Enquist: Tschechows Drei Schwestern; Landestheater Coburg

Man spielt nicht „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow in Coburg, man spielt „Tschechows Drei Schwestern“ des schwedischen Autors Per Olov Enquist. Sein Name erscheint auf dem kleinen Programmheft so winzig, dass man ihn übersehen könnte. Der feine Unterschied ist gar nicht so fein, wenngleich ich in Unkenntnis des benutzten Textes bei sehr guter Kenntnis der vier Akte von Tschechow selbst erst einmal nicht zu sagen wüsste, wo der Mehrwert der einmal Fassung, einmal Nachdichtung genannten Vorlage des Schweden liegen könnte. Fest scheint mir zu stehen, dass die Ankündigung eines schwedischen Stückes eines vor allem als Romancier bekannten Mannes, der in diesem Jahr 85 Jahre alt wird, in einem Traditionshaus mit dem für kleinere Theaterstädte typischen Premierenpublikum Ü 60 nicht annähernd die Anziehungskraft haben würde, die der Name des russischen Klassikers hat. Die Liste der schmelzenden Lobeshymnen auf Tschechows Bühnenkunst ist lang und voller erlauchter Namen, der Bühnenkünstler Enquist dagegen führt bei uns und wohl auch sonst ein Schattendasein. Das unverdient sein mag, Hellmuth Karasek hat immerhin schon 1977 für den SPIEGEL eine Münchener Enquist-Premiere besprochen: „Die Nacht der Tribaden“.
 
Tschechows „Drei Schwestern“ spielen im zaristischen Russland der Zeit vor der ersten russischen Revolution irgendwo in der russischen Provinz. Wo und vor allem wann Enquists „Tschechows Drei Schwestern“ spielt, weiß ich nicht. In Coburg ist das Geschehen in der Regie von Karin Drechsel in die 80er Jahre verlegt worden, wobei ich gleich vorweg sagen muss: Von den 80ern sieht man vor allem Flashdance-Aerobic-Mode mit Stirnband und Wadenwärmer-Strümpfen. Von den 80er hört man vor allem die abgeleiertsten Radio-Hits der unsäglichen frühen Videoclip-Jahre mit ihrem fürchterlichen Synthie-Pop (Bühne und Kostüme Nikolaus Porz; Ton und Video Constantin Eckhardt). Wenn Cordula von Gradulewski, die Dramaturgin, in der Stückeinführung andeutet, es solle Jugend an den alten Tschechow herangeführt werden, dann ist das auf alle Fälle mindestens leicht irreführend. Wessen Jugend dieser Mode und dieser Musik verbunden war, ist dem 50. Geburtstag ziemlich sicher näher als dem vierzigsten. Tschechow mit Rap in Kanak-Sprak wäre kaum heutiger, wahrscheinlich noch alberner. Denn der gewollte Anachronismus, den Karin Drechsel auf die Landestheater-Bühne bringt, ist voller Fußangeln und Fallstricke. Denn Personen und Charaktere, Typen erwachsen in jedem halbwegs guten Stück merklich aus ihrer Zeit.
 
Nun passt aber, halten zu Gnaden, eine vorrevolutionäre russische Handlung mit der damals und eben nur damals, wenn auch noch relativ lange danach anhaltenden Rolle der Frau, schlicht und ergreifend nicht in die 80er Jahre in ein imaginiertes Besatzungstruppen-Milieu, wobei erschwerend im vorliegenden Spiel hinzukommt, dass Russen auf gar keinen Fall auf jener Seite der im Stück allen Ernstes buchstäblich sink-fallenden Mauer stationiert waren, in die die anachronistische Handlung gezogen wird. Man könnte sich eben noch so vorstellen, dass in den Wäldern zwischen Königs Wusterhausen und Beeskow Töchter eines versetzten russischen (meint: sowjetischen) Generals sich nach Moskau sehnen, im wirklichen Leben war die DDR-Versorgungslage in all ihrer Ärmlichkeit für Russen um Längen besser als zu Hause. Moskau in den 80ern mit Gorbatschows Alkohol-Verbot war echten Russen ein Graus, was freilich den westeuropäischen Jubelpersern der Perestroika komplett entging wegen gepflegter Blindheit. Nie im Leben hätten gleich drei gebildete Schwestern mit Kenntnissen in drei und mehr Sprachen in den 80ern sich mit einem verlogen-versoffenen Bruder, der das gesamte Familienvermögen durchbringt, so glatt abgefunden.
 
