zeit verhaftete Wiedervereinigungsgeschichte von Vater und Kindern, in der zusammenwächst, was in der konservativen Familientradition so zusammengehört. Die etwaige Abwesenheit einer ebenfalls dazugehörigen Mutter hatte realhistorisch sehr oft mit dem frühen Tod derselbigen zu tun, irgendein Kind brachte die Mütter beim Gebären in hässlicher Regelmäßigkeit um, das aber darf kein Gegenstand von Komödie sein, denn es war zum Heulen. Man muss also seinen Moliere schon selbst lesen, um zu erfahren, dass diese Mariane und jener Valére die leiblichen Kinder jenes Anselm sind, der den Tod durch Streichfassung erlitt. Und dem Elise gegeben werden sollte.

Für Bühne und Kostüme zeichnet Monika Maria Cleres verantwortlich, die Akteure spielten vor zwei hohen roten Wänden, hinter denen man auf und nieder gehen kann. Vorn gab es dürre Birke in nicht ganz DIN-gerechter Spielplatz-Norm alternativer Kindertagesstätten, es lag eine Masse Laub auf dem Boden und unter dem Laub verbarg sich das Versteck jener Geldkassette, die im Stück überwiegend liegend eine ziemlich tragende Rolle zu spielen hatte. Den spielenden Einstieg haben Dagmar Poppy (Elise) und Roman Kimmich (Valére), man sieht das erfolgreiche Ende der Rettung des Mädchens aus dem Wasser, von dem bei Moliere nur berichtet wird im Rückblick. Der Zuschauer weiß fast immer früh, was die Akteure auf der Bühne erst später erfahren, dieser Diener ist nur ein verkleideter junger Mann aus offenbar besseren Kreisen, der so sich das Nahsein bei seiner Liebsten sichern will. Cleanthe (Raphael Kübler) ist der Bruder der verliebten Elise und seinerseits verliebt in Mariane (Jannike Schubert), sie gestehen sich gegenseitig ihr Verliebtsein und wollen den Vater, wie auch immer, dazu bringen, ihnen den nötigen Segen zu geben.

Man sieht Heinz Rennhack zeitig, er äugt von oben durchs Fernglas oder irrlichtert noch stumm quer über die Bühne, ehe er dann seinen aus unterschiedlichen Gründen zutiefst erschrockenen Kindern offenbart, dass er Heiratspläne trägt, die schon weit gediehen sind. Er weiß, wen er heiraten möchte und wen Tochter und Sohn heiraten sollen. Das sind der gestrichene Herr Anselm für sie und eine Witwe für ihn, er selbst hat es ausgerechnet auf jene mittellose Mariane abgesehen, die Cleanthe gern mehr unterstützen würde, wenn ihn sein geiziger Vater nicht so extrem knapp halten würde. Da der Sohn guter Kleidung nicht abgeneigt und auch sonst seine gehobeneren Ansprüche nicht zu unterdrücken bereit ist, braucht er mehr flüssige Mittel, als er hat, denn an sein mütterliches Erbteil kommt er noch nicht ran und der Vater hält alles für Verschwendung. So muss der von Vater Harpagon unter falschem Verdacht schon entlassene Diener La Fléche (Istvan Vincze) versuchen, für den jungen Herrn Geld zu besorgen, zu welchen Konditionen auch immer. Die wunderbare Moliere-Erfindung: Der von unfassbarer Wucherergier getriebene Verleiher ist Harpagon selbst, der bei der Vermittlung der Transaktion noch nicht weiß, dass es sein eigener Sohn ist, wie umgekehrt der nicht, dass ihn sein eigener Vater so unverschämt aussaugen will, denn er verlangt schlappe sechsundzwanzig Prozent Zinsen.

Regie und Ausstattung hatten die feine Idee, jenen staubigen Ramsch, den der Vater zum fingierten Wucherpreis gleich mit an den Mann bringen wollte als Abzug von der realen Darlehenssumme, vom Schnürboden herabsinken zu lassen, während der Diener dem jungen Herrn die krude Inventarliste vorträgt. Fast jedes Stück erzeugt separate Lacher im dankbaren Publikum. Als Vater und Sohn dann als Geschäftspartner einander gegenüberstehen, sind beide empört über den jeweils anderen. Und der Zuschauer darf sich sein eigenes Urteil bilden, wenn Cleanthe fragt, wen wohl die größere Schande trifft. In diesen Zusammenhang ist der einzige schlimme Missgriff des Spieltextes gestellt. Denn Cleanthe vergleicht den ihm da noch unbekannten Wucherer mit einem Juden, und weil das beim Anlesen des Moliere im braven Eisenach wohl die freilich wenig überraschende Befürchtung auslöste, hier könnte ein Antisemitismusverdacht andocken bei den für solche Fälle üblichen Verdächtigen, verfiel man auf die, mit Verlaub, saudumme Idee, den Juden-Vorwurf, der zeitgerecht ist im Originaltext, vermeintlich zu mildern durch: „Das ist ein Jude, nein schlimmer, ein Araber ist das.“ Man möchte die Begründung für solchen Stuss nicht hören.

