Goethe: Faust II; DNT Weimar

Man könnte es drastisch formulieren: Das Uhrwerk „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“ macht uns alle zu Schweinen, die hineinschauen. Wer aber schaut schon gern wie ein Schwein ins Uhrwerk? Wenig tröstlich ist das vielleicht am häufigsten zitierte Wort des Meisters Goethe zum Thema, das Wort zu Eckermann vom sechsten Mai 1827: „Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen … Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüsste und aussprechen könnte!“ Das sieht nur aus wie Koketterie, es ist die tiefe Wahrheit. Goethe wusste es nicht und konnte es deshalb auch nicht aussprechen. Die 12111 Verse, die er uns hingehauen, viele von grandioser Dunkelheit, sind eben nicht Verdunklungen, sondern Versuche zu erhellen, eben das zu erhellen, was sich dem raschen Zugriff und wohl gar jedem Zugriff flugs entzieht. Und, man soll es nicht vergessen, wie früh auch immer schon der Helena-Akt mehr oder minder fertig war, in Gänze handelt es sich um ein Alterswerk und man hat zu beachten, was bei Goethe Alterswerk und Altersstil ist. Man lege „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ neben „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und ist der Sache ganz nahe. Kommunikation ist immer eine Angelegenheit des gemeinsamen Zeichenvorrats der Kommunizierenden.

Jede Inszenierung des „Faust II“ gleicht auch deshalb dem Geist, den sie begreift. Und wenn immer jemand eines Beweises bedarf, dass es eben nicht Ultima Ratio ist, ein Bühnenstück nicht vorher gelesen zu haben, um der unmittelbaren Wirkung keine Steine in den Weg zu legen, dann hat Goethe den Beweis geschrieben. Dies Stück, dem sogar etwas fehlt, was noch das letzte Machwerk als unverzichtbar ansieht, ein Personenverzeichnis, das auch schon dem ersten Teil mangelte, dies Stück konfrontiert seine Leser wie seine Zuschauer im Theater mit einer Phalanx ihm vollkommen unbekannter Wesen und Figuren, denn heutzutage reichen schon Helena, Paris und Menelaos für die 500.000-Euro-Frage, wir reden nicht von den Phorkyaden, den Lemuren (die keinesfalls südostafrikanische Halbaffen sind), von Seismos, Orea und Manto, von Peneus und den Telchinen, von Erichtho, Empuse, den Imsen und den Lamien. Die Erfinder von Scheibenwelten sind Waisenknaben gegen diesen alten Geheimrat. Und wenn dann gar, wie zur Expo 2000 geschehen, jemand auf die verrückte Idee kommt, alle 12111 Verse auf die Bühne zu bringen, dann dauert das viele, viele Stunden. Bei Hasko Weber in Weimar bleiben drei Stunden inklusive Pause, das sind zwei Stunden weniger als in der berühmtesten Nachkriegsinszenierung, der Hamburger von Gustav Gründgens, das sind fünf Stunden weniger als bei Max Reinhardt 1911.

Von der Expo-Inszenierung Peter Steins nicht zu reden, die dauerte so lang wie ein Verlängerter Kurzurlaub (VKU) für Wehrpflichtige der NVA. Ob die Freaks, die sich das antaten, hinterher allerdings wirklich mehr gesehen hatten, wage ich nicht zu behaupten. „Ach, da sind die Programmhefte“ sagte eine Dame hoffnungsfroh, „da steht doch sicher die Kurzfassung drin!“, was die jüngere Dame mit den Heften in der Hand natürlich beflissen bestätigte. Kurzfassungen können sich, sonst wären sie keine, nur auf einen Plot, eine Fabel, eine Handlung, einen roten Faden beziehen. Davon gibt es im „Faust II“ zwei: einer heißt Faust und Mephistopheles, einer heißt Goethe. Ersterer führt so etwas wie voran in einer Stationen-Dramaturgie, für deren Erfindung Goethe nie gelobt wurde. Der zweite Faden ist theaterfern, ja theaterfremd. Man könnte sagen, Goethe schüttet noch einmal fast seine gesamte Hausapotheke auf den Tisch, die Theaterferne seines Textes folgt, wenn man so will, seiner eigenen Lesart Shakespeares, der ihm der größte Dichter, keinesfalls aber der größte Theatermann war. Drama ist zum Lesen, meinte Goethe gar nicht nur für seinen „Faust“. Doch auch beim Lesen muss man Handbücher neben sich legen. Und Goethes Biographie im Hinterkopf parat halten. Dann ähnelt der Spaßkaiser des Anfangs durchaus dem jungen Herzog zu Weimar, dem die Einheit von Regieren und Genießen veritabel missriet.