Nie im Leben hätte in den 80ern irgendeine von Emma-Leserinnen nicht für voll bescheuert gehaltene junge Frau gesagt, sie hasse Zivilisten (und liebe Uniformen). Man liebte doch wohl eher Wehrdienstverweigerer in den 80ern, man freute sich über strickende Männer und bewunderte den später sehr dicken Mann mit den Turnschuhen im hessischen Landtag. Wirklichkeit der 80er, das nun auch noch ausdrücklich gesagt, ist aber in der Coburger Inszenierung von Karin Drechsel gerade nicht enthalten, nur platteste Oberfläche. Dann aber fragt sich noch dringlicher, was diese eine vernünftige Regie-Konzeption nahezu ausschließende Zeitreise im Kern soll. Modisches Mätzchen? Es gibt ja mitten in aller Moderne, in allem Gender-Hype oder wahlweise Gender-Wahn, bei allen Quotendebatten in schöner Zeitferne immer noch Frauen, die ihrem eigenen Alter dadurch begegnen, dass sie glauben, es geheim halten zu können. Wer aber seit 1991 bereits als freiberufliche Regisseurin arbeitet, also schon seit fast 30 Jahren, der geht kaum als Teenager durch. In einem Punkt sind die 80er in Coburg ja sogar die 90er. Mascha (Alexandra Weis) tritt im Look von Peggy Bundy auf und bewegt sich recht oft auch genauso. „Eine schrecklich nette Familie“ erreichte die deutsche Fernseh-Öffentlichkeit erst 1992, soviel Faktizität sei dann doch erlaubt.
 
Trotz allem, und das macht die Widersprüchlichkeit dieses Zweieinhalb-Stunden-Spektakels aus, sieht der Zuschauer bis zur Pause ein rundum zufrieden stellendes Geschehen auf der Bühne. Das liegt, und hier hat Karin Drechsel den klar besten Teil ihrer Arbeit abgeliefert, an den spielfreudig spielenden Darstellern und Darstellerinnen. Dass Tschechow selbst Wert auf den komödiantischen Zug seiner Mehrakter legte (die Einakter wären gesondert zu betrachten), ist bekannt. Dennoch kann man daraus natürlich ganz unterschiedliche Konsequenzen ziehen, man kann es auch zu Gunsten der bewährten Melancholia in den Hintergrund schieben. Hier wird auf Spaß gesetzt. Schon das Bühnenbild bis zur Pause, eine Art riesiger Schrankwand mit Türen, Schubladen und Regalelementen, die als Versteck, als Medium für Auftritte und Abgänge dienen, produzieren Komik. Es gibt Klapp-Gartenstühle zum Draufsetzen, die Zutaten und Utensilien für eine zünftige Coburger Bratwurst werden mit gespielter Anstrengung in die Szene geschleppt, wobei man nur als Coburger sofort weiß, was die hochgehaltenen Kiefernzapfen (waren es welche?) zu bedeuten haben. Sie sollen, hieß es vor Jahren mit der üblichen medialen Aufgeregtheit, Krebs erregen.
 
Bis zur Pause ist bei Tschechows „Drei Schwestern“ ebenso ein unvermeidliches Stichwort wie bei „Tschechows Drei Schwestern“ von Enquist in der Übersetzung von Angelika Gundlach. Es gibt in der Vorlage einen, nun ja, Bruch, nach der Pause ist nicht nur die schöne Schrankwand weg und die Bühne liegt voller Kram, den man nur schwer deuten kann. Die Wand ist als Symbol-Mauer nach hinten weg gesunken, während aus dem Off nach Günter Schabowskis längst geschichtsnotorischen Pressekonferenz-Sätzen Nachrichten aus der oberfränkischen Provinz in der Zeit ihrer Flutung durch DDR-deutsche Begrüßungsgeld-Empfänger verlesen werden. Als ich damals zum ersten Mal den Coburger Meister-Markt frequentierte und zusah, wie Waren palettenweise weggeschleppt wurden von meinen im Crash-Kurs zu Schnäppchenjägern umfunktionierten Landsleuten, hatte die andere, die Coburger Seite ihren ganz eigenen Crash-Kurs für euphorische Alpträume. Auf der Bühne wird mit Decken hantiert und leeren Pappkartons, was weder mit Tschechow noch mit Enquist zu tun hat. Dafür taucht eine Episodenrollen-Darstellerin kurz auf, damit die böse Natalja (Diana Ebert) ihren bösen Charakter ganz böse an ihr auslassen kann, während Olga (Eva Marianne Berger), die Gute, gut ist zum Personal. Eine sehr ähnliche Situation gibt es im „Kirschgarten“.
 
Überhaupt, auch das muss einmal gesagt werden, ist die Zahl der abendfüllenden Tschechow-Stücke ja so gering, dass eine Aussage wie: „gehört zu seinen meist gespielten Stücken“, die immer wieder gern in den Raum gestellt wird, eine Leer-Aussage ist. Interessanter wäre es, über Konstanten im Personal, in den Figuren-Konstellationen zu reden. Die großen Stücke ähneln in manchem Variationen auf ein Thema, der Arzt ist immer dabei, immer voller Resignation, oft mit erfrischendem Zynismus, gern dem Alkohol ebenso verfallen wie einer unerwiderten oder verflossenen Liebe. Hier in Coburg konnte ich das Gefühl nicht unterdrücken, als hätte Niklaus Scheibli in seiner Rolle als versoffener Militärarzt Iwan Romanowitsch Tschebutykin zu viel des Guten versucht, er chargiert, statt den ja keineswegs oberflächlichen Text, den er zu sprechen hat, zu spielen. Das fällt umso mehr auf, als sonst niemand in dieser Richtung auffiel. Auffallend auch, weil eben auf Stimmigkeit pfeifend, die seltsame Vorliebe dieser jungen russischer Adelsdamen für englisches Liedgut mit sinntragenden Textzeilen, die alles Potential haben, nicht von jedem verstanden zu werden. Sinntragende Fremdsprachengesänge gehören zu den gegenwärtigen Hits in fast allen Theatern, die ich besuche. Ich fühle mit allen, die russisch lernen mussten, nicht englisch.
 