Sonst haben weder das Original noch die leidlich schlüssige Strichfassung viel Text, der die feinsten Apothekerwaagen benötigte, es geht vor allem um Missverständnisse, das Lebenselixier fast aller großen Komödien. Zum Beispiel die Brachialschmeicheleien, mit denen Valére und die nun unbedingt endlich zu nennende Frosine (Bettina Franke) den Geizigen umgarnen, dass es eine Lust ist. Hier hat freilich fast immer Rennhack den besseren Part, weil Moliere halt für sich selbst die ganz große Paraderolle schrieb und nicht für die anderen. Rennhack darf schmelzen, wenn ihn die Kupplerin als schönen Mann beschreibt, der noch mit seinem Katarrh, mit seinem Husten Mädchenherzen brechen kann, Rennhack darf fast liebenswürdig werden, wenn ihm der falsche Diener zum Munde redet, dass jedem anderen Ohren und Augen übergehen würden, nur dieser Geizige eben, der merkt nichts. Fast alle Stellen, die dem unbestrittenen Star des Abends zu Glanz verhelfen können, werden ausgespielt, warum die aberwitzigste gegen Ende, als Harpagon auf der verzweifelten Suche nach seiner Kassette sich selbst am Arm erwischt und beschuldigt, entfallen musste, erschließt sich mir nicht.

Vor fast hundert Jahren, 1917, meinte der Großkritiker Alfred Polgar: „Tot, im Buchsarg, ist die Dichtung unsterblich; zum Leben erweckt, stäubt der Moder von ihr.“ Er verdächtigte den damaligen Regisseur Alfred Halm, den nicht zu kennen keine Schande ist, der falschen Annahme, „daß die ehrwürdige Komödie noch heute von Lachgelegenheiten übersprudle. Auf dieser Lüge als Fundament stand die ganze Aufführung; und das Fundament gab naturgemäß alle Augenblicke nach.“ Ohne dieses Urteil auf die Inszenierung Peter Bernhardts einfach übertragen zu wollen, bekenne ich, dass ich während des Abends bisweilen exakt dieses Gefühl hatte, das ich bei Polgar eben nur formuliert fand. Und lasse ich mir die Szenen vorüber ziehen, an denen das Meininger Premieren-Publikum auffälliger lachte, dann war das beim Blick Rennhacks in die Hose seines eben entlassenen Dieners La Fléche, dann war das mit Empörungsbeimischung kindertheatertauglicher Art die Stelle, als der wildwütige Rennhack seiner Bühnentochter Elise an den Kopf wirft, sie hätte lieber ertrinken sollen. Während des Tisch-Dialoges des Vaters mit beiden Kindern heißt es im guten alten V-Effekt, es gäbe ein Stück von Moliere zu genau diesem Thema: wieder Lacher.

Dann aber will es nicht recht aufkommen, wenn sich die Kupplerin Frosine sicht- und hörbar größte Mühe gibt, fast verschenkt wirkt die urkomische Slapstick-Szene mit dem Kostümwechsel, wenn Kutscher und Koch Jacques (Gregor Nöllen) sich für die jeweilige Rolle umkleidet und sein Shirt mit dem Aufdruck „Geist ist geil“ freilegt, ehe er die verlangten Antworten gibt. Und, fast irritierend, aber wohl kaum so beabsichtigt, die arme Mariane (Jannike Schubert) kann man sich besser in  den berühmten hyperresoluten weiblichen Dienerinnen-Rollen des Moliere vorstellen als in eben dieser, wo sie aus ihrer schieren Imposanz neben dem kleinen Rennhack einfach zu wenig macht. Der freilich rettet alles, wenn er final noch einmal aus einem Staunen ins andere fällt, während ihm sein Diener Valére erklärt, wie es um ihn und Elise steht, er selbst jedoch meint, er höre die aberwitzige Rechtfertigung eines dreisten Diebstahls. Bei Moliere hat Harpagon den letzten Satz des Abends, er wolle zu seiner Kassette, auf der Bühne vollzieht das Rennhack, indem er im Bühnenversteck unterm Laub verschwindet, das Geld aber fliegt, einen anderen Akzent setzend, wie ganz anderes Laub von oben auf die verbliebenen Darsteller. Denen erstaunlich ausdauernder Beifall zuteil wird. Was einem fast 350 Jahre alten Stück erfreuten Respekt zollt. Und Eisenach natürlich unbenommen auch. Heinz Rennhack genoss seinen Erfolg. Den ihm ohne jeden Zweifel vor allem sein Spiel eintrug, seinen Namen hat er auch so.
  www.theater-eisenach.de


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