Dann ähnelt das Treiben zwischen Thales und Anaximandros in der Klassischen Walpurgisnacht nicht nur Goethes Umgang mit dem Vulkanismus, sondern gleich noch seiner Revolutionstheorie und seiner allgemeinen Naturphilosophie dazu. Macht sich alles aber auf Bühnen ausgesprochen schlecht. Dass Goethe seine eigene Hofnarrenpflicht des Verfassens von Maskenzügen und Festspielen keineswegs nur als Last empfand, wird an der extremen Lust deutlich, mit der er in diesem „Faust II“ gleich doppelt zuschlägt, erst in der vom Herold kommentierten und angesagten Kaiser-Bespaßung zu Beginn, später in der nicht enden wollenden, in der uferlosen, den Begriff der Breite ins Absurde treibenden Klassischen Walpurgisnacht. Mythologie-Historiker, vergleichende Mythenforscher und Vertreter sonstiger volkswirtschaftlich wichtiger Wissenschaftszweige mögen hier ihre helle Freude haben, helle Freude als Kontrast zur dunklen Last der Verse. Überhaupt die Verse: welche Variabilität. Überhaupt der Wortschatz: welch unfassbare Fülle, welch explosiver Erfindungsreichtum mit Spurenelementen von Humor. Aber auf der Bühne? Vor Menschen wie ich und du, sie und er, es und ihm? Manto sagt nicht ohne Sinn für die Bühnentauglichkeit des Werkes, in dem sie es sagen darf: „Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.“ Hasko Weber will natürlich auch geliebt sein, könnte man schelmisch zwinkern, also begehrte er das Unmögliche.

Die Tür offen zu nennen, die ich einrenne, ist pure Untertreibung. Sie ist auf beiden Seiten ausgehängt und dem Wertstoff-Kreislauf anheimgegeben. Dennoch tue ich es. Ich sage: „Faust II“ ist Seite für Seite, Szene für Szene, Akt für Akt Reichtum, fassungslos machender Reichtum, überbordend, sich selbst genießend, unerschöpflich. Jeder Abstrich von Reichtum, das gebietet die Logik, ist Verarmung. Angesichts des Reichtums von „Faust II“ Verzicht zu üben, weil ohne Verzicht nicht zu haben ist, was ohnehin nicht zu haben ist, man nennt dergleichen Paradoxie, ist der Zwang, den Goethe ausübt. In der Beschreibung des Wegs von der Fülle zur Leere scheiden sich die Optimisten von den Pessimisten, am Ende bleibt das Fragen, wie Armut von Leere, wie beide von Armseligkeit zu scheiden wären. Auf dem Theater sind das Fragen nach Substanz, eine weitere Paradoxie hieße: Noch die Leere kann Schauwert besitzen. Und das wohl meinte Goethe, als er Eckermanns Sinnsuche abschmetterte. Intendant Hasko Weber hat dort am radikalsten gestrichen, wo Goethe auf der Bühne ist, nicht Faust. Geblieben sind immer noch allerlei Figuren, die man nicht identifizieren könnte, würden sie sich nicht gewissermaßen selbst ansagen, so liefen wohl die Maskenzüge in der Realität: eine Blume sagt: ich bin eine Blume, damit jeder, der sie für einen Schneeleoparden hielt, seinen Irrtum einsehen konnte am Straßenrand zu Weimar und Umgebung.

Zu Beginn sitzt Faust im feinen Zwirn unbequem breitbeinig im Bühnenvordergrund. Von hinten nähert sich eine Putzkolonne, rechts sitzt Margarethe mit kurzem schwarzen Rock und rotem Angora-Pullover (Kostüme Camilla Daemen). Die Putzkolonne spricht mit osteuropäischem Akzent, bereitet damit vollkommen unauffällig auf die Pelzmütze des Kaisers vor, der dann unter dem riesigen „Nischel“ von Karl Marx seine Ratsversammlung widerwillig und lustlos abhält. Das Reich leidet unter Geldmangel, der Kaiser zunächst nur unter der Abwesenheit seines Narren. Den aber Mephisto eilfertig ersetzt. Sebastian Kowski ist immer noch Mephisto, so wie Lutz Salzmann immer noch Faust ist. Kowski stülpt sich eine gigantische Narrenkappe über und dann geht es schon zügig zur Einführung des Papiergeldes im Reich des Kaisers, der Marx-Kopf verschwindet auf Nimmerwiedersehen nach oben in den Schnürboden. Als der Kaiser seine Leute befragt, was sie nun mit dem neuen Wohlstand machen, hört er, dass sie machen, was sie schon immer taten, selbst der genesene Narr (niedliche Einlage von Simone Müller) giert nach Grundbesitz. Dass nicht nur der Reichtums selbst, sondern schon die Aussicht auf Reichtum Aufschwung generiert, hat Friedrich Dürrenmatt möglicherweise für seinen „Besuch der alten Dame“ beim alten Herrn Goethe gelernt. Damit nun nicht alles gleich Kapitalismuskritik wird, muss Faust wegen Helena zu den Müttern.

