Sophokles: Antigone; DNT Weimar

Am Ende fehlten 15 der angekündigten 105 Spielminuten, die Darsteller, könnte man glauben, hatten es eilig, den Schlamm wieder loszuwerden, in dem sie sich wälzen, den sie sich in Gesicht und Haare schmieren mussten, von dem die Bühnenkleider starrten und von dem auch Zuschauer der vorderen Reihen ein paar solide Spritzer abbekamen, was den Zwischenruf „Es reicht!“ höchst verständlich machte, nachdem sich Jonas Schlagowsky als Polyneikes und Erik Born als Eteokles zum endlos wiederholten Male wie von Schüssen getroffen in die Pampe gehauen hatten. Polyneikes und Eteokles? Richtig gelesen. Bei Sophokles kommen die nicht vor. Also auf der Bühne, die damals Orchestra hieß. Die beiden hinzu erfundenen Personen ersetzten siebzehn gestrichene nicht hinreichend, das Regie-Konzept von Alice Buddeberg (Jahrgang 1982) führte dazu, dass Punkt 21 Uhr, als der freundlich verhaltene Schlussbeifall für die Darsteller dazu verleitete, das verantwortliche Team auf die Bühne zu rufen, massive Buh-Rufe erschollen, in dieser abrupten Abgrenzung vom Klatschen fürs Spiel von mir so noch nicht und nirgends erlebt. Der Intendant eilte von seinem Seitenplatz, wohl um zu trösten, mag ich mir liebend gern vorstellen.

Was ich mir noch lieber vorstellen würde, ist: Hatte Alice Buddeberg Angst vor dem Klassiker der alten attischen Tragödie oder, was schlimmer wäre, misstraute sie dem Text, den es in unzähligen Übertragungen aus dem Griechischen gibt? Weimar bevorzugte Walter Jens, der an den Kernstellen freilich nicht wirklich anders ist als Rudolf Schottlaender oder Wolfgang Schadewaldt oder, um den berühmtesten aller Übersetzer zu nennen, Friedrich Hölderlin. Die attische Tragödie hatte den Chor und seit sich Friedrich Schiller in seiner „Braut von Messina“ in den Augen vieler vergebens um die Wiederbelebung des Chores bemüht hat, scheint die Überzeugung fast Gesetzeskraft erlangt zu haben: Wenn der es nicht konnte, dann wir erst recht nicht. Bei Schiller können sich sonst so mutige Inszenatoren hinter der verbreiteten Abwertung seines Versuchs verstecken. Aber hier, in Weimar, der Klassikerstadt aus dem Fotobuch, sollte da nicht vielleicht zumindest der Versuch gewagt werden? Es stimmt ja, dass von Sophokles „König Ödipus“ und „Ödipus auf Kolonos“ lieber genommen werden. Spricht das gegen „Antigone“, seine leiseste Tragödie? Ohne Chor oder Chor-Surrogat bekommt der Spieltext eine unheilbare Unwucht, aus „Antigone“ wird fast „Kreon“.

Ich wage mir kaum vorzustellen, was aus dem Abend geworden wäre, hätte Alice Buddeberg nicht am untauglichen Objekt „Antigone“ versucht, ein überambitioniertes Antikriegsstück auf die Bühne zu stellen, was dieser Sophokles, halten zu Gnaden, nun wahrhaft nicht hergibt. Bei Sophokles und in der alten attischen Tragödie stirbt man auch nicht auf der Bühne, Tod und Sterben kommen über die so genannte Mauerschau oder den Botenbericht ins Spiel. Die Regie erfand sich ein Vorspiel im Schlamm, welches die Vorgeschichte der Geschichte vor der schwarzen Kletterwand (Bühne Sandra Rosenstiel) dick aufgetragen vorspielte. Die beiden Brüder, deren Schwestern Antigone (Nora Quest) und Ismene (Katharina Hackhausen) sind, alle vier die Kinder einer Mutter, die zugleich Mutter und Großmutter war, haben Text, der die Aktualität des Spielgeschehens zu tragen hat. Sie tragen ihn wacker vor, von wem er ist, sucht man im Programmheft vergebens, obwohl es doch hilfreich wäre, denn niemand hat den ganzen Sophokles, geschweige die ganze Antike im Kopf. Aus „Antigone“ ist er definitiv nicht. Am Ende muss Ismene, die ängstliche Schwester, die bei Sophokles ja auch etwas wie die Stimme der Vernunft ist, an die Rampe, Moral verkünden.

So vordergründig trauten sich nicht einmal die Produktionsstück-Dramatiker der frühen DDR an die Rampe, das aber war dreißig Jahre vor der Geburt der Regisseurin. Dass sie den Chor strich, nicht aber seinen gesamten Text, ist vor der Größe der Aufgabe noch einigermaßen verständlich. Warum aber fehlt der Seher Teiresias, wenn dann doch Kreon (Sebastian Nakajew) den Dialog mit ihm mit sich selbst führen muss, spuckend und Schlamm verspritzend (übrigens eine sehr eindrucksvolle darstellerische Leistung, das sei nicht unterschlagen, auch Nora Quest als Antigone, wenngleich heftig zur Seite gedrückt im Regie-Konzept, bot starkes Spiel)? Nach weit hinten geschoben, bot die schwarze Kletterwand, an der zu Beginn der Kreon mit den Nägeln kratzen musste, später gab sie Fläche für Schlammgemälde, für Momente fast die Anmutung eines antiken Felsentempels, das aber war sicher kaum beabsichtigt. Anspielung auf offene Güterwaggons, auf Hunderttausende von Toten, Rede von Telefonen mitten im Sophokles, das sind Mätzchen, der gute Wille oder gar das „Engagement“ entschuldigen da nichts. Solches Engagement geht in die Unterhose. Zumal gerade der Kreon-Darsteller viel zu oft für leise Lacher sorgte. „Antigone“ ist weder komisch noch lustig.

Eine halbwegs dankbare Aufgabe hatte Christoph Heckel als Wächter und Bote, wenngleich ihm Martina Küster das aberwitzigste Kostüm des Abends verordnet hatte. Eine fürchterlich undankbare Rolle war Julius Kuhn als Haimon aufgegeben, der volle fünfzig Minuten reinweg gar nichts zu tun hatte, als mit geweißtem Gesicht leicht nach oben in die Gegend, sprich in den Zuschauerraum, zu starren. Sicher ist, wer so spät erst seinen Einsatz hat, nicht immer in der Kantine besser aufgehoben. Tja, bei Sophokles ist das ein großes, ein politisches Rededuell, das der Sohn mit dem Vater führt. Bei Sophokles stürzt er sich ins Schwert, nachdem Antigone sich in der Felsgruft erhängt hat. Bei Sophokles tötet sich Mutter Eurydike, nachdem sie Sohn Haimon verlor, der Braut Antigone verlor. Die politische Dimension der Tragödie, das ist fast ein Treppenwitz, scheint der Regie nahezu komplett entgangen, sonst hätte sie den Krieg nicht als Thema implementieren müssen. Ach ja, und dann hat Katharina Hackhausen noch ein sehr schönes fremdsprachiges Lied sehr schön gesungen. Es war kein englisches Lied. Was es für eins war, kann ich leider nicht sagen. Was alles zusammen war, kann ich leider auch nicht sagen. Starkes Theater keinesfalls.
www.nationaltheater-weimar.de


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