„In seiner Nachdichtung „Tschechows drei Schwestern“ denkt Per Olov Enquist die Geschichte der drei Schwestern vom Ende her. Was hat sie zurückgehalten? Warum haben sie ihre Wünsche und Sehnsüchte nie verwirklicht? Und den Moment verpasst, ihrem Leben eine andere Wendung zu geben?“ So liest es sich in der Coburger Theaterzeitung. Sieht es so auch auf der Bühne aus? Dort erzählt eine weibliche Off-Stimme im Rückblick, was geschah. Immer, wenn die Stimme einsetzt, hält das Bild auf der Bühne an wie das Standbild im Video-Recorder seligen Andenkens. Nicht so oft wie die Off-Stimme treten drei Darstellerinnen stumm im Hintergrund auf, im Programmheft zu identifizieren als Olga 1 (Margret Steinhorst), Mascha 1 (Beate Kittel) und Irina 1 (Gitta Hofrichter). Sie verkörpern demnach die gealterten drei Schwestern der Erzählgegenwart, in der genannten Theaterzeitung als 2019 angegeben. 2019 auf eine Handlung dreißig Jahre früher bezogen hätte es Erklärungen geben müssen, nicht nur Fragen, die sich aus dem Ur-Tschechow fast zwanglos ergeben. Allerdings sind die Fragen ein wenig kunstdumm gestellt. Denn in einem Land, in dem Frauen noch bis Anfang der siebziger kein eigenes Konto eröffnen durften, ist die vorlaute Frage, warum Frauen noch ein Menschenleben früher ihrem Leben keine Wendung gaben, nur blöd.
 
Die adligen Mädchen bei Tschechow waren privilegiert im Vergleich zur allergrößten Mehrzahl aller anderen russischen Mädchen. Das Pack, das selbst nie gearbeitet hat, nur immer von Arbeit faselt, will eine alte Frau ihrem Schicksal überlassen, weil die nach einem langen Arbeitsleben nicht mehr genug arbeiten kann. Jammern auf höchstem Niveau wäre die platteste Beschreibung des Treibens auf der Coburger wie jeder anderen Tschechow-Bühne, die das spielt, wie es geschrieben ist. Wenn von Enquist nicht mehr stammt als das Stellen der Frage und die Übergangstexte, die das sich über Jahre erstreckende Geschehen verbinden, dann ist es nicht genug, um den eigentlichen Tschechow ins zweite Glied zu verbannen. Es sind Accessoire-Aspekte, die das Spiel pseudoheutig machen: Irina bekommt einen Walkman geschenkt mit Kopfhörern, wirklich junge Leute wissen kaum noch, was ein Walkman einmal war, schon die MP3-Player haben inzwischen fossile Züge: Aktualisierungen veralten schneller, als sie entworfen sind: die Stücksubstanz aber bleibt, wenn sie gut war. Und bei Tschechow ist sie gut; klassikergut eben, mit großem Rollenmaterial in Breite.
 
Mit der gegebenen leisen Einschränkung für Niklaus Scheibli trugen alle zu einem spielerisch gelungenen Premierenabend bei, neben Eva Marianne Berger (Olga) und Alexandra Weis (Mascha) Solvejg Schomers als dritte Schwester Irina, Alexander Tröger als Bruder Andrej, Thomas Kaschel als Soljony, Valentin Kleinschmidt als entstellter Graf Tusenbach, Cornelius Schwalm als ältlicher Oberstleutnant Werschinin und Diana Ebert als Natalja. Warum Nils Liebscher als Gymnasiallehrer und Maschas Mann wie ein farbentragender Burschenschafter aussehen musste, erschloss sich mir nicht. Gestrichen sind kleine Rollen wie Fedotik und Ferapont, die Kinderfrau Anfissa fehlt nur im Personenverzeichnis, war aber auf der Bühne wohl jene, die sich mit den Decken quälte und nicht schlafen durfte. Da es in den 80er Jahren natürlich keine Duelle mehr gab als Austrag von Ehren-Händeln, stirbt Tusenbach in Coburg bei einem illegalen Autorennen, der eifersüchtige Dichter Soljony treibt ihn so in den Tod. Die drei Schwestern bleiben übrig und klammern sich an die Max-Frisch-Vorstellung aus „Biografie. Ein Spiel“: Wir schreiben unser Leben einfach um. Auf Bühnen lässt sich das sogar durchspielen, im Leben funktioniert es nur hinter geschlossenen Augenlidern.
            www.landestheater-coburg.de


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