Es mag Menschen geben, die in Kenntnis des Ensembles des Nationaltheaters nicht auf Elke Wieditz gekommen wären für die Rolle der Helena. Das sind Menschen, die den „Faust II“ auf keinen Fall gelesen haben und auch nicht der Logik frönen. Denn man muss nur das wahrscheinliche Alter der Ehefrau Helena an der Seite des Menelaos, Entführung durch Paris, Transport nach Troja, Trojanischen Krieg (zehn Jahre), Heimkehr der Griechen aus Troja (zehn Jahre) mechanisch addieren, um auf ein Alter der Schönen zu kommen, in dem man zu Goethes Zeiten Frauen Matronen nannte, ein widerliches Wort. Hasko Weber hat natürlich Faust II gelesen und denken kann er auch, folglich ist Helena eine Frau, die in Weimar schon dem Ensemble angehörte, als heutige andere Mitglieder noch nicht geboren waren. Das nenne ich eine gute Idee. Dass Elke Wieditz spielen kann, muss sie niemandem mehr beweisen, es zu erleben ist dennoch keine vertane Zeit. Immerhin ist sie in Weimar damit eine Spätgebärende wie heute eine große Zahl von Frauen, wenngleich dieser Euphorion, vermutlich hinter einem Ledersofa gezeugt, nicht aller Eltern Wunschkind genannt werden dürfte. Fridolin Sandmeyer macht aus diesem Euphorion einen Mix zwischen Alice Cooper und Marilyn Manson. Sandmeyer ist außerdem im ersten Akt der Herold, im zweiten der Anaxagoras, im vierten einer der drei Gewaltigen, stets Spaß beimischend.

So geht’s denn hin, das Spiel. Frauen in Leder, mit Perücke, ohne Perücke, mit Maske, ohne Maske, mal mit Sehschlitz-Burka. Zweimal Männer nackt, einmal simulierte Kopulation von hinten. Die schönen jungen Mädchen in Parkett und Rang konnten sich an diesen Stellen des mädchenhaften Kicherns nicht enthalten, manches Menschliche war ihnen zweifellos doch noch fremd. Einmal wandelt Mephisto mit gigantischem Phallus einher und schließlich wird der uralte Faust von einer Pflegekraft, die aussieht wie Nora Quest an diesem Abend immer aussieht (siehe oben mit Schwarz und mit Rot), erst gepampert, dann in einen Schlafanzug nebst Pantoffeln gesteckt. Nora Quest ist in diesem Fall die Sorge, welche die Erblindung herbeiführt. Der nunmehr blinde Faust ist es, der jene Sätze sprechen muss, von denen einige Wohngebietsparteisekretäre in der frühen DDR zu wissen meinten, sie würden auf die Bodenreform vorausdeuten, wie ja überhaupt dieser Faust eine Art Visionär des weltweiten Übergangs vom faulenden, sterbenden Kapitalismus zum blühenden, hüpfenden Sozialismus gewesen sein soll. Dass mit dem sterbenden Kapitalismus war gar nicht so falsch, ergibt die Lektüre des „Faust II“. Schade, dass in Weimar das alte Paar Philemon und Baucis von den jungen Mimen Krunoslav Šebrek und Larissa Robiné gespielt werden muss. Sieht aus wie Parodie auf Alter, soll aber eigentlich Alter sein. Der Faustsche Rufmord wird gleich harmloser.

Gestrichen ist auch der arg christliche Schluss in seiner Breite, der ohnehin dem Goethe von allen ein wenig übel genommen wird, die Goethe gern als den großen Heiden sehen. Dabei wäre Goethe jedes Mittel recht gewesen, um an ein Leben nach dem Tod zu kommen, er fand sogar, wegen seines steten Strebens und Bemühens eine Art Anrecht darauf zu haben. Er dichtete sich also etwas wie ein Wunschfinale, sich in diesen Faust hineinsehend. Dagegen setzt Hasko Weber einen toten Mann auf dem Rollator und in Latschen, der Landgewinnung mit Grabschaufeln verwechselt und just den Moment zum Verweilen einlädt, der sein letzter ist. Mephisto verliert die ihm versprochene Seele mangels Pfiffigkeit, die Engel, die in Weimar fehlen, tricksen ihn aus, wie die Leser wissen. Immerhin, der Chorus Mysticus ist da, das „Ewig-Weibliche“ auch, das hinan zieht. Es hat mit Maria zu tun, wissen Belesene. Ich hätte mir im Krieg mit dem Gegenkaiser weniger Stahlhelm gewünscht, den Wanderer beim Besuch des alten Paares dagegen auf Inline-Skatern fand ich niedlich. Man könnte eine Beliebigkeit der Einfälle monieren, die die Regie hatte. „Faust II“ ruft aber nach genau solchen Einfällen, wenn der Tragödie zweiter Teil überhaupt auf eine Bühne muss. Wirklich bildhaft machen könnte alles nur die gigantomanische Hollywood-Computeranimation, dann hätten wir sogar echte Hobbits im „Faust“ und vielleicht drei Phorkyaden mit nur einem Auge.
www.nationaltheater-weimar.de


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