Moliere: Der eingebildete Kranke, Theater Erfurt

1955 spielte Horst Tappert in Wuppertal diesen Argan. Dass war seine siebente Bühne und es fällt schwer, sich den nach Harry rufenden Stephan Derrick vorzustellen, wie er um sein Klistier bettelt. Tappert soll urkomisch gewesen sein. In Erfurt 2012 ist Detlef Heintze Argan, er ist ein wunderbarer Argan, er verausgabt sich in anderthalb Stunden ohne Pause. Und urkomisch ist er auf alle Fälle. Die Wiederaufnahme der Produktion von vor zwei Jahren, Regie Regine Heintze, Ausstattung Anna Sophia Blersch, beschert allen, die es seinerzeit verpassten, diesen immer noch und immer wieder umwerfenden Moliere zu sehen, eine neue Chance. Es lohnt den Weg zum Theatrium. In furiosen neunzig Minuten wird eine sehr straffe, in Details modernisierte Fassung geboten (Bearbeitung Walter Hesse), die auf einige Rollen des Originals verzichtet. Das ist im Fall der kleinen Schwester von Angelika kaum ein Verlust. Im Fall Beroalds, des Bruders von Argan, der bei Moliere im dritten Auftritt des dritten Aufzugs tragend ist, mag man es bedauern. Immerhin sind Textpartikel daraus in Erfurt auf Toni übergegangen. Die gesamte Passage dieses Auftritts, in dem die Brüder über Moliere reden, den Mann, der über Ärzte herzieht, fehlt mir am meisten.

Nur Detlef Heintze und Maria-Elisabeth Wey haben keine Doppelrollen. Elisabeth Veit muss Argans zweite Gattin Belinde und deren Stieftochter Angelika spielen, womit ausgeschlossen ist, dass sich beide auf der Bühne begegnen. Maximilian Nowka ist Kleanth, der Angelika liebt, und auch Thomas Diaforius, der Angelika heiraten möchte. Gleich drei Rollen muss Reinhard Friedrich ausfüllen. Zunächst ist er der Notar Bonnefoi, der mit der Gattin kungelt, um Argans Vermögen in deren Hände zu bringen. Dann ist er Dr. Diaforius, der Vater des um Angelikas Hand anhaltenden Sohnes Thomas. Und schließlich noch Dr. Purgon, der Hausarzt mit der gigantischen Klistierinstallation. Alles vollzieht sich auf karger Bühne, die in der Mitte von einer höhenverstellbaren und kippbaren Fläche dominiert wird, die vor allem das Krankenlager des eingebildeten Kranken darstellt. Ein Laken, ein Kissen, ein Tischchen, das auch als Sitz dienen kann, eine Kurbel, eine weiße Bettpfanne mit blauem Deckel. Die Kostüme bunt und deftig. Weiß bleibt dem Titelhelden vorbehalten.

Moliere hat das letzte seiner Stücke, in dem er natürlich die Hauptrolle spielte und in dessen vierter Aufführung am 17. Februar 1673 er auf der Bühne im Kostüm des eingebildeten Kranken starb, mit Ballett entworfen. Der Schluss, nachdem entschieden ist, als Konsequenz aus allem Argan selbst zum Arzt zu machen, ist in der Urfassung mit Gesang und Tanz angelegt. Es würde dem Wunsch des Verfassers folgend fast 50 Statisten erfordern, die tanzen und singen, während Argan in die Fakultät aufgenommen wird. Das macht keine Bühne mehr. Regine Heintze hat immerhin entschieden, Spuren davon spielen zu lassen: Angelika tritt mit Ballettschuhen auf und tänzelt allein und auch mit Kleanth. Das ganze Ensemble kommt zu Beginn von oben tanzend herab. Das passt und macht sich sehr gut. Ähnlich verlässt es die Spielfläche wieder, bevor der Applaus loslegt. Der war lang zur Premiere und verdient auch.

Vielleicht ist nur an Maria-Elisabeth Wey die Frage zu richten, warum sie nicht noch mehr aus dieser Traumrolle geholt hat. Ihr Spiel wirkte bisweilen etwas bemüht, weniger komisch, mehr klamaukig, obwohl sie auch dann, wenn sie kaum zu sehen war, Präsenz zeigte im Blick auf das Hauptgeschehen. Bei Moliere ist Toni dem Kranken ebenbürtig, in Erfurt schaffte sie es nicht. Was freilich auch mit der makellosen Leistung Heintzes zu tun hat. Wer so spielt, macht es den Mitspielern kaum möglich, gleichwertig zu sein. Die kleineren Rollen bieten da mehr Möglichkeiten zum Kabinettstück. Zweifellos die Perle unter den Perlen ist in dieser Inszenierung der Auftritt von Vater und Sohn Diaforius. Maximilian Nowka ließ als Thomas Diaforius seinen eigenen Kleanth blass erscheinen, um dann wieder als verkleideter Kleanth, der den Akupunktur anwendenden chinesischen Wanderarzt gibt, mit einfachen Mitteln zu glänzen. Elisabeth Veit sprach muttersprachlich wienerisch als Stiefmutter, changierte als Tochter Angelika ein wenig zwischen Ingrid Steeger seeligen Andenkens und Biggy Bardot. Im Zusammenspiel der jeweiligen Szenen hielt sie ihre Rollen sehr sauber auseinander. Sie stöckelte mit ihrem Shopping-Tüten, grimassierte in Richtung Publikum und hatte ihre stärkste Szene mit dem Notar.

Ärztewitze, einer als improvisiertes Puppenspiel, spontaner Dauerblick nach oben, als ein Flugzeug das Theatrium überflog, Heintze ruft zweifach „Ich glaube an den Fortschritt“, Toni rechtfertigt die Probe mit dem gespielten Tod mit dem Hinweis, dass Gott solche Proben täglich veranstalte – alles Ideen, die einem heutigen Moliere gut anstehen. Auch nicht zu reden von jenen Aktualitäten, die den Zeigefinger deutlicher heben. Die Ein-Franken-Kraft, Praxisgebühr und Zuzahlung, das fügt sich, weil der Autor das auch tat mit Blick auf seine eigene Zeit. Notar Bonnefoi brachte gar Goethe ins Spiel, indem er zitierte, was dieser später einmal dichten wird. Was seinen Spaß davon hat, dass Goethe später tatsächlich rückblickend Moliere sehr schätzte. Er sah französisches Theater täglich, als die Besatzung im Vaterhaus einquartiert war. Und durfte hinter der Bühne neugierig sein. So etwas haftet. Was man auch von diesem runden Sommertheaterabend sagen kann. Dem Friedhelm Mund seinen musikalischen Akzent verlieh.
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